Allein gegen die AfD

Von Roman Deininger

Kann man die Populisten stoppen, ohne selbst populistisch zu werden? Unterwegs mit dem sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer im Wahlkampf seines Lebens.

Michael Kretschmer im Wahlkampf in Sachsen
Süddeutsche Zeitung GmbH

An einem Nachmittag im Juli hat der sächsische Landtagswahlkampf im Gewerbegebiet Berbersdorf seinen Höhepunkt erreicht. Alarmierend offen ist, ob es auch der Kipppunkt sein wird.

  Fünf Männer in Anzügen, darunter der Ministerpräsident des Freistaats Sachsen, stehen in einem sehr kleinen Kasten, den ein sehr kleiner Gabelstapler in etwa zehn Meter Höhe gehoben hat. Ziel der Wackelpartie sind Fotos vor einem riesigen Plakat, das für das nahe Chemnitz als Europäische Kulturhauptstadt 2025 wirbt, ein bisschen aber auch für die Supermarktkette, die hier ein Logistikzentrum betreibt.

  Die fünf Männer stehen nun also da oben, und unten sagt ein Herr, der im Hebebühnen-Geschäft nicht völlig unbeleckt zu sein scheint: „Ich glaube, zugelassen sind nur drei.“ Ach, sagt ein anderer: „Runter kommen sie immer.“ Oben reckt Michael Kretschmer für die Fotografen beide Daumen in die Luft. Als der Kasten wenig später zur Erde zurückkehrt, schaut niemand erleichterter aus als Kretschmers Personenschützer.

  Der Ministerpräsident hat wieder festen Boden unter den Füßen. Und trotzdem lässt sich keine Entwarnung geben für die CDU und ihren Spitzenkandidaten: Die Gefahr eines Absturzes ist nicht gebannt. CDU 30 Prozent, AfD 34: Das ist die Umfragelage, als man sich Anfang Juni an Kretschmers Fersen heftet. In diesem Rennen ist der Amtsinhaber nur der Verfolger.

  Offiziell beirrt ihn das wenig. Kretschmer gibt sich unerschütterlich überzeugt, dass die CDU vor der AfD liegen wird, wenn am 1. September um 18 Uhr die erste Prognose über die Bildschirme flimmert. Wenn man seine Leute fragt, woher diese Zuversicht kommt, dann geben sie eine sehr nachvollziehbare, sehr bewundernswerte, aber auch ein wenig verstörende Antwort: Wären seine Chancen denn besser, wenn er nicht optimistisch wäre?

  Die Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg würden nicht nur in ganz Deutschland beobachtet, hat der CDU-Bundesvorsitzende Friedrich Merz kürzlich gesagt, sondern in ganz Europa. Der deutsche Osten ist in diesen Hundstagen des Sommers die Hauptbühne für die zentrale Auseinandersetzung unserer Tage, für den Verteidigungskampf einer schrumpfenden politischen Mitte gegen rapide erstarkende Ränder.

  Und nirgends spitzt sich die Konstellation so zu wie in Sachsen, dem größten und wirtschaftsstärksten Bundesland im Osten. Nach der Wahl könnte es zum Drei-Parteien-Land werden. Nur die AfD, die CDU und das blutjunge Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) können sicher mit ihrem Einzug in den Landtag rechnen. Grüne und SPD, Kretschmers aktuelle Partner in der Kenia-Koalition, müssen zittern, ob ihnen der Sprung über die Fünf-Prozent-Marke gelingt. Die Linke kann darauf bloß hoffen; die FDP höchstens träumen.

  Nur drei Parteien im Landtag, das würde die Parlamentsarithmetik grundlegend ändern: 40 Prozent der Wählerstimmen könnten dann bereits für eine absolute Mehrheit der Mandate reichen. Die AfD, die der Verfassungsschutz in Sachsen als „gesichert rechtsextrem“ einstuft, hatte noch nie so einen kurzen Weg zur Macht wie nun in Dresden.

  Aber, ohne den anderen wackeren Wahlkämpfern zu nahe zu treten: Das ist ja noch Michael Kretschmer. Der Mann, der die CDU bei der Landtagswahl 2019 schon einmal auf seinen wirklich schmalen Schultern knapp vor der AfD über die Ziellinie trug. Es setze ihm zu, sagen Wegbegleiter, dass er nun wieder kämpfen muss. Wieder bangen. Aber so seien die Zeiten.

