Die toten Babys von Neukölln

von Julius Betschka und Martin Nejezchleba

In keinem anderen Bezirk Berlins sterben so viele Säuglinge. Die Ehe unter Verwandten sei ein Grund, sagt der Stadtrat für Gesundheit. Ihm wird deshalb Rassismus unterstellt.

Der Junge kommt mit 1940 Gramm und 46 Zentimetern zur Welt. An einem kühlen Montag im April, zwei Wochen vor dem Geburtstermin, um 21 Uhr und zehn Minuten. Keine zehn Minuten später ist das Baby tot. Sterbeort: ein Kreißsaal in Neukölln. Als Todesursache notiert eine Ärztin auf den rosafarbenen Leichenschauschein: Herzstillstand. Statistischer Krankheitscode: Q87. Das steht für angeborene Fehlbildungen. Ein Gendefekt. Die Mutter wusste schon seit Monaten von der schweren Erkrankung ihres Babys.

 

Mockup des nominierten Textes von Julius Betschka und Martin Nejezchleba von der Berliner Morgenpost-Website
Berliner Morgenpost / BDZV

In keinem anderen Berliner Bezirk sterben so viele Säuglinge wie in Neukölln. Von 1000 Babys überleben im Schnitt 5,3 das erste Lebensjahr nicht. Zum Vergleich: In Steglitz-Zehlendorf liegt die Rate bei 1,4, in ganz Berlin bei 3,1. In einem Bericht des Neuköllner Gesundheitsamtes von Juni 2018 steht dazu folgendes: Die Sterberate sei fast doppelt so hoch wie im Rest Berlins, stark gefährdet seien die Kinder ausländischer Eltern. Und: „Besonders alarmierend“ sei, dass die Säuglingssterblichkeit in Neukölln steige – „ganz im Gegensatz zur generellen Entwicklung in Berlin und Deutschland“, so der Bericht.

Das alles jagt Medizinern einen Schrecken ein, stellt Experten vor Rätsel. Säuglinge sterben und niemand weiß warum – ein Horrorszenario. Ein Stadtrat sieht die Chance, etwas zu bewegen – und begibt sich auf den brüchigen Grat zwischen Aufklärung und Populismus.

Seinen Anfang nimmt das alles mit einer Pressemitteilung. Sie stammt von Falko Liecke (CDU), seit neun Jahren Stadtrat in Neukölln, seit sieben Jahren für Jugend und Gesundheit zuständig, seit zwei Jahren stellvertretender Bürgermeister. Liecke ist ein Mann mit entschlossenem Blick und auf Linie getrimmtem Bart. Wenn er sich selbst beschreibt, spricht er von einem Mann, der auch die unschönen Probleme kompromisslos angehe, der sich nicht in ideologische Schranken weisen lasse. Von einem, der den Dingen auf den Grund geht – und selbst Kritiker schätzen ihn dafür.

Am ersten Juni dieses Jahres gibt dieser Mann in der Pressemitteilung bekannt, welches Problem er als nächstes ins Visier nimmt: die hohe Säuglingssterblichkeit. Er werde intensive Maßnahmen einleiten, damit weniger Kinder im ersten Lebensjahr sterben – so die Definition von Säuglingssterblichkeit. Zunächst gelte es aber, die Ursachen zu finden. Doch: Noch bevor er zu suchen beginnt, benennt er schon Möglichkeiten. Vielleicht liege alles an ärztlicher Unterversorgung. Oder an einer „Häufung von Verwandtenehen“. Nicht mehr als ein Nebensatz. Aber der wird zum Epizentrum eines politischen Erdbebens. Er löst eine Kette von Reaktionen aus, die selbst der entschlossenste Stadtrat nicht einzufangen vermag. Noch am selben Tag spitzt ein Bundestagsabgeordneter der AfD Lieckes These auf Facebook zu, macht aus ihr eine hetzerische Kausalkette: Türkisch-arabische Migranten führten zu vielen Cousinenehen.

