Abschiednehmen in der Pandemie

von Angela Boll

Im November gedenken wir der Toten. Für viele, die in diesem Jahr einen Menschen verloren haben, sind die Erinnerungen verknüpft mit den Einschränkungen durch die Pandemie. Manche konnten sich nicht verabschieden, anderen fehlte die angemessene Trauerfeier, manche Berufsgruppen – wie Pflegekräfte, Ärztinnen oder Bestatter – mussten einen neuen Umgang mit dem Tod annehmen. Das Sterben mit oder an Corona hat viel verändert. Diese Geschichte beschreibt stellvertretend für viele Verstorbene den Abschied eines infizierten Mannes und die Gedanken derer, die ihn begleitet haben. 

Mannheimer Morgen

Die Tochter

Am 2. Januar herrschte ausgelassene Stimmung in dem Zimmer meines Vaters. Er hatte seine erste Impfung gegen Covid-19 bekommen und sich gewünscht, darauf mit mir anzustoßen. Wir lachten viel an diesemTag, fühlten uns in einem neuen Lebensabschnitt angekommen. So, als würden wir nach langem Eingesperrtsein langsam die Freiheit zurück erobern. Seit 2018 lebte mein Vater im Pflegeheim, er mochte sein Zimmer, die Spaziergänge in den Luisenpark, die Gottesdienste, die wir gemeinsam besuchten, und er liebte es, von den Schwestern gedrückt zu werden, immer viele Menschen um sich zu haben. Aber dann kam Corona.

Bis zu jenem Tag der Impfung hatte uns die Pandemie schon schwer gebeutelt. Ihn, weil er plötzlich keinen Besuch bekam, nicht mehr umarmt wurde und keinen Gottesdienst mehr besuchen konnte. Mich, weil ich ihn vermisste, Angst hatte, dass er eingeht, ohne mich und ohne seine Glaubensrituale, die ihn bisher immer in schweren Zeiten getragen hatten.

In den Wochen des ersten Lockdowns vom 22. März bis zum 4. Mai durfte ich das Heim nicht betreten. In dieser Zeit hatte mein Vater Geburtstag. Er lachte, als er uns vor dem Haus stehen sah, und winkte uns zu sich. „Kommt doch mal zu mir!“, rief er ungeduldig. Wir durften nicht. Meine unterdrückten Tränen schnürten mir den Hals zu. Ein Handkuss, winken, lachen – alles, nur nicht verzweifeln. Wie so oft fingen die Pflegekräfte und Alltagsbegleiter auf, was ich kaum ertragen konnte. Wieder nahmen sie Briefe und Geschenke entgegen. Es war zum traurigen Ritual geworden.

Als ich meinem Papa im Mai endlich wieder näher kommen durfte, schaffte er es auf erstaunliche Weise, das Vorangegangene zu verdrängen. Er lachte über die Masken, schüttelte den Kopf darüber, dass wir die mitgebrachten Erdbeeren draußen essen mussten, nannte die Pandemie abfällig „die Pest“. Nach jedem Besuch fragte er mich, ob ich morgen wieder komme. Über das, was hinter ihm lag, wollte er nicht sprechen. Wenn ich ihn danach fragte, schwieg er. Nachdem ich im Herbst in Quarantäne bleiben musste und ihn 14 Tage nicht besuchen durfte, sprach er plötzlich nicht mehr. Wir begannen, gemeinsam zu singen. Das ging. Dadurch kam das Lachen zurück. Früher hätten wir nie zusammen gesungen, es war schräg und traurig zugleich. Hände desinfizieren, eincremen, massieren und dabei erzählen – über Berührung und Zuspruch fand er Sprache und Freude wieder. Dass er weiterhin von niemandem mehr geküsst werden durfte, nahmer verständnislos zur Kenntnis.

Dann ging der Testwahnsinn los, plötzlich waren Heimbesuche an Termine gebunden, mussten frühzeitig vereinbart werden. Ein Horror für berufstätige Angehörige. Jedes Treffen war mit Zeitdruck verbunden. Nur durch bitteres Flehen unter Tränen bekam ich noch einen Besuchstermin an Heiligabend, um ein Haar hätte ich es versäumt. Als dann am 24. Dezember 2020 um 17 Uhr in ganz Mannheim die Kirchenglocken läuteten, saßen wir auf dem Balkon des Pflegeheims. Der Gottesdienst fehlte uns beiden, ließ sich nicht durch ein gemeinsames Gebet ersetzen. An diesem Abend beschlossen wir, den Tag der Impfung mit Sekt zu feiern. Und acht Tage später war es soweit.

