Ein Knall, dann Totenstille

Von Doreen Reinhard

Jedes Jahr werfen sich etwa 1 000 Menschen vor einen Zug. Für Lokführer sind das traumatische Erfahrungen, viele zerbrechen daran. Frank Hellwig hat drei Suizide erlebt - die Bilder verfolgen ihn bis heute.

An jenem Tag war Frank Hellwigs Welt vollkommen in Ordnung. Er hatte gute Laune, nur noch eine Schicht stand an, die Strecke nach Hof, die er von Hunderten anderen Fahrten kannte. Danach waren ein paar Tage Urlaub geplant. Der Regionalexpress preschte mit 140 km/h durch die Landschaft. Alles war ruhig. Routine. Lokführer Hellwig dachte an die Ferien und an seine Verabredung mit dem Schaffner, wie so oft wollten sie nach der Ankunft in Hof zusammen Mittag essen. Vielleicht, überlegte er, würde es ja Weißwürste geben. Häuser, Wiesen, Haltestellen glitten vorbei, ein Bild wie immer. Doch plötzlich zersprang es in Bruchteilen von Sekunden. Er sah eine Gestalt auf einem Bahnsteig. Eine Frau, nicht viel älter als 20. Sie ging in die Hocke, setzte zum Sprung an, ihr Gesicht kam direkt auf ihn zu. Dann der Knall.

Ein Jahr später hört Frank Hellwig ihn immer noch. "Diesen Knall kennen alle Lokführer. Den kann man nicht vergessen." Immer wieder wälzt er sich nachts im Bett herum, kämpft gegen das Geräusch und die Bilder, sieht den letzten Blick der Frau, die sich entschlossen hat, ihr Leben zu beenden. Es war ihre Entscheidung. Aber sie hat auch sein Leben verändert.

Jeder Suizid wirft einen langen Schatten. Drei hat Frank Hellwig schon erlebt - und passt damit genau in die Statistik. Nach Angaben der Deutschen Bahn nehmen sich jedes Jahr etwa 1 000 Menschen auf Gleisen das Leben. Im Durchschnitt muss jeder Lokführer in seinem Berufsleben zwei bis drei Selbstmorde verkraften. Mehr Angaben macht das Unternehmen zu den Vorfällen nicht. Sie geschehen täglich, aber die Passagiere im Zug erfahren davon nur so viel: Personenunfall. Die Details bleiben im Dunkeln. Aus Pietät. Und aus Angst. Zu groß sei die Gefahr, heißt es von der Bahn, dass Berichte über Selbsttötungen Nachahmer aufmerksam machen könnten. Deshalb die Strategie des Schweigens. Das umhüllt aber auch Lokführer, die mit dem Freitod von anderen umgehen müssen. Nicht wenige scheitern daran. Sie bleiben allein mit ihren Albträumen.

Während der Lokführer-Streiks in den vergangenen Wochen fühlt sich Frank Hellwig oft falsch verstanden. "Zurzeit sind wir die Buhmänner der Nation", sagt er. Von Bekannten musste er sich anhören: "Was wollt ihr eigentlich? Ihr seid doch nur Knöpfchendrücker." Solche Sätze regen ihn auf. "Wenn die Leute wüssten, was bei uns im Kopf los ist." Jeder Suizid ist ein Film, der für immer im Gedächtnis bleibt. Aber das merkt man erst später.

"In dem Moment, in dem es passiert, muss man zur Maschine werden", sagt Hellwig. Die Handgriffe abspulen, die jeder Fahrer schon mal im Simulator trainiert hat. Er hat das Programm an jenem Tag kurz vor Hof zum dritten Mal in seinem Leben aktiviert: Bremshebel herunterreißen, Bremssand ausschütten, den roten Knopf auf dem Funkgerät drücken, die Frequenz für Notfälle. Sämtliche Kollegen, die unterwegs waren, haben mitgehört: "Betriebsgefahr. Alle Züge auf der Strecke sofort anhalten!" Später haben sie zu ihm gesagt: Mensch Frank, du klangst so trocken. Wir dachten zuerst, das war nur eine Übung.

Aber die Maschine war nur ein Mensch. Wie ferngesteuert hat sich Frank Hellwig nach dem Knall durch das Prozedere manövriert. Gespräch mit dem Ablöse-Personal, mit der Polizei, später fuhr er zur Untersuchung zu einem Psychologen. So sieht es das Protokoll vor. Als alle Formalitäten erledigt waren, sank er zu Hause auf sein Sofa. Plötzlich war Stille. Nur ein Gedanke lärmte in seinem Kopf: "Ach du Scheiße, was ist da eigentlich passiert?"