  Zwischen Sachsen und der AfD steht ein erstaunlich zartgliedriges Ein-Mann-Bollwerk – es ist eine Rolle, in die Michael Kretschmer, 49, ein Stück weit geraten ist, in der er sich aber auch gefällt. Eine Rolle, die Ehre ist und Bürde. Und Versuchung. „Allein gegen die AfD“, sagt jemand aus seinem Kabinett. „Wer kann so eine Personalisierung wollen? So eine Verantwortung?“

  Reichenbach in der Oberlausitz, Mitte Juni, keine zwanzig Autominuten entfernt von Kretschmers Heimatstadt Görlitz und der polnischen Grenze. Ein Landstrich im langen Abschied von der Braunkohle, im Umbruch, aber Umbruch wohin? Wenn da alle eine Antwort wüssten, hätte die AfD in Reichenbach bei der Europawahl zwei Wochen zuvor wohl nicht 43,4 Prozent geholt. In ganz Sachsen waren es 31,8 Prozent. Die CDU: zehn Prozentpunkte dahinter.

  Kretschmer, ein gläubiger Mensch, evangelisch, lauscht in der bis zum letzten Platz gefüllten Johanniskirche Bischof Christian Stäblein, der auf der goldenen Kanzel über die neuen Glocken in diesem alten Gemäuer spricht, aber auch über ein Land, das wachsam sein muss. Stäblein zitiert „Bruder Jakob“, und so ernst, wie er das tut, klingt es gar nicht nach Kinderlied. „Brüder, Schwestern“, sagt der Bischof. „Schlaft ihr noch? Schlaft ihr noch? Hört ihr nicht die Glocken?“

  38 Jahre hat das Ringen um die Sanierung der Kirche gedauert, noch in der DDR haben sie mit der Klingelbüchse gesammelt. Und jetzt ist es vollbracht. Da leuchtet Michael Kretschmer, als hätte jemand in ihm eine leistungsstarke Glühlampe angeknipst. „Das macht mich glücklich und das macht mir sehr viel Mut“, sagt er, er steht jetzt mit dem Mikro vor der Gemeinde. Gerade „in einer Zeit, in der der Ton immer rauer und die Worte immer böser werden“.

  Die Bedrohung durch die radikale Rechte treibt meist namenlos durch Kretschmers Reden, wie dunkle Wolken. Er hält einen Augenblick inne und sagt: „Manchmal frage ich mich, wenn ich auf unser Land schaue: Sind wir schon in der Minderheit?“ Wir, das sind für Kretschmer Menschen, „die das Gute suchen, das Verbindende, die den Versuch unternehmen, miteinander auszukommen“. Und die anderen? „Meinen es nicht gut mit unserem Land.“ Er stelle sich noch mehr Fragen: „Wenn sich das so fortsetzt, wo führt das hin? Sind dann solche Dinge, wie wir sie hier erlebt haben, noch möglich?“

  Am Ende klatschen die Leute eine Minute lang, ganz so, als sähen sie, dass es hier um mehr geht als um eine sanierte Kirche. Dann strömen sie hinaus in die Sonne des Pfarrgartens. Die Kinder zur Hüpfburg, die Älteren zum Kesselgulasch, der Ministerpräsident zu seiner Limousine. Die Glocken von Sankt Johannis läuten, laut und klar, und Michael Kretschmer eilt weiter im Wahlkampf seines Lebens.

  Gut, streng genommen ist es bereits der zweite Wahlkampf seines Lebens. 2019 wurde er parteiübergreifend als Bürgerflüsterer und Zuhör-Titan gepriesen, weil er die Politik auf ihren Kern zurückführte: Er ging raus und redete mit den Menschen. Seitdem gilt er als der Mann, der vormacht, wie man das zerrüttete Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten in Deutschland womöglich reparieren kann.

  Das ist die große Frage dieses sächsischen Sommers: Kann sich die Demokratie im Jahr 2024 noch mit ihren angestaubten Bordmitteln retten? Kretschmer glaubt: „Nichts, gar nichts ersetzt die persönlichen Begegnungen mit Menschen.“ Nur so könne man die Zerrbilder aus dem Internet „aufbrechen“.

