Auf den Herd gekommen

Von Robin Alexander

Das Betreuungsgeld ist eine unsinnige Subvention unter vielen. Aber die "Herdprämie", als die sie bekämpft wurde, hat nicht nur Mütter gedemütigt, sondern auch den demo-kratischen Diskurs ruiniert. Die Geschichte eines verhängnisvollen Wortes.

Der Vater der "Herdprämie" ist ein politischer Aktionskünstler, aber es handelt sich dabei nicht um den CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer. Sondern um Joseph Beuys. Auf der "docu-menta5" im Jahr 1972 greift sich der Radikaldemokrat ein Stück Kreide und schmiert auf eine Schiefertafel die Forderung nach einem "Hausfrauengehalt". Dies soll für alle - selbstver-ständlich auch für Männer - gezahlt werden, die sich hauptsächlich um ihre Kinder kümmern. Schon die Debatte darüber, postuliert Beuys, sei Kunst, denn sie schaffe eine "soziale Plastik", da allein der Gedanke eines Hausfrauengehaltes den herrschenden Arbeits-, Rechts- und Freiheitsbegriff der Gesellschaft erschüttere.

An diesem Freitag, genau vierzig Jahre nach der Documenta, ist das Hausfrauengehalt vom Bundestag beschossen worden. Es ist - wie es mit utopischen Vorschlägen so geht - von der Realität arg geschrumpft worden, auf kleinliche 100 Euro im Monat (später sollen es einmal 150 werden) und hat einen hässlichen bürokratischen Namen bekommen: Betreuungsgeld. Doch die Menschen kennen es unter einem anderen Namen: "Herdprämie". Sie kommt auf stolze 200.000 Treffer bei Google, wird von großen Zeitungen ebenso verwendet wie von den führenden Nachrichtenportalen im Internet. Wirtschaftsführer, Minister, Fraktionsvorsitzende und die Abgeordneten von FDP, SPD, Grünen und Linkspartei lassen sich damit zitieren. Die von CDU und CSU nutzten die Vokabel hinter vorgehaltener Hand.

Die "Herdprämie" entflammt politische Leidenschaften, die im ideologisch befriedeten Ange-la-Merkel-Deutschland selten sind. In einem "siebenjährigen Krieg" um ihre Umsetzung treibt sie prominente Gegnerinnen zu öffentlichen Tränenausbrüchen, erfahrene Politiker zu Wutan-fällen hinter den Kulissen, bringt den Bundestag dazu, sich für einen Tag selbst aufzulösen, und führt die schwarz-gelbe Regierung an den Rand eines Koalitionsbruchs.

Dabei ist das Betreuungsgeld ja nur eine klassische Subvention mit geringer Lenkungswirkung und hohen Mitnahmeeffekten. Richtig teuer wird sie erst durch diverse, für ihre Durchsetzung notwendige Kuhhandel. Der politische Kampfbegriff "Herdprämie" muss noch etwas anderes bedeuten.Sofort fällt auf, wie unpräzise dieses Wort ist. Die "Herdprämie" sollen ja Menschen bekom-men, die sich um ihre Kinder kümmern, die jünger sind als drei Jahre. Jeder und jede, die das schon einmal getan hat, weiß: Am Herd verbringt man dabei die wenigste Zeit. Selbst für die ersten Gläschen gibt es längst eigene Geräte zum Aufwärmen. Sicher gibt es auch besonders biologisch bewegte Väter oder Mütter, die alles selbst kochen oder einkochen, aber auch deren Existenz kreist mitnichten um den Herd. Ja, junge Eltern können die in den Lifestyle-Eliten unserer Gesellschaft mittlerweile fast obligatorischen verfeinerten Kochkünste schon aus Zeitmangel nur schwer entwickeln.

Ginge es also um die Beschreibung der Tätigkeit der Menschen, die Betreuungsgeld erhalten sollen, müsste es gerade nicht "Herdprämie" heißen, sondern vielleicht Schmuseprämie, Vorsingprämie, Rumtrageprämie oder Nachtsaufwach-prämie. Oder schlicht: Kleinkindprämie. Den Herd aus der "Herdprämie" finden wir also gar nicht in den Küchen junger Eltern. Und auch sonst nirgendwo im Deutschland des Jahres 2012. Es ist ein anderer Herd. Es ist der Herd vom "Heimchen am Herd".Das "Heimchen am Herd" klingt nach den 50er-Jahren, ist aber viel älter, kommt aus Großbri-tannien und stammt von keinem Geringeren als Charles Dickens. "Heimchen am Herd" ist der Titel einer deutschen Übersetzung einer Novelle des großen Romanciers und Sozialkritikers, die 1845 erschien. Das Wort "Heimchen" war da noch in seiner ursprünglichen Bedeutung gemeint: eine Grille, also ein Insekt, das sich angeblich am warmen Herd wohlfühlt. Wie bei vielen Metaphern ist diese ursprüngliche Bedeutung längst allgemein vergessen, was die damit verbundene Wertung ins Unbewusste rückt, wo sie umso mächtiger wirkt. Der Duden definiert "Heimchen am Herd" so: "eine naive, nicht emanzipierte Frau, die sich mit ihrer Rolle als Ehefrau zufriedengibt".

1966, also als die Frauenbewegung gerade Anlauf nahm, beschreibt der "Spiegel" unter dem Titel "Heimchen am Herd" geradezu das archetypische Feindbild der emanzipierten Frau: "Sie wechseln die Bettwäsche zweimal wöchentlich, und ihre Kleider schneidern sie selbst. In Abendkursen lernen sie Brotbacken und Teppichknüpfen. Sie wohnen in komfortablen Vor-ort-Häusern, haben zwei Autos, zwei Fernsehgeräte, offene Kaminplätze und Kinder mit gu-ten Anlagen. Sie sind zum Orgasmus fähig und dankbar für ihren 'Glauben an Gott'. Sie sind Hausfrauen und Mütter."

