Unter dem Brennglas

Reinhold Manz

Ein Remshaldener ist das erste Corona-Todesopfer in Deutschland, durch das Virus sterben auch seine Frau und sein Bruder – den er selbst noch ansteckt.

Der Offe, sagen die, die Rolf Föll gut kannten, der hat sich selbst nicht so wichtig genommen. Der hätte über seinen eigenen Tod die Achseln gezuckt und gesagt: So schlimm ist das doch nicht, irgendwann muss jeder sterben. Ja, der hätte sich sogar amüsiert darüber, dass er den Titel trägt: „Der erste Corona-Tote in Deutschland“. Die Tragik dieser Geschichte ist jedoch, und darüber hätte auch Rolf Föll nicht mehr lachen können, dass die Krankheit nicht nur ihn selbst erwischt, sondern neben seiner Frau, von ihm weitergegeben, auch seinen Bruder.

Die Geschichte der Fölls wirft ein Schlaglicht auf die Zeit, als Corona nach Deutschland kam, als das Virus noch ziemlich ungehindert unterwegs war, es keine Abstandsregeln oder andere Vorsichtsmaßnahmen gab. Sie gibt einer Krankheit ein Gesicht, mit der viele Deutsche bisher nie direkt in Kontakt gekommen sind und die deswegen weit weg zu sein scheint.

Rolf, Mireille und Werner Föll waren keine jungen Menschen mehr, aber sie waren auch keine gebrechlichen Greise. Sie hatten keine schweren Vorerkrankungen, waren fit, standen mitten im Leben – und hatten doch gegen Covid-19 keine Chance.

Ihre Nichte Susanne Heß, Beate Lachenauer, Schwester von Rolf und Werner Föll, Frieder und Steffen, zwei der Söhne von Werner Föll, haben sich dazu durchgerungen, diese Geschichte öffentlich zu machen, weil sie wichtig finden, dass möglichst viele Menschen sie kennen. „Wir berufen uns nicht auf Zahlen vom Robert-Koch-Institut oder irgendwelche Youtube-Videos, wenn wir über Corona reden“, sagt Susanne Heß.

Als Rolf Föll am 29. Februar 2020 zur Geburtstagsparty seiner Nichte Susanne und seines Neffen Frieder kommt, witzelt er: „Wir dachten schon, wir haben Corona.“ Seine Frau Mireille liegt zu Hause mit heftigen Grippe-Symptomen. Am Abend vorher, Freitag, ist der ärztliche Notdienst bei ihnen. Der Arzt untersucht Mireille und meint: „Das ist nur eine ganz normale Grippe.“ Corona? Das könne nicht sein. Die ärztliche Einschätzung muss so vertrauenswürdig gewesen sein, dass Mireille und Rolf Föll sie ohne große Zweifel annahmen.

Was da noch keiner weiß: Die Fastenwoche in Mulhouse im Elsass, von der Mireille Devaux-Föll einige Tage vorher zurückkehrt, ist in der frühen Phase der Corona-Pandemie in Europa das, was die Virologen ein Superspreading-Event nennen: ein Ereignis, bei dem viele Menschen auf engem Raum zusammenkommen und ein Virus beste Bedingungen vorfindet, um in kurzer Zeit sehr viele neue Wirte zu befallen.

Das Superspreading-Event der Familie Föll ist die Geburtstagsfeier am 29. Februar. Rolf Föll selbst fühlt sich gut, als er mit seiner Nichte und seinem Neffen feiert. Vier Tage später legt er sich mit Fieber und Atemnot ins Bett – und wacht am Morgen nicht mehr auf. Seine Frau Mireille stirbt drei Wochen später im Krankenhaus, sein Bruder Werner einen knappen Monat später ebenfalls. Rolf Föll steckt ihn bei der Geburtstagsfeier an. 80 Gäste sind dort. Insgesamt gibt Rolf Föll an dem Abend das Virus unwissentlich an fünf Menschen weiter. Obwohl er, wie seine Nichte Susanne Heß erzählt, mit seiner kranken Frau im Kopf, niemandem die Hand gibt und zu nahe Kontakte vermeidet.

Eines ist vor allem für die Hinterbliebenen von Werner Föll, seine Frau und drei Söhne, bis heute etwas, mit dem sie nur schwer klarkommen und das an ihnen nagt, ob sie wollen oder nicht: die Tragweite der Einschätzung des Arztes, der am Vorabend der verhängnisvollen Geburtstagsfeier Mireille Devaux-Föll untersucht. „Die Fehleinschätzung“, sagt Susanne Heß.