Viele Cousinenehen zu vielen missgebildeten und toten Kindern. Die Geschichte der toten Babys von Neukölln verbreitet sich über die sozialen Medien rasant, wird Thema in rechten Facebook-Foren. Von linker Seite heißt es schnell: Rassismus. Schließlich hatte die AfD nur Wochen zuvor mit einer Anfrage zu Verwandtenehen einen Eklat im Bundestag ausgelöst. Liecke wird im Neuköllner Bezirksparlament mit parlamentarischen Anfragen von Grünen, Linken und SPD überhäuft. Sein Vorgesetzter, der Bezirksbürgermeister der SPD, Martin Hikel, sagt: „Wir benötigen mehr Fakten und Netzwerkarbeit statt voreiliger Schlüsse.“ In Zeitungsartikeln werden internationale Mediziner als Beweis für Lieckes vermeintlichen Rassismus angeführt. Lieckes Antwort: „Politikern Rassismus vorzuwerfen ist einfach. Das Problem zu lösen nicht.“

Hier also beginnt die Spurensuche. In einem Bezirk geprägt von kultureller Vielfalt, Armut und Möglichkeiten. Ein Bezirk, der in vielen Medienberichten nicht ohne das Attribut „Problem-“auftaucht. Ähnlich wie Duisburg-Marxloh oder Köln-Chorweiler. Neukölln gilt einigen als Testlabor für die Bundesrepublik. Was läuft hier schief?

Einen Monat nach dem Beben beginnt Liecke mit den Aufräumarbeiten. Der Stadtrat empfängt in seinem Büro im Rathaus Neukölln. Am Anzugrevers trägt er das Wappen seines Bezirks. Er verschränkt die Arme, als er sich in den Bürostuhl lehnt. Als CDU-Mann in Neukölln sei er ja heftige Kritik gewohnt. Aber die Emotionalität, mit der das Thema diskutiert werde, das könne er nicht nachvollziehen. Man könnte sagen: Das Beben war so schwer, dass es den Stadtrat ordentlich durchgeschüttelt hat. Der Assistent des Stadtrats hat auf dem Konferenztisch einen Stapel aufgebaut: Zeitungsartikel, ein Fachartikel, eine Studie der Oxford University, eine Präsentation mit dem Titel „Das konsanguine Paar – was der Arzt wissen muss“. Das Wort „konsanguin“, es gehe ihm noch schwer über die Lippen, sagt Liecke. Er lerne vieles erst im Zuge der Recherchen. Unter anderem das: Als konsanguin werden Ehen von blutsverwandten Paaren bezeichnet, beispielsweise Cousins und Cousinen. Im Gegensatz zu Inzest ist das in den meisten Rechtssystemen erlaubt. Liecke blättert, tippt auf einen Stichpunkt auf Seite vier. Dort steht, bei konsanguinen Partnern verdoppelt sich die Gefahr, dass Kinder behindert auf die Welt kommen. Nur weil das Thema heikel ist, solle er ihm nicht nachgehen?, fragt Liecke. „So bin ich nicht gestrickt.“ Fragt man ihn, ob er das Heiraten zwischen Cousins und Cousinen problematisch finde, atmet er tief durch – und versucht sich an einer Antwort: Das habe ja schon etwas mit kultureller Entwicklung zu tun, das seien ja oft Zwangsehen, zu einer liberalen Gesellschaft passe das nicht, fördere Parallelgesellschaften. Liecke räuspert sich und sagt: „Ein Buschkowsky hätte das bestimmt drastischer formuliert.“ Doch die Suche nach den Ursachen, sie beginnt erst.