Man muss es so deutlich feststellen: Wer "Herdprämie" sagt, meint "Heimchen am Herd". Er artikuliert nicht seine Ablehnung einer schlecht konstruierten familienpolitischen Leistung. Er artikuliert seine Ablehnung von Frauen - von Frauen, die sich um ihre Familie kümmern und dafür auf Erwerbsarbeit verzichten.

Das wird manchmal sogar offen eingestanden - etwa von Annegret Kramp-Karrenbauer. Als die CDU-Politikerin überraschend zur Ministerpräsidentin des Saarlandes aufsteigt, sagt sie in ihrem ersten überregionalen Interview unvorsichtigerweise noch, was sie denkt: "Wenn wir heute als Volkspartei auch von Frauen gewählt werden wollen, brauchen wir eine Politik, die die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in den Mittelpunkt stellt, und nicht das Heimchen am Herd." Kramp-Karrenbauer, die selbst drei Kinder hat und mit einem Mann verheiratet ist, der ihr nach eigenen Angaben den Rücken frei hält, ist eine exponierte Gegnerin des Be-treuungsgeldes in der Union. Ihre Ablehnung von Frauen, die keiner Erwerbsarbeit nachge-hen, begründet sie immerhin politisch: "Wir brauchen einen Mentalitätswandel, damit mehr Frauen in den Arbeitsmarkt gehen. In der Rechtsprechung bei Ehescheidungen, beim Unter-haltsrecht, gibt es eine klare Tendenz für die durchgängige Erwerbstätigkeit von Frauen. Und auch bei der Alterssicherung spielt der Aspekt eine Rolle. Wir dürfen die nicht berufstätigen Frauen nicht in falscher Sicherheit wägen." Die Politikerin will das "Heimchen am Herd" also vor dem selbst gewählten Lebensweg schützen. So paternalistisch kann Frauenpolitik sein.

Das "Heimchen am Herd" ist mit 150 Jahren ein sehr alter Stereotyp, seine kleine Schwester "Herdprämie" ist deutlich jünger. Vor etwa zehn Jahren schleicht sie sich in den Diskurs - zuerst leise und fast verschämt. In den meinungsbildenden Zeitungen und Zeitschriften wird sie zum ersten Mal im Jahr 2002 erwähnt - in der "taz", der kleinen, grün-alternativen "tages-zeitung". Der Kanzlerkandidat der Union, Edmund Stoiber (CSU), hat damals im Bundes-tagswahlkampf ein im Lichte der heutigen Diskussionen geradezu üppig erscheinendes "Fa-miliengeld" vorgeschlagen: 600 Euro pro Kind bis zum dritten Lebensjahr, völlig unabhängig von der Betreuungsart übrigens. Angesichts solcher Großzügigkeit grummelt die "taz" nur leise, die Union "... köderte mit dem gern als 'Herdprämie' bezeichneten Familiengeld ganze 1,5 Prozent der Frauen mehr als bei ihrer Verliererwahl 1998."

Damals steht die "Herdprämie" also auch bei ihren Gegnern noch in Anführungszeichen. So-gar der "Spiegel", heute vor allem mit seinem Onlinedienst ein Sturmgeschütz gegen die "Herdprämie", verhält sich in diesen Jahren noch wie ein neutraler Beobachter. Im Hamburger Nachrichtenmagazin taucht das Wort "Herdprämie" zum ersten Mal im November 2005 auf. Da stecken Union und SPD in Berlin gerade in den Koalitionsverhandlungen und der "Spiegel" zitiert ausgerechnet die Politikerin, die bisher bundesweit kaum bekannt ist, bald aber als Familienministerin Furore machen wird: "Das Elterngeld solle aber 'keine Herdprämie' werden", sagt die designierte Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU): "Auch Frauen, die gleich nach der Geburt wieder arbeiten, stehe ein Elterngeld zu, zum Beispiel in der Höhe der Kosten für die Babybetreuung."

Hat etwa die Revolutionärin der Familienpolitik, Ursula von der Leyen, also nicht nur das Elterngeld und den Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz ins Gesetzblatt gebracht, sondern auch noch das Wort von der "Herdprämie" in Umlauf gebracht? Das wäre wohl doch zu viel der Ehre. Von der Leyen nennt das Betreuungsgeld zwar "bildungspolitisch" eine "Katastro-phe". Vom Begriff "Herdprämie" distanziert sie sich aber - später. Sicher ist: Die Verwendung des Begriffs "Herdprämie" steigt genau in den Jahren rasant an, in denen es einen Para-digmenwechsel in der deutschen Familienpolitik gibt. Die Union gibt ihre Schutzfunktion der klassischen Familie auf und setzt nun wie die SPD auf den massiven Ausbau staatlicher Kin-derbetreuung. Die früher in konservativen Kreisen verpönte "Karrierefrau" wird zum gesell-schaftlichen Ideal, wie auch der familiär engagierte Mann. Neue Rollenbilder setzen sich durch, allerdings steigt dabei auch die Unsicherheit über die eigene gesellschaftliche Rolle, was aber meist nicht eingestanden wird. Die Stereotypenforschung kennt solche Situationen: Ist die eigene Identität nicht mehr selbstverständlich, wird versucht, sie durch Abgrenzung zu stabilisieren - in diesem Fall gegenüber Menschen, die angeblich noch in den alten Rollenbil-dern leben.

Deshalb ist jetzt plötzlich überall von der "Herdprämie" die Rede. Distanzierende Anführung-szeichen sind verschwunden, das wertende Wort wird als Tatsachenbeschreibung genommen und schafft es in Nachrichtentexte und in Schlagzeilen wie "Streit um Herdprämie". Denen, die über die "Herdprämie" schreiben, geht es dabei oft gar nicht um das konkret geplante Be-treuungsgeld, sondern um eine prinzipielle Entscheidung: Kinderbetreuung zu Hause oder in öffentlichen Einrichtungen. Dies wird zu einer Glaubensfrage erhoben, in der sich jeder - und vor allem jede - entscheiden müsse.

