Von Mensch zu Mensch

Von Sina Wilke

Kann ein Richter immer gerecht sein? Er kann, glaubt Otto Witt. Er verhandelt seit 30 Jahren Strafsachen am Eutiner Amtsgericht und sagt: „Wir dürfen einen Menschen nicht ausmustern.“

Eutin | Der Angeklagte heißt Aron*, ist 21 Jahre alt und hat ein ehrliches Gesicht. Aber was bedeutet das schon? Er soll ein paar Mal schwarz gefahren sein und jemanden im Streit zu Boden gestoßen haben. Lappalien, einerseits. Andererseits steht Aron nicht zum ersten Mal vor Gericht. Schräg vor ihm sitzt der Mann, der gleich entscheiden wird, wie es für Aron weitergeht. Bekommt er eine Bewährungsstrafe? Eine Geldstrafe? Überhaupt eine Strafe?

Otto Witt (62) ist seit 30 Jahren Amtsrichter in Eutin. Das Amtsgericht ist die erste Instanz der Rechtsprechung: Hier wird alles verhandelt, was nicht schlimm genug ist für das Landgericht, genauer gesagt: Bei dem eine Freiheitsstrafe von weniger als vier Jahren zu erwarten ist. Diebstahl, Betrug, Körperverletzung, Beleidigung, Straßenverkehrsgefährdung, Untreue, Sachbeschädigung, sexuelle Nötigung – ein Querschnitt durch die Kriminalität. Vor dem Amtsgericht landet der Kokainabhängige, der für Tausende Euro Waren im Internet bestellt, ohne sie zu bezahlen. Der Autofahrer, der einen Radler anfährt. Der Jugendliche, der eine Bushaltestelle kaputt tritt. Der Familienvater, der versucht, eine 19-Jährige zu vergewaltigen. Der Alkoholiker, der seine Frau krankenhausreif schlägt. Die Rentnerin, die ihre Vermieterin beklaut. Der 16-Jährige, der an seiner Schule Hasch verkauft. Die Frau, die ihrem Bekannten ein Küchenmesser in den Rücken rammt.

Es sind Angeklagte darunter, die wegen eines Fehltritts zum ersten Mal im Gericht sitzen, weil irgendetwas dumm gelaufen ist. Bei den meisten aber ist sehr viel in ihrem Leben dumm gelaufen. Sie sind drogenabhängig oder gewalttätig oder psychisch krank oder alles zusammen. Es sind Verlierer der Gesellschaft, Abgehängte. Meistens kommen sie wieder.

Wie geht das, über diese Menschen zu urteilen? Was tut ein Richter mit der Macht, die er hat? Wie geht er damit um, dass er das Leben von Menschen mit seinem Urteil ändern kann? Und wenn Zweifel bleiben?

Otto Witt sitzt in seinem Büro im dritten Stock des Amtsgerichts und trinkt eine Tasse Kaffee. Hier oben habe er Ruhe, sagt er. Durch das Fenster sieht man die Kreisverwaltung und das Polizeigebäude, nicht weit von hier liegt der beschauliche Große Eutiner See. Witt hat seiner Frau Bescheid gesagt, dass er heute später zum Mittagessen kommt, er hat jetzt also Zeit, darüber zu sprechen, wie es denn so ist als Richter. „Die wichtigste Voraussetzung dafür ist, dass ich Menschen mag“, sagt er. Sein tägliches Brot sind Schläger, Vergewaltiger, Diebe, Betrüger. Und das Erste, was ihm dazu einfällt, ist, dass er Menschen mag?

Wer als Beobachter im Gericht neu ist, ist zu Anfang möglicherweise ein Stück weit naiv. Da sitzt der Angeklagte und gesteht reuevoll und sagt, er wisse selbst nicht, was in ihn gefahren sei, und er mache jetzt eine Lehre und wolle sein Leben ändern und alles besser machen. Und man denkt, ja, dem tut das leid, toll, dass er jetzt eine Ausbildung macht, das wird schon. Und dann, am Ende, verliest der Richter die Vorstrafen des Angeklagten, und es sind viele, und man begreift, dass er jedes Mal Reue gezeigt hat, jedes Mal neu anfangen wollte, und am Ende doch immer wieder hier im Gerichtssaal landete. Macht das nicht schrecklich wütend?

Otto Witt lächelt. Er erzählt, dass er unlängst einen Angeklagten mit den Worten begrüßte: „Wissen Sie was, ich krieg schon so einen Hals, wenn ich Ihre Akte wieder sehe!“ Und manchmal sagt er: „Jetzt reicht es wirklich! Sie gehören in den Knast.“ Aber das sind Ausnahmen. Und man merkt schnell, dass Witt diese Momente gar nicht so wichtig findet; er redet lieber darüber, dass man als Richter offen bleiben muss.