Eine Ursache könnte rund fünf Kilometer südlich von Lieckes Büro liegen. Erster Stock: die pädiatrische Intensivstation im Vivantes Klinikum Neukölln. In Zimmer 208 türmen sich Bildschirme, winden sich Drähte und Schläuche über Säuglingsbetten. Eine Frau starrt von einem Hocker in den abgedunkelten Raum. Ein Saugnapf bedeckt fast die ganze Brust des winzigen Babys im Krankenbettchen, hämmert auf und ab. Das Kind kam mehrere Monate zu früh, hat eine angeborene Fehlbildung.

Bei uns werden auch solche Todesfälle dokumentiert, wenn extrem Frühgeborene vor jeglicher Behandlungsfähigkeit geboren werden und dann – medizinisch korrekt – ohne Behandlung sterben.

3000 Babys kommen hier jährlich zur Welt. Die Klinik ist spezialisiert auf Frühchen und Neugeborene mit schweren Erkrankungen, komplizierte Fälle aus ganz Berlin werden hier behandelt. Chefarzt Rainer Rossi leitet seit 22 Jahren die Kindermedizin. Über die vielen toten Säuglinge in Neukölln sagt Rossi: „Wir sind erschrocken und müssen dem nachgehen.“ Hört man sich unter Frauen- und Kinderärzten in Berlin um, lautet eine Theorie: Rossis hochspezialisierte Klinik sei ein Grund, warum in Neukölln mehr Säuglinge sterben als anderswo: Je komplizierter die Fälle, desto größer die Gefahr von Fehl- und Totgeburten. Außerdem, sagen Ärzte, nähmen die Spezialisten dort viele späte Abtreibungen vor, die auch in die Statistik der toten Säuglinge einfließen würden. In einem Bericht der Gesundheitsverwaltung heißt es außerdem: Fast ein Drittel der Todesfälle seien auf ein niedriges Geburtsgewicht zurückzuführen, der Anteil solcher Neugeborenen sei in Neukölln deutlich über dem Berliner Durchschnitt. Es sei anzunehmen, dass die Säuglingssterblichkeit dort auch deshalb so hoch sei. Der Chefarzt selbst erklärt dazu: „Bei uns werden auch solche Todesfälle dokumentiert, wenn extrem Frühgeborene vor jeglicher Behandlungsfähigkeit geboren werden und dann – medizinisch korrekt – ohne Behandlung sterben.“

Ist also alles nur eine Sache der Statistik?

So einfach ist es nicht. Eine Anfrage der Berliner Morgenpost beim Berliner Amt für Statistik ergibt: Nicht der Sterbeort der Säuglinge zählt für die Statistik, sondern der Wohnort der Mütter. So richtig bewusst war das in Neukölln nur wenigen. Die Spezialklinik kann also nicht schuld sein. Warum aber sterben die Kinder?

Chefarzt Rossi nennt soziale Unterschiede als möglichen Grund. Die Neuköllner Klientel, gerade türkische und arabische Migranten, gehe zwar oft zum Arzt, aber eher bei akuten Beschwerden. „Vorsorgeuntersuchungen und dauerhafte langfristige Betreuungsnotwendigkeit sind hingegen oft schwer zu vermitteln“, so Rossi. Und so würden Probleme in der Schwangerschaft oft zu spät auffallen. Aber: Bislang sei das Spekulation. Erst eine Datenauswertung könne klären, was genau das Problem sei. Denn im Bezirk Mitte ähneln sich die sozialen Probleme. Dennoch sterben dort wesentlich weniger Babys– die Zahl dort liegt etwa im Berliner Durchschnitt.

Auch deshalb hat der Vorstoß von Gesundheitsstadtrat Liecke nicht nur im Krankenhaus für Aufregung gesorgt. „Alle, die in Neukölln mit dem Thema zu tun haben, sind verunsichert und alarmiert“, sagt Susanne Butscher. Die Sozialpädagogin, schulterlange Haare, Piercing in der Nase, arbeitet in der Schwangerschaftsberatung Lydia im Neuköllner Norden. Butschers Schwangerschaftsberatung ist eine von nur zwei im ganzen Bezirk. Rund 2500 Frauen beriet sie 2017 mit ihren Kolleginnen, wenn es um die Suche nach Hebammen ging, um finanzielle Anträge und Vorsorgeuntersuchungen. In ihrem kleinen Büro klingelt ständig das Telefon. Terminanfragen. Sie muss alle absagen. Nichts mehr frei diesen Monat.