Mit der Realität hat das nichts zu tun. Denn 90 Prozent aller Eltern praktizieren ja ganz selbstverständlich eine Mischform. Sie bringen ihr Kind vielleicht nicht mit einem Jahr in eine Krippe, aber meistens mit drei in einen Kindergarten. Dort bleibt das Kind vielleicht nicht den ganzen, aber den halben Tag. Mütter bleiben einige Jahre zu Hause, steigen dann aber wieder ins Berufsleben ein, wobei sie gern halbe Stellen nehmen. Als das Meinungsforschungsinstitut Allensbach vor zwei Jahren berufstätige Mütter von Kindern unter 18 Jahren dazu befragt, was für sie die "ideale Wochenarbeitszeit" wäre, kommt heraus: 20 Prozent der arbeitenden Mütter wollen länger arbeiten, als sie es tun, 41 Prozent wollen kürzer arbeiten, 39 Prozent sind mit ihrer Wochenarbeitszeit zufrieden. Den Glaubenskrieg zwischen Krippe und Herd gibt es nur in der Politik und den Medien.

Ein Weiteres fällt beim publizistischen Anrennen gegen die "Herdprämie" auf: Erschreckend häufig gerät die simple Tatsache aus den Augen, dass sich das Betreuungsgeld an Eltern sehr junger Kinder richtet - und nicht etwa aller Kinder. So veröffentlicht etwa die "Süddeutsche Zeitung" im Jahr 2007 einen Bericht über eine Studie zur Zufriedenheit von Kindern und Ju-gendlichen, in dem es heißt: "Auch im Blick auf den Streit um Herdprämie und Betreuungs-plätze ist aus Kindersicht Entspannung zu vermelden: Kinder von Berufstätigen fühlen sich in der Regel selbst dann nicht vernachlässigt, wenn beide Eltern arbeiten." Wohlgemerkt: Hier gaben Acht- bis Elfjährige Auskunft. Das Betreuungsgeld gibt es aber nur für Ein- und Zwei-jährige. Dennoch werden die Berichte über die "Herdprämie" auch in den Qualitätszeitungen regelmäßig mit Fotos aus Kindergärten bebildert, auf denen Vierjährige spielen oder Fünfjäh-rige lernen.

Die im Begriff "Herdprämie" angelegte implizite Polemik gegen Eltern, die ihre Kinder zu Hause erziehen, steigert sich vereinzelt sogar in explizite Beschimpfung. So schreibt etwa auch die "Die Welt" im Jahr 2007 in einem satirisch angehauchten alphabetischen Jahresrückblick: "Herdprämie, die: Geld, das die CSU all jenen Müttern zahlen will, die mit der Erziehung ihrer Kinder zwar hoffnungslos überfordert sind, diese aber künftig trotzdem 24 Stunden am Tag um sich haben werden, damit die ungewaschenen Kleinen in Kindertagesstätten oder Kindergärten ja nichts lernen, was ihre Chance erhöht, der programmierten Hartz-IV-Karriere doch noch zu entkommen."

Jetzt strömen auch andere diskriminierende Begriffe in den politischen Diskurs: Da der sozi-aldemokratischen Politik der christdemokratischen Familienministerin in der Großen Koalition wenig entgegenzusetzen ist, verbeißt sich die Opposition geradezu ins Betreuungsgeld. Die stellvertretende FDP-Parteivorsitzende Cornelia Pieper nutzt eine Parteitagsrede, um ein Hasswort mit eigenem Copyright in Umlauf zu bringen. Die spätere Staatssekretärin im Aus-wärtigen Amt ereifert sich unter Applaus über das "Schnapsgeld" - Eltern als Alkoholiker.Die Vorsitzende der grünen Fraktion im Landtag von Nordrhein-Westfalen und heutige stell-vertretende Ministerpräsidentin, Sylvia Löhrmann, geht noch weiter und klagt in einer Parla-mentsrede: "Das Aufdecken familiärer Gewalt wird durch solche Heim- und Herd-Prämien schwieriger" - Eltern als Gewalttäter.

Eine Gefahr für die eigenen Kinder zu sein - dieser drastische Vorwurf wird vor allem Eltern gemacht, die wenig Geld haben oder gar von Hartz IV leben. Aber auch das Gegenteil ist möglich - der klassische Sozialneid gegen die Reichen: Vor allem "Spiegel Online" beginnt zu dieser Zeit eine Berichterstattung, die zuletzt in einen Kommentar mündet, der sich de-monstrativ zum Begriff "Herdprämie" bekennt und von der "Zahnarztgattin am Starnberger See" fabuliert, die sich "freut: Sie kann künftig mit dem Bonus vom Staat ihre Fußpflege fi-nanzieren" - Eltern als Schmarotzer.

Wie ein Magnet zieht der Stereotyp "Herdprämie" weitere Stereotype an. Plötzlich kann man ganzen Bevölkerungsteilen negative Verhaltensweisen unterschieben, etwa wenn der Berliner SPD-Politiker Heinz Buschkowsky zum Betreuungsgeld "Klartext" redet: "In der deutschen Unterschicht wird es versoffen und in der migrantischen Unterschicht kommt die Oma aus der Heimat zum Erziehen, wenn überhaupt." Auch die Szene der radikalen Islamkritiker entdeckt die Debatte für sich. Im Internet kursieren Bildchen, die mit Kopftuch und Schnurrbart als Muslime gekennzeichnete Eltern mit einer riesigen Kinderschar zeigen, mit der Unterschrift: "Ich bin für das Betreuungsgeld."