  Kann man das? Im Januar 2021 tauchten Corona-Skeptiker vor Kretschmers Wochenendhaus im Zittauer Gebirge auf, auf dem Schild einer Frau stand: „Wer Völkermord betreibt, hat das eigene Lebensrecht verwirkt!“ Kretschmer schaufelte gerade Schnee, er bemühte sich um ein Gespräch, vergeblich. Im Dezember 2021 gab es in einer Telegram-Gruppe Morddrohungen gegen den Ministerpräsidenten. Im Oktober 2023 zog ein rechtsradikaler Mob in Hörweite seiner Dresdener Wohnung auf. Und im Wahlkampf 2024 werden Kretschmers Auftritte vielerorts von den neonazistischen „Freien Sachsen“ gestört.

  Einmal in diesen drei Monaten mit Michael Kretschmer kommt man in Rötha bei Leipzig am Volkshaus vorbei, auf dem ein Karl-Liebknecht-Zitat von 1919 prangt. Vielleicht hat es ein guter Geist extra für Kretschmer hingepinselt: „Trotz alledem“.

  Er sagt selbst, dass die Bedingungen widriger sind als noch 2019. Es gebe heute spürbar mehr Menschen, „die sich von der Demokratie verabschiedet haben“. Ein paar Zahlen aus dem „Sachsen-Monitor“ des MDR von Januar: 40 Prozent der Befragten denken, dass „die regierenden Parteien das Volk betrügen“. 33 Prozent finden, dass „unser Land mehr einer Diktatur gleicht“.

  Frage an Michael Kretschmer auf der Rückbank seines Wahlkampf-Kombis: Was würde es für Sachsen bedeuten, wenn die AfD die größte Fraktion im Landtag wird? Er könnte jetzt ausführen, dass diese dann einen Landtagspräsidenten nominieren dürfte. Oder dass ohne sie kein Verfassungsrichter mehr gewählt würde. Stattdessen meißelt er nur zwei kurze Sätze hin: „Das darf nicht passieren. Man darf Rechtsextremisten keine Macht geben.“

  Also regiert er Sachsen jetzt wieder aus dem Auto heraus, drei, vier, fünf Auswärtstermine am Tag, manchmal eine Stunde Fahrt für drei Minuten Grußwort. Und das drei, vier, fünf Mal in der Woche, da schlackert selbst Söder mit den Frankenohren. Nichts hält ihn auf, allenfalls ein Reh im Vogtland, Auffahrunfall nach Ausweichmanöver, das Tier ist laut Polizei „flüchtig“. In der Sitztasche vor ihm haben seine Mitarbeiter Gummibärchen für ihn platziert. Außer den Bären isst er wenig, hier mal ein Häppchen, dort mal die unvermeidliche Bratwurst. Was er sich gönnt, ist mal ein Bier, eine Zigarette. Der dreisteste Kippen-Schnorrer von Sachsen sitzt in der Staatskanzlei. Aber auch das hat ja schon wieder mit Nähe zu tun.

  Kretschmer (langes erstes „eee“, was aber nicht mal seine Mitarbeiter durchhalten) ist ein Marathon-Mann, und was soll man sagen, so schaut er auch aus. Sein Acht-Tage-Bart ist unüblich unter Ministerpräsidenten, er ist häufig erschöpft in diesen drei Monaten und ein paarmal auch krank. Aber er sagt keinen einzigen Termin ab, er geht nicht mal früher.

  Bisweilen kann er seine Anspannung nicht verbergen, wippt auf den Zehenspitzen oder kreist die Daumen. Auch dünnhäutig kann er sein. Wenn Kretschmer während einer Journalistenfrage die Backen aufbläst – schnell in Deckung. Ein trauriger Mensch, wie manche behaupten, ist Kretschmer nicht. Trotzdem, wenn er an einer Straßenecke stehen bliebe, würde ihn eher früher als später irgendwer ganz fest in den Arm nehmen.

  Und dann kommt bei jedem Auftritt verlässlich die Sekunde, in dem Kretschmer wirkt, als würden ihm gerade intravenös drei Liter jenes Energydrinks verabreicht, der seinem Lieblingsfußballklub aus Leipzig den Namen gibt. In Steina bei Bautzen zum Beispiel, unter der Discokugel eines Festzelts an einem Sonntagmorgen im Juni. Ganz hinten tritt ein wutbebender Bürger vor seinen Stehtisch. Der Mann schimpft über den Atomausstieg, die Flüchtlinge und die Grünen. Er hat keine Frage, sondern eine Botschaft: Er wählt jetzt AfD.