In die Beratung von Butscher kommen vor allem türkische und arabische Frauen, in den letzten Jahren immer mehr Roma: „Gerade diese Frauen sind oft sehr jung und kriegen teilweise fünf Kinder in vier Jahren.“ Auch das sorge für ein niedriges Geburtsgewicht der Säuglinge. Ein Risikofaktor. Dazu, sagt Butscher, sprächen viele nur schlecht Deutsch und kämen erst gegen Ende der Schwangerschaft zu ihr, wenn es für langfristige Beratung schon zu spät sei.

So auch die Libanesin Rana K. – die 23-Jährige trägt ein schwarzes Kopftuch, silberne Strasssteinchen auf den Schuhen und einen kugelrunden Bauch vor sich her. Sie ist im siebten Monat schwanger und sitzt zum ersten Mal in der Beratung. Es geht um finanzielle Unterstützung, deshalb kommen die meisten. K. sagt, sie ist alleinerziehend. Und: „Ich brauche das Geld für das Notwendigste.“ Windeln, Medizin, sowas. Sie ist arbeitslos, wohnt mit drei Geschwistern bei den Eltern. Das Gespräch mit Butscher ist schnell vorbei, nachdem die Geldfrage geklärt ist. Butscher: „Viele kommen, weil sie gehört haben, dass sie hier Geld beantragen können.“ Was Beratung darüber hinaus leisten könne, davon hätten die wenigsten eine Vorstellung. Das sei schon frustrierend. Und gesundheitliche Probleme, wie Schwangerschaftsdiabetes oder Fehlbildungen, fielen so erst spät auf. Oder nie.

Überlastete Beratungsstellen, fehlendes Verständnis für Beratung – das könnten Gründe sein dafür, dass in Neukölln mehr Säuglinge sterben als anderswo. Und die Verwandtenehen, Frau Butscher? Das sei schwierig einzuschätzen. Es gibt schlicht keine Zahlen darüber, wie viele Familien in Neukölln tatsächlich in Verwandtenehen leben, sagt die Sozialpädagogin. Das muss auch Gesundheitsstadtrat Liecke bestätigen. Wie viele Paare im Bezirk tatsächlich blutsverwandt sind, wie viele von ihnen Kinder gezeugt haben, das weiß niemand. „Viele heiraten ja gar nicht standesamtlich, sondern nach islamischem Recht“, sagt Butscher. Die seien nirgendwo erfasst. Was sie aber weiß: 2017 gab es in der Schwangerschaftsberatung nur einen einzigen Fall, in dem es schwere Komplikationen gab, weil die Eltern blutsverwandt waren. Wichtiger sei ohnehin, die Beratungsangebote auszubauen. Sie legt eine bunte Broschüre vor sich auf den Tisch, blättert. Das Elternbegleitbuch des Bezirks Neukölln: die Texte sind nur auf Deutsch, die Kinder auf den Fotos sind alle blond – und das Gesicht von Falko Liecke ist auch drauf. Dabei sind fast die Hälfte der 330.000 Neuköllner Migranten, ein Viertel stammt aus dem Ausland. Butscher wünscht sich deshalb Informationen in Arabisch, Englisch und Französisch. Flyer mit Fotos von Frauen mit Kopftuch, brünette Jungs. „Davon brauche ich mehr“, sagt sie. Es klingt, als regiere der Stadtrat zumindest an einem Teil der Neuköllner vorbei.