Geradezu drollig ist die Rollenverschiebung in der politischen Kommunikation: Während SPD und Grüne - sonst oft peinlich genaue Wächter der politischen Korrektheit - mit der Herdprämie gleich mehrere Minderheiten beschimpfen, sieht sich ausgerechnet die auf ihre Bierzeltkommunikation stolze CSU in der ungewohnten Rolle, Differenzierung anzumahnen. Das gelingt nicht immer, etwa bei Edmund Stoiber: "Vielleicht nimmt der Vater oder die Mutter vom kleinen Ali das Betreuungsgeld und setzt es in Wermut um. Da muss ich ganz ehrlich sagen: Wer so argumentiert, darf kein Kindergeld mehr den Eltern geben, kein Erzie-hungsgeld, keinen Zuschlag zum Erziehungsgeld - da müssen wir schon sauber bleiben."Es hat etwas von einem zivilisatorischen Dammbruch, bei dem alle Regeln des demokrati-schen Diskurses hinweggefegt werden. Sogar die in Deutschland seit der Nazizeit geächtete Tiermetaphorik blüht plötzlich wieder auf: Die bürgerliche "Frankfurter Allgemeine Zeitung" wettert gegen das Betreuungsgeld als "Aufzuchtprämie". Die "taz" sagt mit dem Wort "Glu-ckengehalt", dass sie Mütter für dumme Hühner hält.

Bei verbalen Angriffen bleibt es jetzt nicht mehr. Befürworter des Betreuungsgeldes und ähn-licher Konzepte werden auch persönlich attackiert. Dabei fällt in dieser Debatte ein weiteres Tabu des zivilisierten Diskurses: die politische Sippenhaft. So muss sich etwa Oskar Lafon-taine, damals Parteivorsitzender der Linken, heftiger Kritik erwehren, weil sich seine Ehefrau dafür ausspricht, Mütter von kleinen Kindern großzügig zu unterstützen. Lafontaine teilt die Forderung nicht, wird aber trotzdem immer wieder aufgefordert, sich öffentlich von seiner Frau zu distanzieren. Die Vorsitzende der SPD-Frauen in Hessen, Ulli Nissen, lauert Lafon-taine schließlich auf einem Parteitag der Linkspartei auf und schenkt ihm öffentlich eine blonde Barbiepuppe und einen Spielzeugherd. Die Aktion findet viel Beifall. Nissen wird von der Frankfurter SPD für den Bundestag nominiert.

Dies ist weder der erste noch der krasseste Fall bei dem im Kampf gegen die "Herdprämie" politisch Andersdenkende als Person angegriffen und öffentlich gedemütigt werden. Wenig später wird es eine junge Frau treffen, die darauf weniger vorbereitet ist als der mit allen Wassern gewaschene Lafontaine. Doch so weit ist es noch nicht.

Denn die Verrohung des Diskurses bleibt nicht unwidersprochen. Zweimal kommt es zu Interventionen aus der Zivilgesellschaft, die Politik und Medien mahnen, zu einer rücksichts-volleren Sprache zurückzukehren. Es sind sehr unterschiedliche Leute, die dem Ausdruck "Herdprämie" Einhalt gebieten wollen.

Der Erste ist Karl Kardinal Lehmann. Der liberale Bischof von Mainz ist als hoch angesehener Vorsitzender der Bischofskonferenz quasi der ranghöchste von 24 Millionen deutschen Katholiken. Er nutzt nicht die Kanzel, sondern geht im Sommer 2007 in die Medien. Leh-mann predigt nicht Kulturkampf, sondern Versöhnung. Als sein Amtsbruder Walter Mixa wenige Monate zuvor klagt, die einseitige Propagierung von Kitas reduziere Frauen zu "Ge-bärmaschinen", weist Lehmann noch darauf hin, dass zwei Drittel aller Kindergärten in Deutschland von den christlichen Kirchen getragen werden. Auch jetzt lobt der Bischof, dass "die Einsicht gereift" sei, mehr Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren bereitzustellen, und spricht die Tatsache, dass "Millionen von Eltern" sich selbst um ihre Kinder kümmern, wie eine andere Seite der gleichen Medaille an. Doch Lehmann wird auch deutlich: "Nun ist in der Diskussion ein unglücklicher Begriff aufgetaucht, der dazu geeignet ist, die gefundene Annäherung wieder zu zerschlagen. Man hat dafür nämlich das Wort 'Herdprämie' benutzt." Lehmann nennt das Wort "herabwürdigend", "verächtlich", "rücksichtslos" und "intolerant". Schließlich fordert er die Politik direkt auf: "Auf alle Fälle sollte man das Kampfwort 'Herd-prämie' vermeiden. Die Pause während des Sommers sollte unbedingt genutzt werden, dieses destruktive Wort zu begraben."

Es kommt nicht oft vor, dass sich die Kirche so deutlich in die politische Debatte einmischt. Die Begründung lieferte Lehmann gleich mit: "Es gehört zu den Aufgaben der Kirche, solche Unwörter, die friedensstörend sind, zu entlarven."

Der Bischof gibt einen Ton vor, den ein halbes Jahr später vier Wissenschaftler und zwei sehr prominente Journalisten anschlagen, die überhaupt nicht aus der kirchlichen Ecke kommen: die Jury, die "Herdprämie" zum "Unwort des Jahres 2007" wählt. Die Wahl liegt nahe - und doch kommt sie für viele völlig überraschend. Denn die Jury steht eigentlich im Verdacht, eine linke Sprachkritik zu betreiben. Hinzu kommt, dass ausgerechnet die Entscheidung für die "Herdprämie" als Unwort unter Beteiligung von zwei Ikonen der linksliberalen und linken Publizistik fällt. Hans Leyendecker, der Chef-Rechercheur der "Süddeutschen Zeitung", und Sonia Mikich, die für den Westdeutschen Rundfunk das kritische Fernsehmagazin "Monitor" moderiert, wurden in diesem Jahr als Personen des öffentlichen Lebens in die Jury kooptiert. "Die beiden sind nicht überstimmt worden. Wir waren uns damals alle einig, dass das Wort 'Herdprämie' eine Diskriminierung bedeutet", erinnert sich der Jury-Vorsitzender Horst-Dieter Schlosser.