  Kretschmer hat keine Antwort, sondern einen Ausbruch. AfD? „Wir wollen mit solchen Leuten nichts zu tun haben. Wir sind anständige Leute. Deswegen ist der Chrupalla nicht mehr bei uns. Deswegen ist der Krah nicht mehr bei uns.“ Klar, „nicht jedes AfD-Mitglied ist ein schlechter Mensch oder rechtsextrem“, auch den Umgang mit der AfD auf kommunaler Ebene sieht er pragmatisch. Aber: „Solchen Leuten darf man nicht das Kommando überlassen. Das haben wir alles in der Geschichte schon mal erlebt.“ Der Wutbürger ist nicht bekehrt. Aber ein wenig beeindruckt.

  Wo Michael Kretschmer auch hinkommt, überall errichtet er erst mal eine solide Brandmauer gegen die AfD. Das Problem ist nur: Wo er auch hinkommt, schauen sich beachtliche Teile des Publikums die schöne Mauer von der falschen Seite an. Was er sich allein in 45 Minuten Fragerunde in Steina noch alles anhören muss: die WHO als „Weltregierung“, der Ukraine-Krieg als „Kampf um Finanzen“, und überhaupt: „Hier laufen Sachen, von denen die meisten keine Ahnung haben.“

  Kretschmer hat den Ehrgeiz, in einem Ozean des Irrsinns eine winzige Insel des Konsenses zu finden, einen Flecken Boden nur, auf dem man gemeinsam zu stehen kommen kann. Er wolle, sagt Kretschmer, den Leuten einfach zeigen: „Auch wenn ich ihre Thesen nicht teile, respektiere ich sie als Menschen.“ Und jedes dieser Gespräche sende ja auch ein Signal an die, die zuhören: „Mit dem kann man reden.“

  Schluss mache er bloß, sagt Kretschmer, „wenn eigentlich der Staatsanwalt zuständig wäre“. Oder minimal früher, wie dieses eine Mal, als sich eine Dame im Blütenkleid als Oma für Rechts entpuppt und ihn minutenlang mit liebestollen Komplimenten für die Herren Höcke und Krah traktiert. „Lass gut sein“, sagt Kretschmer dann irgendwann, „guten Abend noch.“

  Die Erreichbaren erreichen, das ist Kretschmers Ziel. Blöd nur, dass die Erreichbaren immer weniger werden. Blöd besonders, wenn man sich wie Kretschmer für den Versuch entschieden hat, die Stimmen für den Wahlerfolg auch ganz wesentlich rechts der Mitte einzusammeln. In Steina stapft Kretschmer nach seinem Auftritt über eine Oldtimer-Schau auf der Wiese hinter dem Zelt. Als Jugendlicher in Görlitz hat er gern an Mopeds geschraubt, jetzt inspiziert er ein DKW-Motorrad: „Kriegen wir das mal an?“ Er darf Standgas geben, „klingt gut“, sagt er. Es dröhnt und raucht und stinkt auf der Wiese, und der Ministerpräsident ist beseelt von einem Moment, der für seine grünen Koalitionspartner der pure Horror wäre.

  Und hier wird die Heldengeschichte vom Demokratie-Bewahrer Kretschmer kompliziert. Wo er auch hinkommt, hat er nämlich eine zweite Brandmauer im Gepäck – gegen die Grünen. Das ist höchst kurios, mit denen regiert er ja. Aber wenn es nach ihm geht: nicht mehr lange. „Wir müssen die Grünen loswerden“, hat er im April gesagt. In Steina wettert er gegen die woken „Ideologen da in Berlin“, die mit „Planwirtschaft 2.0“ den Bürger zum Ruin durch Wärmepumpe verdammten.

  Unverantwortlich seien solche Worte, sagt ein führender sächsischer Grüner: „Wenn die Bedrohung von den Rändern kommt, dürfen die Parteien der Mitte nicht aufeinander einprügeln.“ Kretschmer könne die Leute offenbar nur noch einfangen, indem er ihnen sagt, was sie hören wollen. Und wenn es die Forderung ist, der Ukraine keine Waffen mehr zu liefern.

  Egal, ob Überzeugung dahintersteckt oder Opportunismus: Kretschmers Kampagne wandert entlang eines verflucht schmalen Grats. Kann man die Populisten stoppen, ohne selbst populistisch zu werden? Dämpft man den Ärger der Menschen, indem man ihn sich zu eigen macht? Anderswo ist das schon grandios schiefgegangen.