Wenn er Juristen ausbildet, rät er ihnen, sich vor einer Verhandlung nicht so viele Gedanken zu machen über das Strafmaß oder den möglichen Ausgang des Prozesses. So vermeide man, voreingenommen zu sein. „Es kann nicht sein, dass man dem Angeklagten weniger glaubt, nur weil er der Angeklagte ist.“
Aron erzählt, dass er schwarz gefahren ist, weil er sich die Zugfahrten zum Fußballtraining nicht leisten konnte. Er erzählt, dass er in einer Disco eine Frau mit der Taschenlampenfunktion seines Handys geblendet hat. Darüber geriet er in Streit mit deren Begleiter; die beiden Männer bewarfen sich mit Eiswürfeln. „Das hört sich ein bisschen wie Kindergarten an, oder nicht?“, sagt Otto Witt. Er fragt den Angeklagten, warum er das getan hat.

„Wollten Sie provozieren?“

„Das war eigentlich nur ein Spaß  ...“

„Möchten Sie, dass jemand Sie anblendet?“

„Nee  ...“

„Wenn Sie das so erzählen und in Ruhe darüber nachdenken – was halten Sie davon?“

Der Angeklagte nuschelt etwas, das sich anhört wie„unnötig“.

„Schwachsinn, oder?“, fragt Otto Witt.

Der Angeklagte nickt. Als Otto Witt noch Referendar war, hat der Amtsgerichtspräsident ihm gesagt, er solle gefälligst seine Robe schließen. Witt hat das damals nicht interessiert und tut es bis heute nicht. Er betritt auch nicht in Robe den Verhandlungssaal; sie hängt dort über seinem Stuhl. Das Erste, was Otto Witt sagt, wenn er den Saal betritt und die Leute wie üblich aufstehen, ist: „Bleiben Sie sitzen.“ Otto Witt ist kein Mann der Konventionen – aber er strahlt eine große Sicherheit und natürliche Autorität aus.

Der Richter stammt von einem Bauernhof aus einem Dorf bei Eutin. Als Kind träumte er davon Förster zu werden. Aber weil die Berufsaussichten damals schlecht waren, studierte er Jura. Es gefiel ihm, er wollte Anwalt werden. „Doch vom Naturell her bin ich Waage“, sagt er heute. Mit 26 wurde er Richter, arbeitete an den Amtsgerichten in Lübeck, Bad Oldesloe und Reinbek, bevor er nach Eutin kam. Seit 1985 ist er hier für Strafsachen zuständig, „ich habe es immer gern gemacht.“ Heute wohnt er in einem Dorf nicht weit von seinem Elternhaus. Er ist Vorsitzender der Kreisjägerschaft und einer Stiftung, war lange Dorfvorsteher und im Kirchenvorstand. Mit seiner Frau bewirtschaftet er nebenbei einen Hof mit ökologischem Ackerbau.

Er ist Richter, aber er ist auch Bauer. Seine Freunde sind Landwirte, keine Juristen. Im Gerichtssaal merkt man ihm das an. Er spricht nicht von einem hohen Amt herab, ja, nicht einmal von einer höheren moralischen Warte aus. Er spricht von Mensch zu Mensch, und er spricht so, dass jeder ihn versteht. Das klingt selbstverständlich, ist es aber nicht. Es kommt bei Gericht vor, dass eine Verhandlung am Angeklagten vorbeiläuft, weil sich erst am Ende herausstellt, dass er einen zentralen Punkt schlicht nicht verstanden hat. Immer wieder nutzen Juristen Ausdrücke, die Angeklagte oder Zeugen nicht verstehen. Sie sprechen dann von einer angemessenen Sanktionierung oder davon, dass das Gericht auf etwas abhebt. Das muss kein böser Wille sein, so etwas passiert auch in anderen Berufen. Otto Witt passiert es nicht.

Aber es ist nicht nur die Sprache. Wenn ein Handwerker sich mit seinem Auftraggeber wegen eines Flachdachs streitet, weiß Witt, wie man eines saniert, welches Material man dafür braucht und wie teuer das ist. Wenn ein Autofahrer betrunken einen Unfall gebaut hat, dann weiß Witt, wo die Straße ist, wo sie einen Knick macht und von wo man sie ganz sicher nicht einsehen kann. Jemanden zu belügen, der sich nicht nur in den Höhen der Juristerei, sondern auch in den Niederungen des Alltags auskennt, ist nicht ganz leicht.