Der medial viel beachteten Unwort-Aktion ist über die Jahre eine echte Schiedsrichterfunkti-on für den politischen Diskurs zugewachsen. So gab es etwa 1993, nachdem "ethnische Säu-berungen" Unwort geworden war, in öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten per Aushang veröffentliche Dienstanweisungen, den im Bosnien-Krieg aufgekommenen Begriff nicht mehr zu verwenden. Managern von großen Konzernen wurde nach 2004 von den PR-Abteilungen nahegelegt, zumindest öffentlich nicht mehr von "Humankapital" zu sprechen. Selbst Bun-deskanzlerin Angela Merkel änderte ihre Rhetorik, nachdem der von ihr in der Euro-Krise ständig benutzte Begriff "alternativlos" 2010 Unwort geworden war.

Noch kein Begriff hat es überlebt, "Unwort des Jahres" zu werden. Und tatsächlich tritt mit der Jury-Entscheidung im Jahr 2008 auch ein kurzer Moment der Besinnung ein. Intellektuel-le, wie der Präsident der Schriftstellervereinigung PEN, Johano Strasser, die bisher geschwie-gen haben, geben nun auf Anfrage zu, "Herdprämie" sei ein "ziemlich doofes Wort und wahr-scheinlich böse gemeint", allerdings gebe es Schlimmeres auf der Welt. Behalten will die "Herdprämie" nur das "Sprecherinnengremium der Bundesarbeitsgemeinschaft kommunaler Frauenbüros", das in einer giftigen Pressemitteilung schreibt, dass "die Wirtschaft angesichts der demografischen Entwicklung nur mit mehr weiblichen Fachkräften wettbewerbsfähig" sei, und auf der "Gewissheit" besteht, "dass die traditionelle Frauenrolle und das Ernährermodell der Vergangenheit angehören". Linke Sprachkritiker wie Detlef Gürtler wenden ein, es würden mit der Herdprämie gar nicht Mütter, sondern nur die CSU attackiert. Doch sonst bleibt bei der "Herdprämie" nur, wer wie der Autor Wiglaf Droste nicht nur die Jury kritisiert, sondern gleich jede familienpolitische Leistung verwirft: "Wer die Tatsache verschweigt, dass der Staat Bock- und Zuchtprämien zahlt, drischt auf das Wort ein, das diese Tatsache dingfest macht. Herdprämie ist sicher nicht das schönste deutsche Hauptwort, aber immerhin lügt es nicht." Die "Herdprämie" scheint jetzt dahin verbannt, wo sie hingehört: zu den Radikalen am Rand des Diskurses.

Da hätte es bleiben können, auch wenn es nach vielen Kritikern des Betreuungsgeldes gegan-gen wäre, die sich mit der Polemik gegen die "Herdprämie" schon lange nicht mehr wohlfüh-len. Die SPD-Politikerin Kerstin Griese etwa, damals Vorsitzende des Familienausschusses des Bundestages, bekennt nun öffentlich, sie selbst gebrauche das Wort "Herdprämie" nie, denn es sei "eine irreführende Verniedlichung des Betreuungsgeld-Problems". Tatsächlich gibt es damals innerhalb der SPD-Fraktion schon lange heftige Auseinandersetzung um diesen Begriff. Vor allem die ehemalige Familienministerin Renate Schmidt warnt immer wieder davor, Eltern auf diese Weise zu diffamieren.

Ihre Position teilen viele Fachpolitikerinnen. Seit Jahren nutzt die Arbeitsgemeinschaft "Fa-milie" in der SPD-Fraktion den Begriff "Herdprämie" deshalb nicht mehr. Die Bedenkenträ-gerinnen - es handelte sich fast ausschließlich um Frauen - können sich allerdings nicht durchsetzen. Denn die führenden SPD-Männer wollen unbedingt die "Lufthoheit über den Kinderbetten" zurück, die SPD-Generalsekretär Olaf Scholz einmal gefordert hat. Diese "Lufthoheit" hat jetzt Ursula von der Leyen, die mit Kita-Ausbau und Elterngeld umsetzt, was die SPD jahrelang vergeblich gefordert hat. Den Sozialdemokraten bleibt wenig mehr als die Polemik gegen die "Herdprämie". Zwar hat die SPD das Betreuungsgeld in der Großen Koalition schon einmal mitbeschlossen, aber auf solche Details wird so wenig Rücksicht genommen, wie auf das "Unwort des Jahres". Die "Herdprämie" funktioniert im politischen Kampf und deshalb bleibt sie auch im Vokabular der SPD-Matadoren wie dem Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel. Seine für Familienpolitik zuständige Stellvertreterin Manuela Schwesig versucht den Konflikt zwischen Wirkung und Anstand auf eine ganz eigene Weise zu lösen. Sie entwickelt extra den ähnlich klingenden Begriff "Fernhalteprämie", der skandalisieren soll, dass Eltern vom Staat belohnt werden, deren Kinder keine Krippe besuchen.

Bei den Grünen verläuft die Debatte anders. Hier ist es ein Mann, der sich öffentlich gegen den Begriff "Herdprämie" erklärt. Der Parteivorsitzende Cem Özdemir polemisierte einst wie viele Grüne gegen die "Schnapsidee Herdprämie", doch 2012 schwört er öffentlich ab: "Den Begriff 'Herdprämie' nutze ich nicht mehr", sagt er in einem Interview und erklärt: "Der Staat hat nicht zu entscheiden, wie die Leute ihr Familienleben organisieren." Özdemir, der selbst-verständlich ein Kritiker des Betreuungsgeldes ist, macht sein Damaskus-Erlebnis nicht öf-fentlich. Innerhalb seiner Partei erzählt man es sich aber so: Özdemir ist Ende 2009 Vater geworden und verbrachte sogar einige Wochen mit seinem Sohn zu Hause. Als er zurückkehr-te, hatte er in dieser Frage Beißhemmungen entwickelt.

