Krieg unter Kindern: Warum stach ein 13-jähriger Nürnberger brutal auf einen Gleichaltrigen ein?

Von Tobi Lang

2023 ist vielleicht das Jahr der Messerattacken unter Jugendlichen. Auch in Nürnberg stach ein 13-Jähriger auf einen Gleichaltrigen ein, verletzte ihn schwer. Verrohen unsere Kinder - oder liegt der Fehler im System? Bilanz eines Versagens.

Messerattacke
Nürnberger Nachrichten

An einem kühlen Novemberabend sitzt Hellen Schmidtbauer in ihrer Nürnberger Zwei-Zimmer-Wohnung und zittert. Sie wartet auf ihren Sohn, der eigentlich seit zwei Stunden zuhause sein sollte. „Sonst war er immer pünktlich“, sagt die Mutter von drei Kindern. Doch der 13-Jährige ist nicht erreichbar. Die Stille ist erdrückend. Irgendwann greift Schmidtbauer zum Telefon und ruft die Polizei an. Doch die kann auch nicht helfen.

Was Schmidtbauer nicht weiß: Ihr Sohn hat gerade mehrfach mit einem Messer auf einen ehemaligen Klassenkameraden eingestochen. Als in der Nacht Beamte der Kriminalpolizei klingeln und den Jungen abliefern, bricht für die Mutter eine Welt zusammen. „Es war einfach nur schockierend. Was für ein Messer? Und wie geht es dem Opfer?“ Fragen schießen durch den Kopf der 39-Jährigen. An jenem schicksalhaften Novemberabend ändert sich alles in ihrem Leben.

Ihr Sohn David, der eigentlich anders heißt, ist jetzt ein Messerstecher, auch wenn er wegen seines geringen Alters nicht strafrechtlich verfolgt wird. Zwei Mal rammt er seinem Kontrahenten die Klinge in den Rücken, auch der ist erst 13 Jahre alt. In der Gesellschaft, glauben einige, sei etwas verrutscht. Die Jugend verrohe, auf Schulhöfen seien Waffen im Umlauf, es herrsche Krieg. Diejenigen, die in dieser Situation auf die vielzitierte Härte des Gesetzes pochen, haben Munition. Denn Davids Angriff ist nur eine von vielen Bluttaten unter Kindern in den vergangenen Monaten. Durch das Jahr 2023 zieht sich eine Spur der Gewalt.

Freudenberg, der 11. März: Die zwölf Jahre alte Luise wird in Thüringen von zwei Mitschülerinnen erstochen. Die Rechtsmedizin wird bei der Obduktion insgesamt 30 Stiche feststellen. Die Täterinnen - eine zwölf und eine 13 Jahre alte Freundin des Mädchens - informierten sich vor der Attacke im Internet über Strafunmündigkeit, so berichten es zahlreiche Medien übereinstimmend. In Deutschland kann man erst ab 14 Jahren verurteilt werden. Der Tod von Luise löst eine heftige Debatte über Jugendkriminalität aus.

Wunsiedel, der 4. April: Eine Zehnjährige wird morgens tot in einem oberfränkischen Kinderheim gefunden. Nach einem Streit, davon geht die Polizei aus, strangulierte ein Elfjähriger das Mädchen, das zuvor in der Nacht von einem 25-Jährigen vergewaltigt worden war. Dem Mann konnte nicht nachgewiesen werden, an der Tötung der Minderjährigen beteiligt gewesen zu sein - dem Jungen hingegen schon. Der Täter wird vom Jugendamt in sogenannte „gesicherte Obhut“ genommen.

Regensburg, der 26. Oktober: In einer psychiatrischen Einrichtung sticht der 14-jährige Dennis V. einen Siebenjährigen nieder, der kleine Junge stirbt später in einem Krankenhaus. Der Täter posiert nur eine halbe Stunde vor der Attacke mit einem Schlachtermesser und kündigt über Instagram „Revenge“ an, also Rache. Was ihn antrieb, ist unklar. Die Polizei schließt einen extremistischen Hintergrund nicht aus.