Der Angeklagte gesteht. Witt sagt: „Sie können es ja jetzt nicht mehr ändern.“ Das ist ein typischer Otto-Witt-Satz. Sie können es nicht mehr ändern meint: Hier stehen wir jetzt, und urteilen über Ihre Vergangenheit, aber darüber vergessen wir nicht Ihre Zukunft, und da gehen wir vom Besten aus.
Otto Witt hat den Ruf, ein milder Richter zu sein. Er sei „kein Hardliner“, nennt es Witt selbst. Nicht alle sind damit glücklich. Manche Polizisten murren. Jüngst warf ihm ein Leserbriefschreiber in der Lokalzeitung „Kuschelurteile“ vor. Wer mit Leuten über Rechtsurteile spricht oder Kommentare in Zeitungen und sozialen Netzwerken zum Thema liest, gewinnt den Eindruck, dass sehr viele Menschen der Meinung sind, Straftäter, insbesondere jugendliche, gehörten härter bestraft. Otto Witt findet das nicht.

„Ich versuche zu vermeiden, den Menschen den Teppich unter den Füßen wegzuziehen. Wenn es irgendwie vertretbar ist, gebe ich dem Angeklagten eine Möglichkeit“, sagt er. „Wir dürfen einen Menschen nicht ausmustern. Wir müssen ihm immer wieder neu begegnen, ihm immer wieder neue Chancen geben.“ Den Jugendlichen sowieso. „Beim Jugendgerichtsgesetz geht es um Erziehung. Schuld und Sühne haben da nichts zu suchen.“ Aber auch den Erwachsenen. „Wenn jemand mit 50 vor seinem verkorksten Leben steht, ist es menschlich nachzuvollziehen, dass er Mist baut.“ Manchmal, wenn er mit Bekannten über Straftäter spricht und merkt, dass sie kein Verständnis zeigen, sagt er zu ihnen: „Von den Problemen, die die haben, habt ihr keine Ahnung.“

Aron ist mit 13 von zu Hause ausgezogen. Er war in mehreren Pflegefamilien, in mehreren Heimen, er war obdachlos. Witt fragt jetzt nach den Eltern des Angeklagten, zu denen der keinen Kontakt mehr hat. „Warum ist das Verhältnis so gestört? Sie müssen darauf nicht antworten.“

„Es ist viel passiert. Viel Schlechtes“, sagt Aron. Otto Witt bohrt nicht nach. „Wenn man Richter ist, muss man demütig sein können“, sagt Witt. Er spricht häufiger von Demut. Demut ist nicht unbedingt das Erste, was einem zu einem Richter einfällt. Dabei ist Demut eigentlich naheliegend. „Man sollte sich immer wieder vor Augen führen, dass nicht jeder so gut aufwachsen konnte wie man selbst. Man sollte jeden Tag dankbar sein und nicht arrogant“, sagt der Richter.

Einmal habe ihm ein Freund gesagt, früher habe man nicht viel gehabt und trotzdem nicht geklaut. Otto Witt schüttelt den Kopf. Die heutige Jugend sei nicht besser oder schlechter als früher, glaubt er. Sie hat nur andere Probleme. Das wäre schon für einen 30-Jährigen eine ungewöhnliche Aussage. Für einen 62-Jährigen ist sie bemerkenswert.

Kürzlich verurteilte Witt einen 22-Jährigen zu einer Bewährungsstrafe, der im vergangenen Sommer einen Spaziergänger aus heiterem Himmel völlig grundlos brutal zusammengeschlagen hatte. Das 62-jährige Opfer und seine Frau, die den Angriff mit ansah, berichteten im Gericht, dass sie immer noch Angst hätten, abends spazieren zu gehen. „Das berührt mich schon“, sagt Otto Witt. Dennoch glaubt er, dass sein Urteil richtig war. „Wenn man mit einem gewissen Langmut urteilt, gelingt es zum Schluss in ganz vielen Fällen, dass die Täter es einsehen und ihre Chance nutzen“, sagt Witt.

„Das hätten Sie wohl nicht gedacht, dass ich noch die Kurve krieg, was?“, begrüßte ihn mal ein Mann, der einst vor Witt auf der Anklagebank gesessen hatte. Er war mit 5,7 Promille Auto gefahren, hatte Brennspiritus getrunken, und sein Urin tropfte durch den Fußboden in die Wohnung unter ihm. „Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass er es schafft“, sagt Witt. Doch da stand der Mann nun vor ihm, hatte einen Entzug gemacht und sah gut aus.