Die Fölls haben das Pech, dass Corona sie zu einer Zeit trifft, in der die meisten Ärzte und Behörden in Deutschland das Virus noch nicht als konkrete Gefahr auf dem Schirm haben. „Das ist nur eine normale Grippe, legen Sie sich einfach ins Bett, ein Test ist nicht nötig“ – das hören Anfang März viele, die besorgt bei ihren Hausärzten anrufen. Corona ist in China, in Italien, vereinzelt in Frankreich. Erst am 11. März erklärt die WHO die Bedrohung durch Corona zu einer Pandemie. Da ist Rolf Föll schon sechs Tage tot und hat fünf weitere Menschen angesteckt.

Noch ein Schritt zurück: die Fastenwoche in Mulhouse im Elsass, bei der sich Mireille Devaux-Föll höchstwahrscheinlich ansteckt. 2000 Menschen kommen vom 17. bis zum 21. Februar in der Freikirchengemeinde „Eglise Porte Ouverte“ zusammen. Das neuartige Virus ist zu der Zeit in Frankreich schon bekannt. Aber es gibt, wie auch in Deutschland, noch keine Einschränkungen oder spezielle Corona-Regeln. Eine Sprecherin der Freikirche aus Mulhouse sagt der Basler Zeitung ein paar Tage später: Die Leute hätten sich in der Kirche wie üblich begrüßt, Hände geschüttelt und umarmt.

Nachverfolgen lässt sich hinterher nicht mehr, wer wen wie angesteckt hat. Kein Teilnehmer der Großveranstaltung ist registriert. So kann auch niemand direkt benachrichtigt werden, als klar wird, dass das Virus sich dort im großen Stil verbreiten konnte. Schon wenige Tage nach dem Fastentreffen werden die ersten Teilnehmer positiv getestet. In der Folge wird das Elsass innerhalb weniger Wochen zu einem der Corona-Hotspots in Europa.

Mireille Devaux-Föll entwickelt ab dem 24. Februar starke Grippesymptome. Doch von den Corona-Infektionen im Zusammenhang mit der Fastenwoche erfährt sie zunächst nichts. Davon bekommt sie, wie ihre Nichte Susanne Heß rekonstruiert hat, erst am 4. März Kenntnis durch die Nachricht einer Bekannten, die mit ihr auf dem Treffen war. Rolf Föll ist an diesem Tag bereits selbst schwer krank, leidet unter Atemnot. Abends legt er sich ins Bett und sagt: „Wenn es mir morgen nicht bessergeht, gehe ich zum Arzt.“ Dazu kommt es nicht mehr. Auf den Totenschein schreibt der Notarzt am Donnerstag, 5. März, um 6.03 Uhr: „Ungeklärtes Kreislaufversagen“. Und: „Kontakt zu Corona-Infizierten wird angegeben“.

„Der Rolf ist tot.“ Susanne Heß erhält die Nachricht vom Tod ihres Onkels am 5. März per Whatsapp-Nachricht. Sie ist fassungslos – und denkt erst einmal gar nicht an Corona. Ein Mann in seinem Alter, 67 Jahre, im Schlaf gestorben – Herzinfarkt, das ist es, was ihr in den Kopf kommt. Rolf Föll war ein topfitter Senior. „Der ist 2019 den Halbmarathon in Urbach mitgelaufen“, erzählt Susanne Heß.

Anfang 2020 reist er mit einem Freund in den Kongo. „Sie waren an einem Projekt dran: Die wollten eine Schule eröffnen für Straßenkinder“, sagt Susanne Heß. Mireille habe Zweifel geäußert: „Rolf, wollen wir in unserem Alter noch mal so ein großes Projekt anfangen?“ Doch Rolf habe gesagt: „Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt untergeht, würde ich heute noch einen Baum pflanzen.“

Wenn Susanne Heß heute Sprüche von Leuten zu Corona-Todesfällen hört wie: „Die waren doch alt und krank, die wären doch sowieso bald gestorben“ – dann wird sie wütend, weil für sie einfach sonnenklar ist: „Für Offe war sein Leben noch nicht kurz vor dem Ende.“ Gleiches gelte für Mireille Devaux-Föll. Die Realschullehrerin im Ruhestand wäre dieses Jahr im Mai 70 geworden. „Sie ist noch gern und viel gereist“, erzählt Susanne Heß. „Sie stand mitten im Leben.“