Die blanken Zahlen lesen sich so: Viele Jahre lang nahm die Gewalt unter Jugendlichen ab. Das belegt die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS). Nach einer Pandemie-Delle stieg die Zahl der Gewaltdelikte aber besonders unter Jugendlichen rasant an. Im Vergleich zu 2019 führt die PKS für 2022 fast 30 Prozent mehr Tatverdächtige unter 14 Jahren auf. Ein Trend, der Ermittler auch in Bayern besorgt. Dunkelfeldstudien, die messen sollen, was Polizei und Staatsanwaltschaft verborgen bleibt, sehen eine stetige Zunahme von Attacken mit Waffen unter jungen Menschen. Viele Jugendliche würden ganz selbstverständlich Messer, Schlagring oder Pfefferspray bei sich tragen.

Nun reiht sich auch Davids Tat in die Liste der Brutalitäten ein. Seine Geschichte ist die eines Jugendlichen auf der Suche, eines Kindes, dem es offenbar an Stabilität fehlt, das seine Aggressionen nicht unter Kontrolle hat. Aber ist er deswegen automatisch ein Terror-Jugendlicher, ein Irrer, der nicht zu bändigen ist? Und wenn ja, warum hat ihn keiner aufgehalten?

David ist das, was man einen Systemsprenger nennt. Ein Junge, der keine Regeln akzeptiert, ein Jugendlicher, der durch jedes Raster fällt. Kurz vor der Einschulung wird bei ihm die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) festgestellt. „Mit so einem Kind will nicht jeder arbeiten“, sagt seine Mutter. Und das bekommt die Familie zu spüren. Davids Schullaufbahn ist unstet. Er wechselt häufig die Klassen, kommt vom Förderunterricht in eine normale Mittelschule, von einer privaten Einrichtung in die Paul-Moor-Schule, die sich auf Härtefälle spezialisiert hat. Der Jugendliche ist immer auf dem Sprung, findet keine Heimat.

„Die haben mein Kind kaputt gemacht“, sagt Davids Mutter - ein Vorwurf, der schwer wiegt. Wer mit ihr spricht, redet mit einer durchaus reflektierten Frau. Ein Familienmensch, der nicht entschuldigen will, was passiert ist. Aber Erklärungen sucht. „Ich bin zwar geschieden, aber zuhause ist alles okay“, sagt sie. „Er hat seine Ruhe, hat Sicherheit.“ Mit seinem drei Jahre älteren Bruder habe es beispielsweise nie Probleme gegeben. Für die 39-Jährige ist klar: Die Gründe für Davids Probleme liegen nicht primär beim Elternhaus. Auch wenn die Mutter zugibt, mit ihrem Sohn oft überfordert zu sein.

Das erste halbe Jahr auf der Paul-Moor-Schule sei David ein „Musterschüler“ gewesen, erzählt sie. Dann habe es Engpässe bei den Lehrkräften gegeben, der Unterricht fiel aus. Der inzwischen 13-Jährige geriet in emotionale Schieflage. „Sie haben nichts mit ihm gemacht, ihn immer wieder nach Hause geschickt, weil er angeblich nicht zu beschulen war“, sagt Schmidtbauer. Davids Weg ist von Misserfolgen gepflastert. Er wird zum Außenseiter. Was in ihm vorgeht, lässt sich nur erahnen. Sein Frust dürfte aber wie Spiritus für die Flamme der Gewaltbereitschaft gewirkt haben, die in ihm loderte.

Wenige Stunden vor den Messerstichen hängt David an jenem verhängnisvollen Novembertag zuhause mit starrem Blick an seinem Smartphone. Fast im Sekundentakt kommen Nachrichten von Tayfun, dem Jungen, den der 13-Jährige später attackieren wird. Der Mitschüler beleidigt David immer wieder heftig. „Du Hurensohn“, schreit er in einer Sprachnachricht. „Du kannst gar nichts machen. Du bist ein Lauch. Komm einmal Langwasser, ich ficke Dich. Du bist ein Lutscher.“ Als Tayfun droht, zu ihm nach Hause zu kommen, brennen bei David alle Sicherungen durch. „Er wollte seine Familie verteidigen und hat sich mit einem anderen Jungen, einem 16-Jährigen, verabredet“, sagt seine Mutter. Der habe das Butterflymesser mitgebracht, mit dem David später den Brustkorb seines Opfers durchdringen wird. Überprüfen lässt sich das bisher nicht. Sowohl Polizei als auch Staatsanwaltschaft halten sich mit Details zur Tatwaffe zurück.