Seit dem Erdbeben sind mittlerweile knapp drei Monate und eine parlamentarische Sommerpause vergangen. Noch immer sorgt Lieckes Halbsatz für heftige Nachbeben im Neuköllner Rathaus. An einem Mittwochabend Ende August tritt die SPD-Fraktionsvorsitzende Mirjam Blumenthal ans Rednerpult des Bezirksparlaments. Sie will vom Gesundheitsstadtrat wissen, wie er das Vorsorgeangebot besser auf Bürger mit Migrationshintergrund auszurichten gedenkt. Ein parlamentarischer Denkzettel: Statt populistische Theorien über Verwandtenehen zu verbreiten, solle Liecke seine Arbeit machen. Der verweist auf den Gesundheitsbericht. Blumenthal: „Ist es richtig, dass in diesem Bericht steht, dass sie die Zielgruppen nicht erreichen?“ Falko Liecke schüttelt den Kopf. Blumenthal wiederholt die Frage Wort für Wort. Der Stadtrat stampft auf, stürzt auf das Rednerpult zu. „Ich kann als Bezirksstadtrat ja kaum jeden einzelnen zur Vorsorge tragen“, sagt er. Es sei alles gesagt, für das Kurzzeitgedächtnis der Fraktionsvorsitzenden könne er ja nichts. Die SPD-Fraktion fordert eine Entschuldigung, der Ältestenrat wird einberufen, Liecke gerügt.

Noch immer scheint es, als gäbe es nirgendwo einen Beweis für die Theorie des Neuköllner Stadtrates, dass die muslimische Verwandtenehe mitschuldig sei am Tod der Säuglinge. Als habe sich der nach höherem strebende Liecke nicht als Aufklärer, sondern Populist hervorgetan – als Stichwortgeber rechter Hetzer. Das wäre nur die halbe Geschichte.

Denn Falko Liecke trägt die politische Verantwortung für die Gesundheit der Neuköllner. In seinem Bezirk sterben fast doppelt so viele Säuglinge wie anderswo in Berlin. Nimmt er sein Mandat als Gesundheitsstadtrat halbwegs ernst, dann muss er den Gründen dafür nachgehen. Und das tut er. Wer mit Politikern und Ärzten im Bezirk spricht, bekommt schnell den Eindruck: das Thema Verwandtenehe wird ignoriert – oder zumindest hingenommen. Und spricht man mit einigen der wenigen Experten, die über die Risiken von Schwangerschaften bei verwandten Paaren aufklären können, dann steht man letztlich vor der Frage: Wann wird Aufklärung zu Stigmatisierung, wann Verschweigen zum Problem?

Eine der wenigen Datensammlungen zu Schwangerschaften aus Verwandtenehen in Deutschland ist über 20 Jahre in einer gynäkologischen Praxis in Charlottenburg entstanden. Die Ärzte dort haben die Föten von rund 35.000 Frauen untersucht. Die Fragestellung: Steigt das Risiko für Fehlbildungen bei Kindern von Cousins und Cousinen? Diese Daten ausgewertet hat der Mediziner Markus Stärk. Ergebnis: Das Risiko für schwere bis tödliche Erbkrankheiten bei Föten liegt im Normalfall bei etwa zwei bis drei Prozent. Für Nachkommen von Cousins und Cousinen ersten Grades steigt das Risiko auf bis zu 8,1 Prozent. Hat Stadtrat Liecke also doch recht? Markus Stärk sagt, das Wissen um die Risiken sei wichtig für die medizinische Aufklärung. Und: „Man muss das Thema rein wissenschaftlich betrachten.“ Tue man dies, müsse man feststellen: Es existieren bislang keine Studien, die belegen, dass die toten Säuglinge von Neukölln wirklich mit Verwandtenehen zusammenhängen. Aber: Dass die Ehe unter Verwandten ein medizinisches Risiko darstellt, das ist bewiesen.