Über Werner Föll, Rolfs Bruder, der mit 73 Jahren infolge einer Corona-Infektion starb, sagt sein Sohn Frieder: „Der war fit. Der hat noch alles gemacht.“ Werner Föll ist in Vereinen aktiv, er geht wandern, ist ein geerdeter, geselliger, sozialer Mensch. Er ist ein Macher, der hilft, unterstützt, ein wichtiger Fixpunkt für seine Frau und seine Söhne. Ja, er hat eine leichte Diabetes-Erkrankung. „Aber das haben viele“, sagt Susanne Heß. „Das heißt doch nicht, dass jemand kurz vor dem Sterben ist.“

Um die nötigen Formalitäten kümmert sich an Rolf Fölls Todestag seine Schwester Beate Lachenauer. Ein zweiter Totenschein muss her für den Bestatter. Doch der Hausarzt der Fölls weigert sich zu kommen. Beate Lachenauer ruft daraufhin beim Gesundheitsamt an: Da liegt ein Toter im Haus, seine Frau ist auch krank, bei beiden Verdacht auf Corona. Was sollen wir machen? Antwort des Gesundheitsamts: Der Bestatter soll kommen und den Toten in Schutzkleidung abholen. Das tut dieser schließlich. In voller Montur“, wie Susanne Heß erzählt.

Eine Untersuchung findet erst einmal nicht statt. Susanne Heß sagt: Das Gesundheitsamt habe dem Bestatter die Freigabe erteilt, den Leichnam ins Krematorium zur Verbrennung zu überführen, doch sie habe das verhindert. Ein leitender Mitarbeiter des Gesundheitsamts habe zu ihr gesagt: „Post mortem machen wir keinen Abstrich mehr.“

Susanne Heß bleibt felsenfest dabei, auch wenn das Amt ihre Darstellung bestreitet. Eine Sprecherin des Rems-Murr-Kreises sagt gegenüber unserer Zeitung: „Unser Gesundheitsamt hat zu keinem Zeitpunkt infrage gestellt, dass ein Abstrich genommen wird.“ Es habe nur gedauert, weil es keine Erfahrungen gab, man habe klären müssen: Wie macht man das, wer macht das, wer untersucht die Probe?

Corona ist inzwischen auch im Rems-Murr-Kreis ein brennendes Thema: Am 5. März, Rolf Fölls Todestag, wird das Schulzentrum Rudersberg geschlossen, weil eine Schülerin und ihr Vater positiv getestet wurden.

In der Zwischenzeit wird Mireille Devaux-Föll ins Krankenhaus eingeliefert, ihr Zustand hat sich verschlechtert. Als sie in der Klinik vom Tod ihres Mannes und von dem Fastentreffen im Elsass erzählt, kommt sie sofort auf die Isolierstation. Einen Tag später, am Samstag, 7. März, um 19 Uhr abends ist das positive Corona-Test-Ergebnis da. Jetzt wird der Fall der Fölls öffentlich. Das Landratsamt informiert am Sonntag, 8. März, die Presse: Es gibt einen fünften bestätigten Corona-Fall im Rems-Murr-Kreis, eine Frau aus Remshalden, ihr Mann ist bereits wenige Tage zuvor verstorben. Die Todesursache sei noch in der Abklärung. Zu der Zeit gilt noch ein 60-Jähriger, der von einer Ägyptenreise zurückgekehrt ist, als das erste deutsche Todesopfer von Covid-19.

Erst am Dienstag, 10. März, so hat es Susanne Heß protokolliert, kommt jemand vom Robert-Koch-Institut, um am Leichnam von Rolf Föll einen Abstrich zu nehmen. Dann erst einmal keine Information mehr, bis Freitag, 13. März. „Dass mein Onkel positiv getestet wurde, habe ich aus dem Radio erfahren“, sagt Heß. Erst nach dem positiven Befund des Abstrichs am Leichnam von Rolf Föll will das Gesundheitsamt von Susanne Heß wissen, wer auf ihrer Geburtstagsparty war und mindestens 15 Minuten Kontakt mit ihrem Onkel hatte. Zuvor habe ihr das Amt sogar geraten: „Sagen Sie zu niemandem etwas, wir wissen ja noch nichts Genaues.“ Nun muss Susanne Heß unangenehme Anrufe bei Verwandten, Bekannten und Freunden machen und sich den Vorwurf anhören: „Warum hast du nicht gleich etwas gesagt?“

Bis dahin ist auf Anweisung des Gesundheitsamts lediglich Beate Lachenauer, Rolf Fölls Schwester, in Quarantäne, weil sie Kontakt zu Mireille hatte. Wer nun auf der Geburtstagsfeier wirklich engeren und längeren Kontakt mit Rolf Föll hatte, das kann Susanne Heß kaum noch nachvollziehen. Sie selbst steckt sich bei ihm an, entwickelt aber nur leichte Symptome: Halskratzen und leichte Atembeschwerden. Zwei weitere Gäste liegen nach der Party ebenfalls mit hohem Fieber flach, erholen sich aber wieder.