Weitere acht Tage später hörte mein Vater wieder auf zu reden. Es war ein eigenartiger Tag. Ich war unter Strom, weil ich trotz Arbeit pünktlich für die Testung im Heim sein musste. Als ich ihn fragte, ob wir spazieren gehen sollen, nickte er nur kurz, zeigte mir mit der Hand, dass ich immer weiter laufen soll. Er wirkte müde in seinem Rollstuhl, machte aber nie die Augen zu. Kein Nickerchen. Außergewöhnlich. Beim Abschied registrierte er meine Unruhe. „Mach Dir keine Sorgen!“, sagte er lächelnd und tätschelte meine Hand.Am Tag danach war Testtag im Heim. Besuchsverbot. Und dann kam der Anruf: „Ihr Vater hat Corona“, hieß es, „aber er ist ja geimpft. Er hat leichtes Fieber, es geht ihm gut.“ Surreal.

Wir hatten so oft über die Schutzausrüstung gesprochen, die jetzt wegen Corona in den Krankenhäusern getragen werden muss. Ich bin mir sicher, als ihm die Pflegekräfte so begegneten,wusste er: „Es ist die Pest!“. Drei Tage lang wählte ich morgens und abends die Nummer des Heims. Es ging ihm gut. Er würde essen und lachen, hieß es.Am vierten Tag wurde ich angerufen. „Ihr Vater liegt im Sterben. Sie dürfen jetzt kommen.“ Ich war nicht vorbereitet, glaubte nicht, was ich hörte, sondern hielt an der Freude fest,zu ihm zu dürfen. Irgendwie glaubte ich, wir schaffen das.

Als ich die Eingangstür des Pflegeheims öffnete, fühlte es sich an wie das Eintauchen in eine andere Welt. Nichts war wie vorher. Alle waren vermummt mit Kittel, Schutzbrille, Maske und Handschuhen, manche weinten leise, das Haus war still geworden, der Tod hatte einen Schleier über das Geschehen gelegt. Die Heimleiterin half mir in den Kittel und murmelte: „Es tut mir leid!“.Dann rannte ich. An der Zimmertür meines Vaters wurde ich zurückgehalten. „Bitte noch testen!“, sagte die Schwester, dann ließ sie mich rein, ohne das Ergebnis zu kennen.

Irgendwie fühlte ich mich sicher in seinem Zimmer, so, als sei das Schwere noch nicht bis hierher durchgedrungen. Die Sonne strahlte durch das Fenster, und ich war endlich da. Bei ihm. Den Pfarrer hatte ich schon informiert. Er musste kommen, das war mit meinem Papa so besprochen. Krankensalbung in Corona- Zeiten? Darüber hatte ich nicht nachgedacht. Ich desinfizierte mich und cremte die Hände meines Vaters ein. So wieimmer. Er sah gut aus, schön gepflegt, frisiert und gar nicht blass. Das sagte ich ihm, denn er war sehr eitel. Er wollte mir antworten, konnte aber nicht mehr. Mit Handschuhen strich ich ihm über die Stirn und versicherte ihm, dass es keine Worte brauche. Ich sei jetzt einfach da. Es war beruhigend. Überall Schatten, aber hier schien die Sonne.

Auf einmal riss die Schwester die Tür auf. „Sie sind positiv“, rief sie mir zu: „Sie müssen sofort gehen.“ Die Heimleitung, der Pfarrer, Pflegekräfte – plötzlich standen alle im Türrahmen und winkten mir hektisch zu. Dann schob sich der Pfarrer durch die aufgeregte Menge und schloss wortlos die Tür hinter sich. Er begann mit der Krankensalbung, als ob nichts wäre. Und ich fühlte mich auf einmal wie gelähmt. Ich hatte Angst, jede Bewegung könnte dazu führen, dass ich aus dem Zimmer gezerrt werde. Ich wollte um jeden Preis bei meinem Papa bleiben.