Auch in Neukölln haben Ehen zwischen Cousinen und Cousins zu schweren Erkrankungen oder dem Tod der Kinder geführt. Einige Neuköllner Familien, die die Morgenpost-Reporter kontaktieren, wollen nicht reden über ihr Schicksal. Da ist die Familie S. aus der Türkei. Frau S. gebar fünf Kinder. Alle drei Töchter kamen schwerbehindert auf die Welt. Eine starb als Säugling, die zwei anderen wurden kaum älter als zehn Jahre. Die Söhne blieben gesund. Reden will Frau S. nicht.

Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden.

Dann – an einem Sonntagnachmittag, einem warmen Herbsttag – lädt Familie Z. in ihre kleine Wohnung in der Rollbergstraße. Vierte Etage. Unweit der Dar-As-Salam-Moschee und dem Schwulenclub „SchwuZ“. Ein Leben zwischen erzkonservativem Islam und queerem Liberalismus. Neukölln eben. Familie Z. findet, es wurde genug geschwiegen. Auf dem Esstisch vor Aysel und Yilmaz Z. stehen türkischer Cay und Baklava, ein Bild von Rosa Luxemburg hängt über ihren Köpfen: „Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden“, steht darunter auf Türkisch. Das Deutsch der beiden, die seit 25 Jahren in Deutschland leben, ist schlecht. Eine Übersetzerin hilft, sich zu verstehen. Aysel Z. erzählt, wie sie sich 1985 auf einer Familienfeier kennenlernten. Der Cousin und die Cousine. Das war damals noch in Samsun, einer Stadt an der türkischen Schwarzmeerküste. Beide Kinder, die Aysel Z. gebar, sollten behindert sein. Sohn Can starb früh, Tochter Lále hat in diesem Jahr ihren 32. Geburtstag gefeiert. Sie sitzt neben Papa Yilmaz und Mama Aysel auf dem Sofa, wird gefüttert. Lále, das bedeutet „Tulpe“, gibt nur lallende Laute von sich, reden kann sie nicht. Es gibt Situationen, sagt die Mutter, da versteht sie ihr eigenes Kind nicht. Da weint Lále oder hat Schmerzen und kann nicht ausdrücken, wo. Lále ist zu 100 Prozent schwerbehindert. Sie hat einen Gen-Defekt, der ihre geistige und körperliche Entwicklung nach wenigen Lebensmonaten gestoppt hat. „Unser ganzes Leben richtet sich nach ihr“, sagt Yilmaz Z.. Auch deshalb hätten sie in den 25 Jahren kaum Deutsch gelernt. Neben ihrer Arbeit als Reinigungskräfte und der Pflege ihrer schwerbehinderten Tochter sei dafür einfach keine Zeit gewesen.

Sie hätten gern noch mehr Kinder bekommen, gesunde, sagt Mutter Aysel, aber das wollten sie nicht riskieren. Der Vater: „Wir sagen allen, dass es nicht normal ist, Verwandte zu heiraten.“ Es sei einfach nicht gut, betont er nach einer Pause. Aber es höre ja kaum jemand auf sie. Bei uns werde schon nichts passieren, antworte man ihm dann. Gerade unter sehr gläubigen Muslimen, so der Vater,sei die Verwandtenehe noch verbreitet – auch in Deutschland, auch in Neukölln.

Noch 2010 kam eine Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zu dem Ergebnis, dass jede vierte türkische Frau in Deutschland mit einem Verwandten verheiratet ist. Yildiz Akgün kennt das Phänomen, kennt auch Familie Z.: Die resolute Deutsch-Türkin leitet in Neukölln und Kreuzberg Selbsthilfegruppen für türkische und arabische Familien mit behinderten Kindern. Rund die Hälfte der 50 Familien in ihren Gruppen leben in einer Verwandtenehe, sagt sie: „Wir sprechen da offen drüber, in der eigenen Kultur ist das für die Menschen ja normal.“ Allerdings, so Akgün, brauche es viel mehr Aufklärung. „In den Moscheen muss vermittelt werden, dass die Gefahr für Gen-Defekte steigt, wenn man seine Cousine heiratet“, sagt sie. Es müsse mehr Vorbilder in den Gemeinden geben.