Man könnte Frank Hellwig für einen hartgesottenen Burschen halten. Er ist Anfang 50, ein Hüne mit breiten Schultern, der gern scherzt und lebenslustig wirkt. Wenn er seine Geschichte erzählt, ist das anders. Es kostet ihn Kraft, das Schließfach mit den Erinnerungen zu öffnen. Er bebt innerlich, manchmal zittern ihm die Hände. Seinen richtigen Namen will er nicht preisgeben, aus Angst, Angehörige der Toten könnten ihn erkennen. Er fürchtet Schuldzuweisungen. "Das gab es alles schon. Wenn so etwas passiert, werden oft andere beschuldigt. Der Arzt, der zu spät kam, der Lokführer, der nicht rechtzeitig bremste."

Hellwig lebt in der Nähe von Dresden, war einmal verheiratet, aber die Ehe ist gescheitert. Er hat einen großen Freundeskreis, viele Biker sind darunter, in seiner Freizeit fährt er gern Motorrad. Unterwegs sein, das gefiel ihm schon als Kind. Mit dem Zug fuhr er oft zur Oma nach Zittau und beobachtete fasziniert die Männer auf der Lok. Alles sah so locker aus. "Die hatten rußverschmierte Gesichter, waren gut drauf und pfiffen den Frauen hinterher."

1978 begann er bei der Bahn und erfuhr schon bald: Der Job hat auch ein Berufsrisiko. Als Lehrling begegnet er dem Tod zum ersten Mal. Es gab einen Notruf: "Da draußen haben sie jemanden überfahren." Er war Teil der Truppe, die zur Ablösung hinausfahren sollte. An jenem Tag lag Schnee. Schon von Weitem erkannte er die Unglücksstelle. An einem Schwarm schwarzer Vögel, der darüber kreiste. Der Lokführer, den sie abholten, war ein heulendes Häuflein Elend.

Kurz nach dem Mauerfall ist es Frank Hellwig zum ersten Mal selbst passiert. Er bog mit seinem Zug in eine Kurve, auf den Gleisen stand ein Mann. Er hatte sein Basecap tief ins Gesicht gezogen und die Arme ausgebreitet. "Wie Jesus am Kreuz", sagt Hellwig. Er zog noch die Notbremse, aber der Zug prallte gegen den Körper.

2002 geschah es zum zweiten Mal. Hellwig war nach Görlitz unterwegs, als er eine Bewegung auf den Nachbargleisen sah. Wieder ein Mann. Der Lokführer hupte, aber mehr aus Schreck und Verzweiflung, im selben Moment hechtete der Mann direkt vor seine Lok. Danach konnte Frank Hellwig monatelang keine Fleischerei mehr betreten. Knochen, Organe, zerstückeltes Fleisch; beim Anblick der Auslage ist ihm übel geworden.

Nach etwa zwei Wochen sollten die Bilder im Kopf normalerweise verblassen, das haben ihm die Ärzte jedes Mal gesagt. Wenn aber die Symptome nach dem ersten Schock unverändert bleiben, ist es wahrscheinlich, dass man an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet.

Reden würde helfen. Das ist leicht gesagt. Wenn Frank Hellwig im Bekanntenkreis anfängt, davon zu erzählen, gibt es fast immer die gleiche Reaktion. Die Leute drehen sich angeekelt weg. "Es will doch keiner was von überfahrenen Menschen hören", sagt er. Mit vielen Kollegen ergeht es ihm nicht anders. Zwar ist es fast jedem schon mal passiert, aber die meisten leiden stumm. Dass einige daran zerbrechen und nie wieder in einen Zug steigen können, erfahren die anderen eher nebenbei. Frank Hellwig hat kürzlich einen Kollegen getroffen, Lokführer wie er, doch nun ging er durch Büros und reparierte Uhren. Auf die Frage, was denn passiert sei, bekam er nur eine knappe Antwort: Mir ist jemand vor den Zug gesprungen. Es geht mir nicht gut. Ich kann nicht mehr fahren.

Hellwig weiß: Das könnte auch sein Schicksal werden. Vielleicht, wenn es zum vierten Mal geschieht. Vielleicht schafft er es dann nicht mehr, die Erlebnisse zu verdrängen. Das Bild der jungen Frau verfolgt ihn bis heute. Zwei Wochen ist er nach dem Unfall zu Hause geblieben und hat versucht zu vergessen. In seinem Kopf kreisten die Fragen: "Wird es wieder? Was, wenn es nicht wieder wird?"

