Der Garten und der Dschungel

Von Dunja Ramadan

Ein Gedankenspiel: Es sind nur noch wenige Tage bis zur Fußballweltmeisterschaft, nur findet sie nicht in Katar, sondern in Australien statt, das sich ebenfalls als Gastgeber beworben hatte. Also Kängurus statt Kamele, Demokratie statt Dynastie. Einige packen bereits ihre Koffer, wollten schon immer mal nach Down Under, andere sind sowieso schon backpacken, Mainstream nach dem Abi.

Screenshot Der Garten und der Dschungel
Süddeutsche Zeitung

Was es in diesen Tagen wahrscheinlich aus dem Westen nicht gegeben hätte: Debatten über Menschenrechte oder gar Boykottaufrufe. Dabei starben zwischen Juli 2020 und Juni 2021 laut Amnesty 26 Indigene in Gewahrsam. Aborigines berichten auch 200 Jahre nach der Kolonisierung noch über Polizeigewalt und Chancenungleichheit. Das Land hat mehr Gesetze zur Terrorbekämpfung erlassen als jede andere westliche Demokratie, seit dem 11. September 2001 werden Asylbewerber de facto kriminalisiert, Australien hat Tausende Migranten in Internierungslager auf weit entfernte Inseln verbannt.

Ein Blick nach Mexiko, das WM-Gastgeberland 2026. Laut Amnesty sind dort schwerste Menschenrechtsverletzungen alltäglich, willkürliche Verhaftungen, sexualisierte Folter, Verschwindenlassen. Wird es 2026 Boykottaufrufe geben? Eher unwahrscheinlich. Die Mexikaner sind so freizügig wie wir, so lebensfroh, haben Fußballgeschichte, und man trinkt Tequila statt Tee.

Eins vorneweg: Jeder Arbeiter, der beim Bau eines WM-Stadions in Katar ums Leben gekommen ist, ist einer zu viel. Dass das Kafala-Arbeitskräftesystem rassistisch ist und Menschen in Zwei- oder sogar Dreiklassengesellschaften einteilt, ist unbestritten. Doch Katar hat hier Reformen auf den Weg gebracht. Ja, es hakt teilweise an der Umsetzung. Aber es tut sich etwas in der jungen Golfmonarchie.

Die Meinung in Deutschland bleibt jedoch einhellig: Die WM hätte nie an Katar vergeben werden dürfen. Darf das größte Sportereignis der Welt also nur noch in Demokratien westlichen Standards stattfinden? Wie viele Länder bleiben dann noch übrig? Ein paar europäische, nicht mal alle, man muss nur nach Ungarn und Polen blicken. Und was ist mit Italien, dort regieren gerade Postfaschisten? Oder mit den USA? Dort könnte Donald Trump die Wahl gewinnen, der Mann, der Hunderte Kinder illegaler Einwanderer von ihren Eltern trennte – und auch unter Joe Biden werden Tausende Minderjährige aus Lateinamerika unter inhumanen Bedingungen in Zelten festgehalten.

Nicht nur, dass sich dann im wahrsten Sinne des Wortes nur noch ein paar Länder die Bälle zuspielen würden. Die Frage, die man sich schon stellen muss: Warum gibt es bei der Debatte über Katar nur Gut und Böse? Man verkauft den Golfstaaten Fußballklubs und Waffen. Man will von diesen Ländern Öl und Gas, aber auf einmal nichts mit der WM zu tun haben?

Die Kritik in Europa an vielen Missständen im Gastgeberland Katar ist schon richtig – aber oft erscheint sie auch sehr selbstgerecht

Wem es wirklich um Menschenrechte geht, der hätte schon in Russland und bei den Olympischen Winterspielen in China nicht einschalten dürfen. Und wem es
wirklich um Korruption geht, der hätte das auch bei der Austragung in Deutschlandnichttun dürfen. Rund um die Vergabe des Sommermärchens von 2006 floss offenkundig jede Menge schmutziges Geld. Jetzt werden einige argumentieren, dass man irgendwann einExempel statuieren muss. An der korrupten Fifa, dem ganzen Spiel hinter dem Spiel. Nach dem Motto: Besser spät als nie.

Doch was in der Debatte fehlt, ist die Anerkennung globaler, post-kolonialer Realitäten und die eigene Verantwortung darin: Es gibt 200 Millionen Wanderarbeiter, Hauptgründe für die Migration sind Korruption, fehlende Bildungschancen, Kriege, Klima. Katar schafft für einige dieser Menschen Arbeitsplätze. Es zerreißt einem das Herz, dass sie ihre Familien lange nicht sehen. Sie verbringen ihre besten Jahre im Ausland. Das ist brutal.

Aber was eben auch ein Teil der Wahrheit ist: Wenn diese Menschen eines Tages zurückkehren, und das tun die meisten, dann haben sie sich vielleicht ein kleines Haus, eine gute Schulbildung für ihre Kinder erarbeitet. Der Preis dafür war unfassbar hoch.

Aber in Europa interessiert das Schicksal von arbeitssuchenden Migranten nur, wenn es sich nicht vor der eigenen Haustür abspielt. Denn was unterscheidet den jungen Mann aus Nepal, der am Golf Geld verdienen will und muss, von dem jungen Mann aus Tunesien, der sich mit denselben Zielen nach Europa aufmacht – und im Mittelmeer stirbt? Fakt ist: Viele unserer „Arbeitsmigranten“ kommen nie an – und wenn, dann dürfen sie oft jahrelang nicht arbeiten, sondern harren in Lagern in Polen oder Griechenland aus. Seit 2014 starben weit mehr Migranten im am besten überwachten Meer der Welt als auf allen Baustellen Katars zusammen: laut UNHCR 21500 Menschen. Doch das nimmt man hierzulande hin.

Das ist kein Whataboutism, kein Aufrechnen von Missständen gegeneinander. Das soll nur daran erinnern, dass menschenwürdiger Umgang mit Migranten in Europa keine Selbstverständlichkeit ist. Man soll Katar und alle Staaten, die Migranten beschäftigen, trotzdem an ihre Verantwortung erinnern und mehr Reformen einfordern. Aber Europa kann nicht seinen „Garten“ gegen den vermeintlich unzivilisierten „Dschungel“ abschotten, wie kürzlich der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, sagte – und gleichzeitig mit dem Finger auf andere zeigen.

Dass die Boykottaufrufe ausgerechnet ein arabisch-muslimisches Land treffen, ist wohl auch kein Zufall. Denn Fußball, das bedeutet Bier, Feiern, westliches Kulturgut – was also hat Katar da verloren? Ein viel zu sonniger Wüstenstaat, der keine Fußballgeschichte hat und in dem man nicht mal sein Bierchen im Stadion trinken kann? Auch das könnte den ein oder anderen dazu bewegen, den Fernseher am 20. November ausgeschaltet zu lassen. Wenn man ganz ehrlich ist.