Von denen sind seine Kollegen in der grünen Spitze allerdings völlig frei: Ob Fraktionschef Jürgen Trittin, Parteichefin Claudia Roth oder der parlamentarische Geschäftsführer im Bun-destag, Volker Beck - alle nutzen den Begriff "Herdprämie" bis heute und nehmen die damit verbundene Kränkung von Eltern billigend in Kauf. Dabei sind auch bei den Grünen gerade die Fachpolitikerinnen skeptisch, ob die mit der "Herdprämie" errungenen rhetorischen Ge-ländegewinne nicht zu viele Kollateralschäden kosten. "Wir kommen im Kampf um Teilha-begerechtigkeit für alle Kinder doch nicht weiter, wenn wir ihn ständig mit Diffamierungen führen", sagt eine Abgeordnete, die lieber nicht genannt werden will. Doch vor allem Renate Künast, die als Fraktionsvorsitzende und zeitweise Kandidatin für das Amt des Regierenden Bürgermeisters in Berlin in hartem politischem Wettbewerb steht, will sich die "Herdprämie" nicht nehmen lassen.

Im Frühjahr 2012 kommt es darüber zum Streit. Die Fraktionsführung möchte den Kampf gegen die "Herdprämie" jetzt auch "visualisieren" und erteilt einen Auftrag an die Berliner Werbeagentur "we do". Das Unternehmen, das neben Amnesty International auch für den Atomkonzern EnBW, den Fußballverband Fifa und den Software-Giganten Microsoft arbei-tet, beschreibt seine Methode der "aktivierenden Kommunikation" so: "Damit meinen wir das kluge Uminterpretieren und Verletzen gelernter Regeln zur Gewinnung von Aufmerksamkeit."

Für die grüne Kampagne gegen die "Herdprämie" sieht die Idee der kreativen Regelverletzer so aus: Gezeigt wird eine Gruppe von spielenden Kindern, aus der sich eines löst, das dann allein vor einem Fernseher sitzt. Die grüne Fraktionsspitze nickt diesen Entwurf ab, ohne ihn den eigenen Fachpolitikerinnen zu zeigen. Die sind später entsetzt. Denn neben der platten Bedienung des Vorurteils, Mütter würden ihre Kinder nur vor die Glotze setzen, geht die Kri-tik offensichtlich fehl: Die dargestellten Kinder sind unschwer als älter als drei Jahre zu er-kennen, ihre Eltern kämen als Empfänger des Betreuungsgeldes also schon lange nicht mehr infrage. Es kommt zum Krach, die Bedenken werden auch fraktionsöffentlich geäußert. Doch am Ende setzen sich die Hardliner und die Fraktionsführung durch: Der offensichtlich die Fakten falsch darstellende Entwurf wird als Anzeige in Zeitungen geschaltet und im Internet verbreitet. Insgesamt gibt die grüne Fraktion 64.000 Euro aus für diese Kampagne, die aus mehreren Gründen bemerkenswert ist. Nicht nur erscheinen alle Anzeigen - untypisch - an nur einem einzigen Tag, dem 6. Juni 2012. Interessant ist der Empfängerkreis. Mit der großen "Süddeutschen Zeitung", der kleinen "tageszeitung", dem lokal erscheinenden "Tagesspiegel", der bundesweiten "Frankfurter Rundschau" und dem Internetportal "Spiegel Online" werden Medien bedacht, die aus der Perspektive eines Anzeigenkunden wenig gemeinsam haben. Außer einem: Sie haben alle sehr kritisch über das Betreuungsgeld berichtet und teilweise polemisiert - und werden von den Grünen jetzt mit einer ganz eigenen "Herdprämie" belohnt.Dies ist nur das krasseste Beispiel: Die Kritik am Betreuungsgeld ist längst zur politischen Kampagne geworden und schlägt im Frühjahr 2012 gar in eine Hexenjagd um. Familienmi-nisterin Kristina Schröder hat zwar mehrfach durchblicken lassen, dass sie selbst nicht auf den Gedanken eines Betreuungsgeldes gekommen wäre. Aus Kabinettsdisziplin muss die für ihr Amt mit 35 Jahren ungewöhnlich junge CDU-Politikerin es aber jetzt umsetzen. Schröder bemüht sich, das Betreuungsgeld so auszugestalten, dass es auch arbeitenden Müttern gezahlt werden kann. Doch ihre Kritiker ficht das nicht an. Im April 2012 gerät die Vorstellung eines Buches von ihr zum öffentlichen Tribunal. Die Ministerin wird niedergeschrien und ausge-lacht, mehrmals kommen Aktivisten auf die Bühne, um sie mit symbolischen Gesten, wie dem Angebot von Kaviar, zu demütigen. Ein Fernsehteam der ARD-Satiresendung "Extra 3" ist mit einem ganzen Chor gekommen, der plötzlich aufsteht und auf Anweisung des Moderators die Lesung mit einem Lied unterbricht: "Unsere Kinder erzieh'n wir von daheim, vielen Dank! In eine Kita kommt mein Kind nicht rein, vielen Dank! Und dass man dafür 100 Euro kriegen kann, ist einfach super, Frau Schröder, vielen Dank!" Diesen Text singen sie zur Melodie des 50er-Jahre-Schlagers: "Das bisschen Haushalt macht sich von allein". Da ist sie wieder: die Hausfrau und Mutter, um deren Kränkung es bei der "Herdprämie" in Wirklichkeit geht.