Dann fühlte er sich stabiler und wollte wieder arbeiten. Seine erste Fahrt: einmal Hof und zurück. Die Unglücksstrecke. Diese Dienstplanung war ein Fehler, der nicht hätte passieren dürfen. Er stieg trotzdem ein. Eigentlich hätte ihn ein Kollege begleiten müssen, als Beistand zur Wiedereingliederung, aber der fehlte an jenem Tag. Frank Hellwig bat den Schaffner um Hilfe. Er traute seinen Nerven nicht, wollte nicht allein sein, wenn er die kritische Stelle passierte. "Genau zur richtigen Zeit kam der Schaffner, setzte sich hinter mich und redete über etwas völlig Belangloses. Auf der Rückfahrt hat er noch mal das Gleiche gemacht. Das war echte Kameradschaft."

Er schien über den Berg zu sein. Aber er war es nicht. Am Abend darauf, nach seinem nächsten Dienst, kontrollierte er die Lok. Der letzte Handgriff vor dem Feierabend, ein Rundgang mit der Taschenlampe. Frank Hellwig leuchtete unter den Zug. Da war nichts. Trotzdem begann er plötzlich am ganzen Körper zu zittern. In dieser Nacht fuhr er noch mal ins Krankenhaus.

Dass die meisten Lokführer in ihrem Berufsleben irgendwann vor einem Therapeuten sitzen, weiß auch Klaus-Peter Schölzke. Er hat ebenfalls einen Suizid erlebt. "Vor zwölf Jahren. Das Datum vergisst man nie." Züge steuert Schölzke nur noch selten, er ist inzwischen Gewerkschafter bei der GDL Sachsen, kein gemütlicher Posten in diesen Tagen. Zurzeit drehen sich die Verhandlungen mit der Deutschen Bahn um andere Forderungen. Aber noch Anfang 2014 gehörte die Absicherung von traumatisierten Lokführern dazu. "Das Thema wurde von der Bahn viel zu lange totgeschwiegen", sagt Schölzke.

Etwa 30 Lokführer müssen jedes Jahr ihren Beruf aufgeben, weil sie an einem Trauma leiden. "Früher wurden sie auf einen anderen Posten innerhalb des Unternehmens versetzt, oft in eine andere Stadt, immer für weniger Gehalt. Wer ablehnte, hatte noch nicht mal Anspruch auf eine Abfindung."

"Hochzufrieden" ist Klaus-Peter Schölzke mit den Ergebnissen nach zwei Jahren harter Verhandlungen. Nun ist das Netz der medizinischen Betreuung dichter gestrickt, die psychologische Versorgung schneller möglich. Wird ein Lokführer "fahrdienstuntauglich", gibt es Garantien für regionale Versetzungen und längere Lohnfortzahlungen. "Zumindest bei der Deutschen Bahn sind wir vorangekommen", sagt er. "Bei den kleinen Privatbahnen sind die Probleme noch groß."

Auch in einem anderen Bereich gibt es Entwicklungen, aber über die will der Gewerkschafter nicht sprechen. Wenn Lokführer aufgrund von psychischen Problemen Verdienstausfälle haben, besteht rein juristisch die Möglichkeit, die Angehörigen von Selbstmördern auf Schadenersatz zu verklagen. Die ersten Betroffenen haben das erfolgreich getan.

Auch Frank Hellwig hat von diesem Weg gehört. Aber ist er gerecht? Schwierige Frage. Als Opfer fühlt er sich trotzdem, unschuldig verstrickt in die letzten Entscheidungen anderer Menschen. Er denkt viel über die Selbstmörder nach. Und verspürt auch Wut. "Warum machen die so was? Einfach vor den Zug springen, ohne daran zu denken, dass sie einem anderen Menschen das Leben versauen können?"

Er arbeitet wieder, aber besucht immer noch einen Therapeuten. Sein Körper sendet Signale, manchmal überfallen ihn Panik attacken. Erst neulich wieder, als er mit der S-Bahn in Richtung Pirna unterwegs war. Schon von Weitem sah er einen Bahnsteig, auf dem sich ein junges Pärchen balgte. Es sah aus, als würden die beiden sich gegenseitig aufs Gleis schubsen. Hellwig fuhr der Schreck in die Glieder. Sollte er eine Notbremsung machen? Wieder eine Entscheidung von Sekunden. Dann erkannte er: Die machen nur Spaß. Der Junge zog das Mädchen von der Bahnsteigkante, beide lagen sich küssend in den Armen.

In dieser Nacht fand Frank Hellwig wieder einmal keinen Schlaf. In seinem Kopf liefen die üblichen Bilder ab, ein Selbstmörder nach dem anderen. Sie war zurück, seine größte Angst. Dass diese Filme für ihn niemals enden.