Fakt ist: David und Tayfun treffen gegen 19 Uhr unweit des U-Bahnhofes Eberhardshof auf einem Parkplatz aufeinander. David hält drohend das Butterflymesser in der Hand. Es kommt zu einem Tumult. Statt davonzurennen, lässt sich Tayfun auf eine Prügelei ein. David nimmt ihn in den Schwitzkasten, so steht es in Dokumenten, die unserer Redaktion vorliegen. Dabei sticht er zwei Mal von oben herab in den Rücken seines Gegenübers. Eine Rippe bricht, der linke Lungenflügel kollabiert. „Er wollte nie zustechen und dachte, die anderen hätten Angst, wenn er die Waffe zeigt“, sagt die Mutter. Auch das lässt sich nicht überprüfen.

Während David davonrennt, leisten speziell geschulte Polizisten, die nur wenige Augenblicke nach den Messerstichen am Tatort sind, Erste Hilfe. Noch in der Nacht wird Tayfun notoperiert, in Lebensgefahr schwebt er allerdings nie.

Wer Opfer und wer Täter ist an diesem Tag, ist völlig klar. David ist derjenige, der zusticht, der in Kauf nimmt, dass sein ehemaliger Mitschüler tödlich verletzt wird. Daran lässt auch seine Mutter keinen Zweifel. „Aber die Tat hat eine Vorgeschichte, mein Sohn wurde gemobbt und das über Wochen“, sagt Schmidtbauer. Zahlreiche Chatverläufe belegen, dass sich die beiden 13-Jährigen immer wieder beleidigten, bedrohten, sich wechselseitig zu Kämpfen aufforderten. Der pure Hass, gepresst in Wörter und Sprachnachrichten. „Er war alleine gegen eine ganze Clique.“

Warum David die Drohungen nicht ignorierte, das Handy nicht einfach weglegte, all das hat ihn seine Mutter gefragt. Doch Zurückstecken war für ihn offenbar keine Option, weder an jenem Abend noch davor. „Er meinte, wenn er das gemacht hätte, hätten sie nur noch heftiger weitergemacht.“ Nachgeben, sowas machen nur Pussys, habe er gesagt. David wollte der starke Mann sein. Womöglich auch, weil ihm männliche Vorbilder fehlten. Sein Vater kümmerte sich nur, nachdem die Mutter per Gerichtsbeschluss die Umgangspflicht erwirkte. „Bei ihm war aber kein Platz für ihn. David hat sich vernachlässigt gefühlt“, sagt Schmidtbauer. „Ich bin die einzige Liebe seines Lebens, deshalb verteidigt er mich auf den Tod.“ Als Tayfun den 13-Jährigen als Hurensohn beschimpft, setzte offenbar sein Verstand aus.

Ein Gutachten, das nach der Tat erstellt wurde, sieht bei David keine ernsthafte psychische Erkrankung - wohl aber eine Störung des Sozialverhaltens. Was er tut, sei „schwerwiegender als gewöhnlicher kindischer Unfug“. Ärzte diagnostizieren zudem eine Störung der Impulskontrolle. Die Symptome: leichte Reizbarkeit, unangepasstes Verhalten, quasi die Suche nach Ärger. Und den fand David auf dem Schulhof.