  Fest steht, dass Kretschmer ein Meister des ersten Wortes ist, Eleganz ausbaufähig, Erfolg sensationell. Kleine Werkschau: „Ja, wen haben wir denn hier?“ – „Hallo Bürgerin!“ – „Glückauf, Grillmeister!“ – „Wie heißt der Hund?“ – „Na, das ist ja eine originelle Frisur!“ Oder ganz herrlich, zu einem Herrn mit Plauze: „Ihr habt im Erzgebirge aber auch alle die gleiche Figur!“ Sehr oft fragt Kretschmer auch: „Wie ist die Lage?“ Er tut das auf das gewaltige Risiko hin, dass jemand „beschissen“ sagt oder: „Ich fress halt den Ärger in mich rein.“ Dann nimmt Kretschmer seine Horchposition ein, Kopf beinahe gymnastisch geneigt, Hände ineinander verschränkt: „Dann sag doch mal.“

  Was die Leute dann sagen, zumal bei Bürgersprechstunden, sind meist Dinge, für die eher der Bürgermeister oder Landrat zuständig sind: der Schulbus, der nicht fährt; der Supermarkt, der fehlt; die Kita, die zu früh schließt. Konkrete Abhilfe, das hat der MDR mal nachgezeichnet, folgt den Visiten des Ministerpräsidenten selten. Der Graben zwischen Stadt und Land ist in Sachsen noch breiter als anderswo, zu viele junge Menschen sind fortgezogen. 4,7 Millionen Einwohner hatte das Land 1990, nur etwas mehr als vier Millionen sind es heute. Und die, die geblieben sind, trotz alledem, sind oft empfänglich für Einflüsterer, die nicht Kretschmer heißen.

  Auf Tour mit Michael Kretschmer verengt sich die Welt, um sich schnell wieder zu weiten. Gerade geht es noch um den Schulbus, schon um das Überleben der Demokratie. Und immer geht es um Kretschmers Überzeugung, dass beides zusammenhängt.

  Kurze Debatte im Auto. Ist seine Kritik an den Grünen nicht doch zu scharf formuliert? Ein Gran vielleicht? „Die ist genau richtig“, sagt Kretschmer kühl. „Die Grünen haben in manchen Landkreisen ein, zwei Prozent“, logisch, sie kümmerten sich ja nur um die Menschen in der Stadt. Die Ampel in Berlin sei so schlecht, dass sie das Vertrauen ins System erschüttere. Die Leute zweifelten daran, dass der Staat noch willens und fähig sei, ihre Probleme zu lösen.

  Selbst wenn Kretschmer da recht haben sollte, ist seine Wiederwahl-Strategie etwas verwegen. Bei der Landtagswahl 2019 haben Wähler links der Mitte für ihn den Unterschied gemacht zwischen Sieg und Niederlage. Sie haben ihre Stimme der CDU gegeben, um die AfD zu verhindern. Auch jetzt appelliert Kretschmer wieder an deren Staatsräson – und tut zugleich ungeniert viel dafür, sie zu verprellen.

  In der sächsischen CDU haben sie das abgewogen, einen Tod musst du sterben. Die Grünen seien nun mal verhasst im ländlichen Raum, sagt ein Christdemokrat. „Wenn wir uns jetzt nicht von denen lösen, geht die AfD durch die Decke.“ Im Vergleich mit den Grünen, heißt es in der Partei, wäre sogar das BSW als Partner leicht vermittelbar. Wie das BSW sonst so als Partner wäre, darüber denken sie in der CDU lieber nicht zu viel nach.

  Der Juni zieht ins Land, es gibt eine neue Umfrage: CDU 29 Prozent, AfD 30. Was ist das, eine Aufholjagd? Auf keinen Fall ist es Nahrung für Kretschmers Hoffnung, die AfD klein machen zu können.