Ein milder Richter? Ein gerechter Richter, sagt Otto Witt. Dann sagt er einen Satz, den man kaum glauben kann: „Ich glaube, dass ich in 35 Jahren nicht einen Menschen zu Unrecht verurteilt habe.“ Das bedeute nicht, dass nicht auch andere Urteile hätten richtig sein können. Gerechtigkeit ist das oberste Ziel des Rechts. Aber absolut kann sie nicht sein, wo sie von Menschen definiert wird. „Jeder hat einen eigenen Maßstab von Gerechtigkeit“, sagt Witt. Seiner orientiert sich mehr am tatsächlichen als am rechtlichen Bild: Wenn er überzeugt ist, dass jemand betrunken gefahren ist, es aber nur Indizien gibt, versucht er rechtlich alles auszuschöpfen, um ihn zu verurteilen – auch wenn es juristisch leichter wäre, es nicht zu tun. „Die Überzeugung ist mir wichtiger als der hohe rechtliche Maßstab“, sagt Witt. „Und damit bin ich Richter: Subjektiv empfundene Gerechtigkeit unter Berücksichtigung der Gesetze.“

Seine Vorstellung von Gerechtigkeit hat sich dabei in all den Jahren ebenso wenig verändert wie sein Menschenbild, sagt Witt. Er urteile heute nicht anders als früher – nur schneller. „Ich erkenne Sachverhalte rascher, und die Entscheidungsfindung ist einfacher. Man entwickelt ein Gespür dafür, wo man strafmäßig landet.“ Im Gericht merkt man ihm das an: Witt ist zielgerichtet und klar, er mag es nicht, wenn die Dinge sich im Kreis drehen, und wenn sich eine Antwort wiederholt, bügelt er sie ab: „Ja, ich habe verstanden, ja.“ Die Entscheidung reift in ihm während der Verhandlung. „Wenn ich eine Viertelstunde länger darüber nachdenke, kommt auch nichts anderes dabei heraus“, sagt er. Wenn keine Schöffen dabei sind, fällt Witt sogenannte Stuhl-Urteile. Nach den Plädoyers zieht er sich nicht zurück, sondern steht auf und urteilt.

Der Angeklagte muss 20 Stunden gemeinnützige Arbeit ableisten. Das gelte nicht als Vorstrafe, betont Witt. „Aber wenn Sie die nicht erfüllen, kann ich Sie einsperren.“ Zum Abschluss sagt er: „Machen Sie so etwas einfach nicht wieder.“ Der Angeklagte nickt. Er wirkt, als ob er es so meint – aber was bedeutet das schon?

Später in seinem Büro erzählt Witt, wie er mal am Barkauer See jagte. Er saß auf einem Hochsitz, als ein Hirsch auf 50 Meter herankam – für einen Jäger ist das sehr dicht. Doch dann stand der Hirsch da, bewegungslos, und die rote Abendsonne schien direkt zwischen seinen Schaufeln hindurch. „Da kommt doch keiner auf die Idee, irgendwas zu schießen“, sagt Witt. Es ist wahrscheinlich nicht die schlechteste Eigenschaft für einen Richter, mit seiner Macht bedächtig umzugehen.

Otto Witt wird im September 63, er könnte dann aufhören. „Ich will aber nicht. Es bringt mir immer noch Spaß. Ich bin Amtsrichter durch und durch.“ Er sagt nicht Richter, sondern Amtsrichter. Die Freiheit eines Amtsrichters ist, weil er meist allein urteilt, groß; größer als an anderen Gerichten. Die Freiheit, und damit das Risiko danebenzuliegen. Otto Witt genießt die Freiheit; das Risiko bedrückt ihn nicht. Als Amtsrichter hat Witt auch nicht nur die Bösewichte, sondern ebenso die kleinen Fische. Wahrscheinlich ist er hier am dichtesten dran an den Leuten.

Die Verhandlungen sind für heute zu Ende. Der letzte Angeklagte und die Zeugen sind gegangen. Sie haben von Gewalt und Lügen berichtet, haben sich gegenseitig beschuldigt und sich selbst widersprochen, haben Reue gezeigt und Besserung gelobt. Vielleicht sehen sie den Verhandlungssaal nie wieder. Vielleicht sitzen sie in ein paar Monaten wieder hier. Otto Witt zieht seine Robe aus und hängt sie über den Richterstuhl. „Das Leben ist eigentlich schön“, sagt er zum Staatsanwalt, der seine Sachen zusammenpackt. „Das Leben ist auch so bunt.“

*Name von der Redaktion geändert