Handelt es sich bei der Messerattacke also um einen Mobbingfall, der blutig endete - oder versucht sich Davids Umfeld nur an einer Entschuldigung? Marica Münch hat sich dem Kampf gegen das Phänomen verschrieben. „Gerade unter Schülern wird das Wort 'Mobbing' relativ schnell in den Mund genommen“, sagt die Bildungsreferentin vom Caritas-Pirckheimer-Haus in Nürnberg. Ganz so einfach sei es aber nicht. „Attacken müssen wiederholt und über einen längeren Zeitraum stattfinden, damit die Definition erfüllt ist. Vor allem aber braucht es ein Machtgefälle.“ Ob das im konkreten Fall so war, kann die Expertin nicht sagen. „Mobbing ist aber nie ein Phänomen zwischen nur zwei Personen.“ Nur dann, wenn weite Teile einer Gruppe wegsehen, habe der Täter freie Bahn. „Durch Ignorieren erodieren Normen und Werte. Und das Verhalten des Mobbers hat sich etabliert.“

Ganz grundsätzlich sei das Verhalten von David nicht untypisch. „Wenn jemand in der Opferrolle ist, zieht er sich häufig zurück. In ganz schlimmen Fällen kann die Ohnmachtssituation auch zum Suizid führen“, sagt Münch. Die Demütigung kann aber auch zum Brandbeschleuniger werden, der sich in Gewalt entlädt. „Manche wehren sich und werden selbst aggressiv. Dann sind solche Taten wie der Messerangriff auf jeden Fall vorstellbar.“

An Schulen, sagt Münch, sei Mobbing Alltag - und die Waffen im Kampf dagegen relativ stumpf. „Es gibt ganz große Defizite im System, weil Lehrer nicht ausreichend darauf vorbereitet sind.“ Noch immer wird das Thema nicht in der Lehrerausbildung behandelt, noch immer fehlt es an Präventionsprogrammen, noch immer ist nicht genügend Geld für Schulungen vorhanden. Und das, obwohl laut der letzten Pisa-Studie jeder Sechste von Mobbing betroffen ist. „Das Smartphone ist eine Waffe“, sagt die Expertin. „Jugendliche können sich heutzutage eigentlich 24 Stunden gegenseitig drangsalieren.“ Der Leidensdruck sei dadurch größer als früher. „Dazu kommen Lehrermangel und teilweise viel zu große Klassen. Je später wir auf das Thema reagieren, desto schwieriger wird es, zu intervenieren.“ Die Zeit laufe, sagt Münch. Und sie läuft gegen unsere Kinder.

Was also tun? Wegen seiner Schul-Eskapaden wendet sich Davids Mutter immer wieder an das Jugendamt. „Ich habe sie häufig um Hilfe gebeten“, sagt sie. Ein Quatschkopf sei er sowieso gewesen - mit den Jahren wurde es aber schlimmer und schlimmer. „Ich hatte wirklich zu kämpfen mit ihm.“

In der Schule verging Woche um Woche, in der David in der Luft hing. Er war suspendiert, lungerte herum, verpasste Stoff. „Und das, obwohl das doch so eine tolle Schule mit sozialpädagogischem Anspruch sein soll“, sagt Schmidtbauer, die schwer enttäuscht ist. Die Paul-Moor-Schule selbst will sich nicht zum konkreten Fall äußern. Aus Datenschutzgründen. Ganz unkommentiert will sie die Vorwürfe dann aber auch nicht lassen. „Um dem sonderpädagogischen Förderbedarf gerecht werden zu können, arbeiten in einer Klasse immer zwei Pädagoginnen und Pädagogen mit maximal acht Schülern“, erklärt die Schulleitung. Es gebe Gruppen- und Einzelsitzungen, hochdifferenzierten Unterricht, psychologische Hilfe. „Ziel ist es, den Personenkreis nach Ende der Förderung wieder in das Regelschulsystem zu integrieren.“ Bei David schlug offenbar all das fehl. Mit fatalen Folgen.