Nachdem der Pfarrer meinen Vater gesalbt hatte, nickte er mir wohlwollend zu und verließ das Zimmer. Zeitgleich stürmte die Heimleiterin herein und flehte mich an, sofort zu gehen. Verzweifelt und heulend standen wir uns vor dem Bett meines sterbenden Vaters gegenüber, und ich bettelte um weitere fünf Minuten alleine mit ihm. „Ich darf nicht“ – sie schüttelte den Kopf. Dann verließ sie das Zimmer. Schweigend. Es galt das Unausgesprochene: schneller Abschied und unauffälliges Verschwinden.

Ich streifte die Handschuhe ab, riss die Maske aus dem Gesicht und nahm meinen Vater in den Arm, ich küsste ihn und streichelte ihm über den Kopf, erklärte ihm, dass nun niemand mehr kommen wird, aber alle an ihn denken. Dann nahm ich seine Hand und spürte die Anspannung. „Wir dürfen loslassen“, sagte ich ihm – und mir. Dann schob ich sein Bett in die Sonnenstrahlen, zog die Schutzkleidung an, ließ die CD mit den Marienliedern laufen und schlich mich durch den Hinterausgang aus dem Heim.

Nur zwei Stunden später starb mein Papa. Alleine. Als mich der Anruf erreichte, hatte ich mich bereits in Isolation begeben, durfte niemanden umarmen. Am Telefon bat ich den Bestatter, meinem Vater den Rosenkranz in die Hand zu legen und ihn gut zuzudecken. Man sagt, Infizierte werden in einem Sack bestattet. Ich hab nicht danach gefragt. Niemand aus der Familie durfte ihn noch einmal sehen.

Am Tag der Impfung hatten wir gedacht, es sei überstanden. 

Die Heimleiterin

Dieser Abschied bleibt mir in Erinnerung, weil er den Zwiespalt zeigt, in dem ich mich als Heimleiterin seit der Pandemie befinde. Ich muss immer wieder einen Weg finden zwischen der Einhaltung der Vorschriften und den zutiefst menschlichen Bedürfnissen der Bewohner und Angehörigen. Beides liegt mir am Herzen.

In dem Moment, als ich erfuhr, dass die Tochter unseres Bewohners positiv ist, dachte ich:Es spielt ja keine Rolle mehr. Wir hatten damals beschlossen, dass die engsten Angehörigen auch von Corona-Infizierten, die im Sterben liegen, Abschied nehmen dürfen. Natürlich unter Einhaltung aller Vorschriften. Es war eine bewusste Entscheidung. In der Zeit haben wir auch sterbende Bewohner ohne Corona aus den Krankenhäusern zurückgeholt, damit ihre Lieben, die nicht ins Krankenhaus dürfen, bei uns Abschied nehmen können. Aber eine positive Angehörige, das wurde mir in der nächsten Sekunde klar, war eine weitere Gefahr für unsere Bewohner und für jeden Angestellten im Haus. Und das musste ich der Tochter klar machen, zugleich wollte ich ihr noch einen Moment geben. Ich vertraute ihr, und ich wartete auch nicht mehr vor der Tür. Vielleicht hätte ich den Pfarrer abhalten sollen, um ihn zu schützen, aber ich hatte auch bei ihm den Eindruck, dass er sich bewusst entschieden hat, die Krankensalbung durchzuführen.

Im Januar hat mein Team Übermenschliches geleistet und durchgehalten. Es herrschte großer Zusammenhalt. Erst in der Zeit danach kam bei dem einen oder anderen der Zusammenbruch. Dann mussten einige ein paar Tage zuhause bleiben, um das Erlebte zu verarbeiten. Für mich bleibt die Zerrissenheit. Auch heute noch. Ich habe mir oft Zeit genommen für Angehörige, um auf ihr Verständnis zu hoffen. Viele waren einsichtig, obwohl auch sie gelitten haben, andere beschimpften mich, sie haben die Gefahr, die von Corona ausgeht, nicht erkannt. Ich befürchte, diese Zerrissenheit wird mich noch eine Weile begleiten. 