Bei diesen Szenen schwenkt die Kamera des öffentlich-rechtlichen Senders auf Kristina Schröder und zoomt auf ihr Gesicht. Erkennbar hofften die Fernsehleute, dass ihre Inszenie-rung die junge Frau zum Weinen bringt. Doch die kämpft und schafft schließlich sogar ein schmales Lächeln. Da legen die Fernsehleute nach: Der Moderator kommt nun nach vorn und überreicht eine goldene Schürze. Unter dem Gejohle des Saales sagt er: "Auf dass die Frauen endlich wegen Ihnen wieder wissen, wo sie hingehören: an den Herd." Über die öffentliche Demütigung der Kristina Schröder wird sofort im Netz und am nächsten Tag in den Zeitungen berichtet - meist hämisch, manchmal regelrecht feixend. Die ARD sendet den Schauprozess, den sie selbst mitorganisiert hat, in einem vierminütigen Beitrag - ohne darin Kristina Schröder selbst zu Wort kommen zu lassen.

Erkennbar geht es um die öffentliche Demütigung einer Frau, der unterstellt wird, ein veralte-tes Rollenbild zu vertreten. Niemand interessiert, dass Schröder nach einer ungewöhnlich steilen politischen Karriere erst Mutter wurde, als sie schon Ministerin war, und nach der Ge-burt keinen Tag länger als gesetzlich vorgeschrieben im Büro fehlte.

Mit der "Herdprämie" kann man also eine Politikerin fertigmachen. Aber auch eine ganze Koalition? Kann eine Regierung über so etwas Läppisches stürzen wie das Betreuungsgeld? Selbst das scheint möglich, als die nach 2009 regierende schwarz-gelbe Koalition mit zahllo-sen gescheiterten Anläufen, das Betreuungsgeld in diversen strittigen Ausgestaltungen einzu-führen, wieder und wieder Angriffsfläche für dessen Gegner bietet. Die gibt es längst nicht mehr nur bei Rot-Grün: Die bis dahin nicht übermäßig öffentlich aufgefallene "Gruppe der Frauen" in der Unionsfraktion wird zur Opposition in der Koalition.

In einem Brief an den Fraktionsvorsitzenden erklären 23 Abgeordnete öffentlich, dass sie dem Betreuungsgeld "in der vorliegenden Form" nicht zustimmen können. Die Vorsitzende der Frauengruppe, Rita Pawelski, erklärt das Betreuungsgeld sogar zur "Gewissensfrage". Damit stellt sie die Entscheidung über 100 Euro für Mütter auf eine Ebene mit Entscheidungen über Krieg und Frieden. Zum Vergleich: Auch für die zum gleichen Zeitpunkt im Parlament verhandelten dreistelligen Milliardengarantien der Euro-Rettungsschirme wird der Fraktionszwang in der Union nicht aufgehoben.

Als der Fraktionsvorsitzende Volker Kauder in einer Fraktionssitzung beim Betreuungsgeld einen Wutanfall bekommt und an das "christliche Menschenbild" erinnert, in dem auch die Familie vorkomme, bricht die Vorsitzende der Frauengruppe ihrerseits in Tränen aus. Ein eigenes Versöhnungstreffen zwischen dem Vorsitzenden und der Frauengruppe muss absol-viert werden. Bevor die "Herdprämie" endgültig zur Machtfrage zu werden droht, muss die Kanzlerin eingreifen. Angela Merkel tut das, spricht mit den Frauen - und kauft sie dann. Die Frauen hatten nämlich noch am Vorabend des CDU-Parteitag im Dezember 2011 hinter den Kulissen gedroht, am nächsten Tag ein öffentliches Votum gegen das Betreuungsgeld herbei-zuführen. Wortführerin war die Ministerpräsidentin des Saarlandes, Annegret Kramp-Karrenbauer, also die Politikerin, die sich vom "Heimchen am Herd" abgrenzen will. Merkel und Kramp-Karrenbauer einigten sich - schon in Leipzig - dann auf ein Geschäft. Die Kanzle-rin und Parteivorsitzende erfüllte für das Betreuungsgeld einen anderen Wunsch: Frauen, die vor dem Jahr 1992 Kinder bekommen haben, sollen dafür künftig zusätzliche Rentenpunkte angerechnet bekommen. Kosten für den Steuerzahler: langfristig ein zweistelliger Milliarden-betrag, also ein Vielfaches der Kosten für das Betreuungsgeld.

Den Deal verhindert am Ende die FDP, denn sie will lieber selbst für die "Herdprämie" kas-sieren - und zwar doppelt und dreifach. Die Liberalen hatten dem Betreuungsgeld schon im Koalitionsvertrag 2009 zugestimmt, dann noch einmal bei einem Koalitionsausschuss im No-vember 2011. Im Gegenzug werden ihnen Steuersenkungen und ein liberales Zuwanderungs-recht zugestanden. Aber die "Herdprämie" unterliegt längst nicht mehr den normalen politi-schen Gesetzen. Der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer droht gar, in Berlin an keinem Spitzen-treffen der Koalition mehr teilzunehmen, bis das Betreuungsgeld eingeführt ist. Die Kampag-ne dagegen hat längst die bürgerlichen Parteien erreicht: "Ich sehe mit Interesse, dass bei der Herdprämie bei der CDU der Ofen längst aus ist, die CSU steht in der kalten Küche", unkt Fraktionschef Rainer Brüderle hämisch.

Das nicht enden wollende politische Fingerhakeln um das Betreuungsgeld befeuert die Pole-mik gegen die "Herdprämie". Keine Kritik ist zu infam, als dass man ihr nicht entgegenkom-men kann: Gutscheine soll es geben statt Geld, will die FDP. Als das Gesetz im Juni endlich vom Kabinett beschlossen wird, demonstrieren die Jugendorganisationen von SPD, Grünen und dem Deutschen Gewerkschaftsbund vor dem Kanzleramt im Dirndl, schwenken Bügelei-sen, Puppen und Kochtöpfe.