Der Junge soll den Unterricht massiv gestört haben, laut seiner Schule schlug er Mitschüler und sogar Lehrkräfte. Als David deswegen suspendiert wird, wehrt seine Mutter sich gerichtlich dagegen. Es stellt sich heraus: Beweisen lassen sich die Vorwürfe gegen den Jungen nicht, urteilte das Ansbacher Verwaltungsgericht. Vielmehr, so der Anwalt der Familie, habe es sich um „übliche Kabbelei zwischen Schülern“ gehandelt. Und: „Eine Gesundheitsgefahr war damit nicht verbunden.“

„Er ist 13 Jahre alt, ich kann ihn nicht dauernd kontrollieren und zuhause einsperren“, sagt seine Mutter. „Was er auf der Straße tut, weiß ich nicht immer, obwohl ich viel mit ihm spreche.“ Sie verliert den Überblick. Eine Freundin rät Schmidtbauer zu einer betreuten Wohngruppe im mittelfränkischen Rummelsberg. Permanente Aufsicht, intensive Therapien, ein kleines, fast schon familiäres Umfeld. „Aber ich war nicht wirklich bereit, ihn komplett abzugeben. Ich hatte nicht das Gefühl, ihm damit das zu geben, was er braucht.“ Heute bereut Schmidtbauer das. Vom Jugendamt fühlt sie sich trotzdem im Stich gelassen. „Es hieß immer nur, es fehlt an Personal. Sie konnten mir auch keine intensiveren Therapien für meinen Sohn anbieten.“ Die Hoffnung auf Besserung schwand, während sich die Schlinge zuzog. David war immer häufiger in Streitigkeiten verwickelt und schlug immer wieder zu.

Auch das Jugendamt will nicht über den konkreten Fall sprechen. Wieder der Datenschutz. „Gewalt unter strafunmündigen Kindern ist aber in der Jugendhilfe an der Tagesordnung“, erklärt Frank Schmidt, stellvertretender Behördenleiter. Schlägereien auf dem Schulhof, Fernbleiben vom Unterricht, all das seien sicherlich Alarmzeichen, die man nicht unterschätzen dürfe. Bei David wurden sie offenbar nicht richtig gedeutet. Grundsätzlich, sagt Schmidt, habe man eine ganze Palette an Möglichkeiten zur Intervention. Beispielsweise über eine Erziehungsbeistandsschaft, einer Art Coaching für Eltern. Es gibt Trainings für Jugendliche, um ihr Sozialverhalten zu verbessern. Und eben Vollversorger-Angebote wie betreute Wohngruppen.

In der Realität schlägt der Personalmangel aber auch hier an allen Ecken und Enden zu. „Gerade bei der geschlossenen Unterbringung tobt ein heftiger ideologischer Krieg“, sagt Schmidt. „Viele haben da die katastrophale Situation in den 60ern, 70ern und teilweise noch den 80ern vor Augen, als solche Einrichtungen unter Gesichtspunkten der Menschenwürde zurecht verdammt wurden.“ Damals wurden Kinder in Heimen tatsächlich noch verprügelt, gequält, schwer misshandelt. Heute sei das anders, sagt der stellvertretende Jugendamtsleiter. „Manchmal sind solche Angebote die einzige Möglichkeit, junge Menschen zurück in die Spur zu bringen.“ Auch wegen der ideologischen Schattenkriege gebe es allerdings kaum Plätze. Im Norden Bayerns existiert beispielsweise nur jene Wohngruppe in Rummelsberg mit maximal 16 Plätzen. „Und die werden gerne von anderen Bundesländern belegt, die gar keine solchen Einrichtungen haben“, erklärt Schmidt. Bei der teilstationären Jugendhilfe, wo Jugendliche zumindest nach der Schule betreut werden, sieht es ähnlich aus. „Die Plätze sind wirklich rar - und weil überall Fachkräfte fehlen, verknappt sich das Angebot weiter.“

Insider sprechen von einem System am Rande des Kollapses. „Wir können Kindern vielleicht noch ein Bett und etwas zu Essen anbieten“, sagt eine ehemalige Führungskraft aus der Nürnberger Jugendhilfe, die inzwischen gekündigt hat. „Therapien sind oft nicht mehr möglich, dafür fehlt die Zeit.“ Die Verwaltung sei erdrückend, die Personalnot gewaltig - und Hilferufe derer, die eigentlich selbst helfen sollen, verhallten unerwidert. „Diese Kinder sind unsere Zukunft und wir lassen sie in der Luft hängen.“