Es sind deshalb die Schulen, Kitas und Migrantenorganisationen, die sie in der Pflicht sieht, aufzuklären. Dass Falko Liecke das Thema auf die Agenda gehoben habe, sagt sie, finde sie grundsätzlich gut. „Ich kenne Herrn Liecke als engagierten Stadtrat.“ Aber, sagt sie auch, viele Bezirke denken nicht genug mit, wenn es darum gehe, Migranten zu erreichen. „Flyer müssen auch auf Arabisch und Türkisch gedruckt werden, damit fängt es an“, sagt auch sie. Ein Arbeitsauftrag für den Stadtrat.

Das Bezirksparlament hat Falko Liecke inzwischen offiziell den Auftrag erteilt, die Schwangerschaftsvorsorge im Bezirk zu verbessern, statt statistische Rätsel zu ergründen. Der aber setzt seine Hoffnungen weiterhin auf ein Archiv in Reinickendorf. Dort, in einem Nebengebäude des ehemaligen Militärkrankenhauses, befindet sich das Zentrale Archiv für Leichenschauscheine Berlins. Liecke hat eine Mitarbeiterin darauf angesetzt, die Neuköllner Sterbefälle zu analysieren. Findet sich dort endlich die Antwort auf die Frage, warum so viele Babys in Neukölln sterben?

Der Chef dort: Patrick Larscheid, Amtsarzt in Reinickendorf. Er führt in einen Raum mit zwei Schränken aus Pressspan und zieht einen von dutzenden Leitzordnern hervor. Darin die Leichenschauscheine für Neukölln, geordnet nach Datum und Nachnamen. Larscheid sagt: „Wir können pure Zahlen liefern, aber für die Fragestellung der vermeintlichen Verwandtenehen sind die Zahlen zur Sterblichkeit wertlos.“ Und der Archivar nennt gute Gründe, ihm zu glauben. Die Fallzahlen seien viel zu gering, um ernsthafte Aussagen über ganze Bevölkerungsgruppen zu liefern. Denn übersetzt man die Sterblichkeitsrate in absolute Zahlen, geht es um 25 Fälle im Jahr 2016. Und: „Wir haben erhebliche Abweichungen zwischen den veröffentlichten Zahlen und den bei uns gefundenen Fällen festgestellt“, sagt Larscheid. Außerdem steht in den Leichenscheinen nichts zu den Eltern der Babys, geschweige denn zu deren Verwandtschaftsgrad. Aus den Leichenschauscheinen in seinem Archiv geht noch nicht einmal der Wohnort eindeutig hervor. Dabei ist der ja ausschlaggebend für die Statistik zur Säuglingssterblichkeit. Aber die Zahlen, die das Gesundheitsamt veröffentlicht hat, die Zahlen, die das Erdbeben erst ausgelöst haben, kommen vom Landesamt für Statistik – nicht von Larscheid. Seine Theorie: Diese Daten sind ungenau. „Wissenschaft“, sagt Larscheid, „eignet sich eben nur sehr begrenzt, um mit ihr Politik zu machen.“

Falko Liecke aber will nicht aufgeben, sagt: „Es dauert länger mit den Ergebnissen als wir gedachthaben.“ Alles sei komplexer als gedacht. Jetzt müsse man eben genauer im Archiv hinsehen. Nur erklärt auch das Landesamt für Statistik, Herr aller Zahlen in Berlin, dass das kaum möglich sei: Die Todesursache eines Kindes, die auf den rosa Leichenschauscheinen des Zentralarchivs notiert wird, lässt sich nicht mit dem Wohnort der Mutter verknüpfen. Die Daten des Statistischen Landesamtes, die Grundlage für die Statistik zur Säuglingssterblichkeit sind, nennen zwar den Wohnort, nicht aber die Todesursache. Lieckes Mitarbeiterin wird umsonst suchen.