Einige Medien verlassen ihre Beobachterrolle jetzt offen. Unter der Überschrift "Frauen gegen das Betreuungsgeld: Stoppt den Herdprämien-Unsinn!" präsentiert "Spiegel Online" eine Sammlung von Schauspielerinnen, TV-Moderatorinnen und anderen Prominenten, die sich in kurzen Statements dagegen aussprechen. Dazu werden die Fotos der Frauen in einer Optik gezeigt, die an den legendären "Stern"-Titel mit dem Slogan: "Wir haben abgetrieben!" aus dem Jahr 1971 erinnern.

Trotzdem ist die Konjunktur des Hasswortes auch ein Phänomen der digitalen Medien: Emo-tional aufgeladene Begriffe werden im Netz oft häufiger geklickt als die sachlichere Alterna-tive. Das "Designer-Baby" schlägt die "Präimplantationsdiagnostik" und die "Mövenpick-Steuer" verdrängt die "Reduzierung der Mehrwertsteuer für Hotels". Aber nur bei der "Herd-prämie" wird die journalistische Verantwortung so komplett suspendiert. Zuletzt wird selbst der britische Sadomaso-Bestseller "Shades of Grey" auf "Spiegel Online" so rezensiert: "Das schockiert: Die Erkenntnis, dass Millionen von Frauen offenbar die Fantasie gefällt, von ei-nem Mann unterworfen zu werden, komplett umsorgt zu sein und alle Entscheidungen abge-nommen zu bekommen. Vom Auto, das sie fahren dürfen, über die Kleidung, die sie tragen dürfen, bis zur Frage, wann sie auf die Toilette gehen dürfen. Nicht alle Leserinnen sind in-sgeheim devote Hausweibchen. Aber allein das vermittelte, absolut vorgestrige Rollenbild erschüttert. Da passt dann auch die 'Herdprämie' ins Bild."

Sadomasochismus gibt es im Bundestag so offen nicht - aber die Abgeordneten hören nicht auf, sich mit der "Herdprämie" zu quälen. "Hitziger Schlagabtausch zum Betreuungsgeld" fasst die zu strikter Neutralität und sachlichster Sprache verpflichtete Website des Bundesta-ges im Juni eine Debatte zusammen. "Scharfen Disput um Kita-Ausbau statt Betreuungsgeld", "Betreuungsgeld spaltet den Bundestag" im November des Vorjahres.

Es ist seltsam: Das Parlament, das in nie da gewesener Eintracht mit überwältigenden Mehr-heiten Atomausstieg und Energiewende sowie Hunderte Milliarden Staatsgarantien für den Euro-Rettungsschirm beschloss, verkämpft sich ausgerechnet bei einer kleinen Leistung, die es, falls sie sich nicht bewährt, doch jederzeit problemlos abschaffen kann. Ist der ideologi-sche Furor bei der Familienpolitik vielleicht sogar eine Kompensation für die Ohnmachtser-fahrungen in einer Legislaturperiode, in der das Parlament den vermeintlichen Sachzwängen der Finanzmärkte ebenso wehrlos ausgesetzt war wie den Beschlüssen von Präsidenten und Kanzlerinnen auf Brüsseler Nachtsitzungen?

Am 15. Juli 2012 jedenfalls entgleist auch der parlamentarische Streit endgültig: Die "Herd-prämie" sprengt den Bundestag. An diesem Freitag erzwingen die Oppositionsparteien mit Tricks einen "Hammelsprung". Bei diesem Verfahren verlassen die Abgeordneten das Parla-ment und werden dabei gezählt, wie sie durch bestimmte Türen zurückkehren. Aber sie kehren nicht zurück. Die Parlamentarier von SPD, Grünen und Linkspartei stehen feixend vor dem Plenarsaal. Beschlussunfähigkeit wird hergestellt. Die Sitzung findet nicht statt. Um nicht das Betreuungsgeld in erster Lesung beschließen zu müssen, verzichten die Abgeordneten auch auf eine Aktuelle Stunde zur "Korruption im Gesundheitssystem" und zur Debatte über die Euro-Krise, die an diesem Wochenende mit einer Wahl in Griechenland einen Wendepunkt erlebt. Um ein Zeichen gegen die "Herdprämie" zu setzen, stellte sich der Bundestag tot. Der Streit geht in ein weiteres, quälendes halbes Jahr. Danach kommt es, wie es kommen musste. Nachdem CDU und CSU noch einmal intern über das Betreuungsgeld gestritten haben, legt sich die FDP quer und versagt die bereits zugesagte Zustimmung: Die "Herdprämie" hat eine ganze Koalition handlungsunfähig gemacht. Angela Merkel muss noch einmal zahlen: Diesmal kauft sie das Betreuungsgeld der FDP mit der Abschaffung der Praxisgebühr ab. Immerhin hält die Vereinbarung jetzt. An diesem Freitag wird das Betreuungsgeld im Bundestag verabschiedet. In der Debatte spricht der SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück persönlich: Es sei eine "Katastrophe" und seine Einführung schwachsinnig, denn es führe zurück in eine "Biedermeier-Idylle mit dem Bild vom Vater am Arbeitsplatz und der Mutter daheim am Herd". Der Vize-Kanzlerkandidat der Grünen, Jürgen Trittin, spricht auch in dieser Debatte wieder von der "Herdprämie".

Dennoch wird das Betreuungsgeld jetzt, sieben Jahre nachdem es vereinbart wurde, Gesetz und tritt im kommenden August in Kraft. Seine Geschichte könnte also zu Ende sein. Aber wird auch die Polemik gegen "Heimchen am Herd", gegen "Hausfrauen und Mütter" und ge-gen "goldene Schürzen" enden? Wohl kaum. SPD und Grüne haben schon angekündigt, nach einem Wahlsieg "als Erstes" das Betreuungsgeld wieder abzuschaffen. Der Bundestagswahl-kampf beginnt in wenigen Monaten. Er wird diesmal auch gegen die "Herdprämie" geführt werden.