An der Paul-Moor-Schule, die David besuchte, spitzt sich die Lage in den Tagen nach der Messerattacke erneut zu. Freunde posten ein Foto, das Tayfun im Krankenhaus zeigt. Ein riesiges Pflaster liegt über den Wunden auf seinem Rücken. „Deine Rache wird kommen“, schreibt einer der Jugendlichen - und an der Schule solidarisieren sich immer mehr Kinder mit dem Opfer. „Die Sache wurde immer heißer“, sagt Davids Mutter. Wenige Tage nach der Tat hört sie, wie eine Buddha-Statue, die vor ihrer Wohnung steht, gegen die Eingangstür geschleudert wird. Schmidtbauer verdächtigt Jugendliche aus Tayfuns Umfeld. „Ich habe keine Angst vor denen“, sagt die Nürnbergerin. Aber genug sei genug. Die Polizei, die zufällig für eine Präventionsveranstaltung an der Schule ist, knöpft sich die betroffenen Klassen vor. „Die Beamten haben gemerkt, dass es da durchaus brodelt“, erklärt ein Sprecher der Staatsanwaltschaft. Nach einer Ansprache der Polizei wird es ruhiger.

Der 8. Dezember ist dann der wahrscheinlich düsterste Tag in Davids Leben. Gut zweieinhalb Wochen nach den Messerstichen rücken etwa 20 Polizisten in den Nürnberger Stadtteil Sündersbühl aus, zu dem Haus, in dem der 13-Jährige mit seiner Familie lebt. „Sie kamen von allen Seiten, über den Garten und die Haustüre“, sagt seine Mutter, die an jenem Freitagabend arbeiten muss. David ist zuhause mit einer Nanny, als er abrupt aus dem Bett geholt und abgeführt wird. Er soll in eine geschlossene psychiatrische Einrichtung, obwohl er keine schwere psychische Erkrankung hat. Der 13-Jährige ist nicht paranoid, normal intelligent, aber eben verhaltensauffällig. Ein Psychologe hält es für möglich, dass David erneut zur Gefahr für sich und andere wird. So wie am Abend der Messerattacke.

David, sagt seine Mutter, bereue, was er getan hat. Unter Tränen habe er ihr die Messerattacke gestanden. „Ich habe auch überlegt, mit der Mutter des Opfers zu reden“, sagt Schmidtbauer. „Die Kripo meinte aber, dass das keine gute Idee ist, weil die auf 180 sind. Das kann man natürlich verstehen.“

Jetzt, in der Weihnachtszeit, fühlt sich Schmidtbauer erneut im Regen stehen gelassen. „Die reden mit mir, als ob ich die Mutter eines Mörders bin“, sagt die 39-Jährige. Weit hergeholt ist das nicht, wäre David nur etwas älter, würde es mindestens um den Vorwurf des versuchten Totschlags gehen. Vielleicht auch um einen potenziellen Mord. Das weiß auch Schmidtbauer. Deshalb muss David Heiligabend in der geschlossenen Psychiatrie verbringen. Ohne seine Familie.

„Das ist aber einfach nur irre, dort bekommt er keine richtige Hilfe“, sagt seine Mutter. „Ich wollte etwas Langfristiges für mein Kind, etwas, wo er Ruhe und Hilfe bekommt. Er muss nicht bestraft, sondern behandelt werden.“ Niemand verstehe David, niemand erkläre ihm, warum die Dinge so sind, wie sie sind. „Wenn ihn 20 Polizisten schlafend aus seinem Bett holen und ihn in eine Psychiatrie einsperren“, sagt sie, „sät das Hass“. Und der entlade sich früher oder später bei denen, die ihm scheinbar Unrecht getan haben, glaubt sie. Richter, Psychiater, die Polizei. David sei auf dem besten Wege, in eine Dauerschleife der Gewalt zu rutschen. „Sie haben ihm in die Seele gespuckt.“