Die Altenpflegerin

Die Zeit, in der dieser Bewohner starb, war die schlimmste, die unser Team in der Pandemie durchstehen mussten. Corona hatte da schon längst die Herausforderungen hochgeschraubt, aber wir hatten es bis dahin geschafft ohne infizierte Sterbende. Wenn Bewohner gehen, ist das auch für uns immer ein Abschied – und nie Routine. Wir haben viel Zeit mit den Menschen verbracht, sind zusammengewachsen, gerade auch, als wir gemeinsamden Lockdown erlebt haben. Als uns im Januar die Welle erfasste, waren wir nicht darauf vorbereitet, dass wir Bewohner an Corona verlieren. Die meisten waren ja schon geimpft.

Das Furchtbare war, dass es bei den Infizierten so schnell ging, wir zusehen mussten, wie sie innerhalb weniger Tage abbauten. Alles, was wir getan haben, hat nichts geholfen. Zugleich ging bei den anderen Bewohnern der Alltag weiter, allerdings mit einem weit höheren Arbeitsaufwand für uns als vorher schon, denn wir mussten nun mehrmals am Tag Fiebermessen, akribisch desinfizieren, Schutzkleidung tragen, Essen in getrennten Räumen austeilen.

Normalerweise gibt es Rituale, wie auch wir uns von Verstorbenen verabschieden. Nicht nur wir Pflegenden, auch die Reinigungskräfte, die Therapeuten, Alltagsbegleiter – alle, die wir hier sind. Wir verabschieden uns einzeln, gehen noch mal in die Zimmer. An diesem Tag durfte nur die zugeteilte Pflegekraft zum Bewohner, sie stellte auch den Tod fest, dann wurde das Zimmer verschlossen.

Wir anderen, die ihn so gut kannten und gern hatten, verabschiedeten uns an der geschlossenen Tür. Das war schlimm. Wir haben einfach nur noch funktioniert. Wenn ich heute darüber nachdenke, wie sehr mich das alles mitgenommen hat, bekomme ich Gänsehaut. Auch weil ich mit den Angehörigen gelitten habe. Innerlich. Tatsächlich habe ich weiter funktioniert. Aber ich hatte Angst. Jeden Tag – dass noch mehr Bewohner daran sterben und auch, dass ich mich infiziere. 

Der Pfarrer

Können Sie meinem Vater die Krankensalbung spenden? Er hat Corona und könnte sterben.“ Diese Anfrage erreichte mich, während mich Fragen beschäftigten: Menschen, die mit Überzeugung am Leben der Gemeinde teilnahmen, sterben nun allein, ohne Trost, ohne die Zeichen der Nähe Gottes. Hygieneverordnungen respektieren – kann sich Seelsorge damit abfinden, dass dies alles ist, was jetzt getan werden kann? Ich kämpfte mit der Tatsache, dass ich nicht selbst mehr Initiative ergriffen hatte.

„Ja, natürlich“, platzte es aus mir heraus. Es tat gut, mehr tun zu können. Es gibt Menschen, die Trost suchen, es gibt Angehörige, die das Anliegen aufgreifen, es gibt Einrichtungen, die Türen öffnen. Das tat gut. „Sie wissen, dass Sie in einen Raum gehen, in dem zwei Infizierte sind?“, hieß es im Pflegeheim. Von einer wusste ich, bevor ich kam, von der anderen erfuhr ich erst jetzt. Es änderte nichts. Das Mögliche, um eine Ansteckung zu vermeiden, war getan. Mehr noch.

Die Situation hatte etwas Befreiendes: Herauszutreten aus der Schockstarre, um Seelsorger zu sein. „Ja, das weiß ich, ich möchte trotzdem diese Krankensalbung spenden“,meine Antwort war klar. Das Personal im Pflegeheim wirkte nervös – trotzdem war ich willkommen. Schnell zeigte man mir den Weg. Die Tür zum Krankenzimmer schloss sich hinter mir. Ich war jetzt in jener eigenartigen Stimmung, die sich einstellt, wenn ein Mensch im Begriff ist, sich aus diesem Leben zu verabschieden. Als ich die Worte bei der Salbung sprach, war ich den Tränen nahe. Wie viel Liebe und Hoffnung, wie viel Leid mag dieser Mensch in den letzten Tagen durchlebt haben?

Während ich mich der Schutzkleidung entledigte, hörte ich die Stimmen vom Flur wieder – sie waren ausgeblendet gewesen. Die Frage, was ist der richtige Weg in dieser Pandemie, beschäftigt mich weiter. Aber die Erfahrung, als Seelsorger mehr getan zu haben, als Vorschriften zu beachten, verschafft Trost.