Rolf Fölls Bruder Werner geht am Montag, 9. März, morgens zum Corona-Test in die Klinik. Obwohl es ihm da schon ziemlich schlecht geht, wird er zunächst wieder heimgeschickt und erst nachmittags nach einem weiteren Anruf seiner Frau in der Klinik aufgenommen. Vier Tage später, einen Tag nach der Nachricht vom positiven Abstrich bei Rolf, am 13. März, wird Werner Föll ins künstliche Koma versetzt. Am 3. April stirbt er.

Das Schreckliche dabei sei der „schleichende Prozess“, das Auf und Ab über Wochen, sagt Susanne Heß. Keine Besuche möglich. Jeden Tag bange Anrufe im Krankenhaus, am einen Tag geht es besser, am nächsten wieder bergab. Mireille Devaux-Föll führt am 25. März ein letztes Telefonat mit ihrer Nichte Susanne Heß. Sie ist extubiert, von der Beatmungsmaschine getrennt, kann auf einem Stuhl sitzen. Sprechen kann sie nicht. Susanne Heß sagt ihr: „Wir denken an dich.“ Der Arzt, der bei Mireille ist, gibt durchs Telefon weiter: Sie nickt und reckt den Daumen nach oben. Einen Tag später ist sie tot.

9277 bestätigte Todesfälle durch Corona, das ist nach aktuellem Stand die deutsche Bilanz der Pandemie. 9277 von 83 Millionen Bundesbürgern. „Die Wahrscheinlichkeit, dass man da persönlich jemand kennt, ist sehr gering“, sagt Susanne Heß. Deswegen kann sie schon nachvollziehen, dass Leute die Einstellung haben: So schlimm kann das mit diesem Virus nicht sein, ich kenne niemanden, der daran gestorben ist. „Aber nur, wenn mich etwas nicht direkt betrifft, heißt das ja nicht, dass es nicht existent ist.“ Dass das Virus in Deutschland bisher so wenige Leute betroffen habe, sei ja den getroffenen Präventionsmaßnahmen zu verdanken.

„Wir sind mit Sicherheit nicht repräsentativ für das Virusgeschehen insgesamt“, gibt Susanne Heß zu. „Und zum Glück verläuft es bei vielen ganz mild. Wir hatten auch das Pech, dass wir ganz am Anfang betroffen waren.“ Aber ihre Familiengeschichte zeige eben doch in aller Tragik und Tragweite, wie hart die Covid-19-Krankheit zuschlagen könne.

Ihre Erkenntnis ist: Jeder kann zwar vielleicht für sich selbst sagen: Irgendwann muss ich sowieso sterben, was soll’s? Aber: Wenn niemand Rücksicht nimmt, dann wandert das Virus von einem zum anderen und gelangt irgendwann zu jemandem, den es umbringt. „Man muss sich klarmachen: Wenn man jemanden ansteckt und derjenige stirbt – dann muss man das vor sich selber verantworten und mit diesem Wissen weiterleben.“

Wenn sich Menschen sorglos über Corona äußern, das Virus kleinreden oder sogar behaupten, das gäbe es gar nicht, dann ist das „wie ein Schlag ins Gesicht oder ein Stich ins Herz“, sagt Frieder Föll, der seinen Vater Werner verloren hat. Er und sein Bruder Steffen müssen sich Sätze anhören wie: „Dein Vater ist ja mit Corona gestorben, nicht an Corona.“ Susanne Heß sagt, sie müsse dann aufpassen, dass sie sich nicht reinsteigere. Im Internet, auf Facebook, habe sie schon viele frustrierende Diskussionen geführt. Die Einsicht, die sie durch das Erlebte gewonnen hat: „Corona hält das Brennglas darauf, ob jemand Verantwortungsgefühl hat, wie solidarisch jemand ist, wie viel Mitgefühl jemand hat und wie viel Respekt gegenüber seinen Mitmenschen.“