  Es läuft nicht schlecht für Kretschmer, aber auch nicht richtig gut. Hochstimmung stellt sich schwer ein, wenn viele der CDU-Abgeordneten, die er besucht, um ihr Mandat fürchten. Dann hält der Ministerpräsident auch noch eine Regierungserklärung, die besser ins Festzelt passen würde als in den Landtag. Kretschmer redet ohne Skript, er kann das. Aber er kann es offenbar nicht immer. Er übertreibt auch gern, das klingt dann, als hätte Habeck die Deindustrialisierung der Bundesrepublik bereits abgeschlossen. Fehler aus Übermut seien das, sagt ein Kretschmer-Deuter: „Er weiß, dass hier in Sachsen kein anderer sein Format hat.“

  Dabei war das gar nicht sein Plan, Ministerpräsident. Kretschmer stammt aus einer gutbürgerlichen Familie in Görlitz-Weinhübel, viel Grün hinterm Haus, dann Polen. Bevor er ein Diplom als Wirtschaftsingenieur erwarb, hat er Büroinformationselektroniker gelernt – ja, er könnte die Kopiergeräte in der Staatskanzlei selbst richten. Politische Karriere machte er rasant: Über die evangelische Kirchengemeinde in Görlitz kam er in die Junge Union, mit 19 in den Stadtrat, mit 27 in den Bundestag. Mit 29 wurde er Generalsekretär der sächsischen CDU. In Berlin machte er sich einen Namen als Wissenschaftspolitiker. Das war sein Plan: Forschungsminister.

  Bis er im Herbst 2017 sein Bundestagsmandat verlor, darüber wird noch zu reden sein. Keine drei Monate später war Michael Kretschmer Ministerpräsident, eine Wiederauferstehung, die das politische Dresden geradezu aus den Lederslippern warf. Es hatte sich alles wundersam gefügt für ihn, andere CDU-Aspiranten waren affärenverstrickt nicht vermittelbar.

  Bei Amtsantritt kannten Kretschmer 19 Prozent der Sachsen. Sich möglichst vielen Bürgerinnen und Bürgern persönlich vorzustellen, entsprang also durchaus einer Notwendigkeit. Aber auch einer Neigung: Schon als Abgeordneter sei er permanent auf Achse gewesen, erzählen Weggefährten. Freunde hätten ihn spätabends oft am Handy angerufen, damit er am Steuer nicht einschläft.

  Mit Kretschmer kam das Modell des gesetzten sächsischen Landesvaters von der CDU, das Kurt Biedenkopf idealtypisch, Georg Milbradt mühevoll und Stanislaw Tillich nur noch notdürftig verkörpert hatte, an sein Ende. Es war Zeit für etwas Neues. Dieses Neue hat die frühere CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer mal in einen hübschen Satz gepackt: „Bei dem Michael hat man immer das Gefühl, er hat den kleinen Finger in der Steckdose.“

  Kretschmer ist jedoch niemand, der einen Raum durch bloßes Erscheinen erobert. Er ist auch niemand, der sich vordrängt. Einmal, bei der Besichtigung des künftigen Landesgartenschau-Geländes in Aue-Bad Schlema, geht er in der Menge fast verloren, weil er sich beim Einlass einfach hinten anstellt.

  Ziemlich unvergleichlich ist seine Art, auch speziellste Themen mit Empathie zu erörtern, etwa die eingewachsenen Fingernägel eines Schützenbruders. Wenn Markus Söder ein Haifisch-Lächeln hat, dann hat Michael Kretschmer ein Goldfisch-Lächeln, für das er von älteren Damen auch mal mit einem Glas Marmelade belohnt wird („Och, ist das lieb“). Das tut dem Kandidaten gut in einem Wahlkampf, der sich an fast jeder Station existenziell anfühlt. Ob beim Handelsverband oder beim Open Air des Gewandhaus-Orchesters: Überall hinterlässt Kretschmer lieber mal die Botschaft, dass Demokratie und Rechtsstaat nicht selbstverständlich sind.

  Noch eine Spur toller als die Marmelade findet er eventuell, dass ihm am ersten Julisonntag beim Motorradrennen am Sachsenring der Schauspieler Keanu Reeves über den Weg läuft, ein Motorrad-Ultra. Es entsteht ein Bild: zwei Männer, denen offenbar jeder Zugang zu einem Rasierapparat verwehrt wird, Kretschmer schmachtet Reeves an wie einen Wechselwähler.

  Aber wenn die Leichtigkeit da ist, ist sie auch schnell wieder weg. Am selben Abend sagt die AfD-Bundesvorsitzende Alice Weidel im „ZDF-Sommerinterview“: „In Sachsen wird die Zukunft Deutschlands geschrieben.“ Das sieht Kretschmer genauso. Offen ist nur, wer sie schreibt.

  Sachsen, dieses geplagte Land, in dem viele wunderbare Menschen darunter leiden, dass seit Jahren die weniger wunderbaren die Nachrichten bestimmen. Bei einer Unternehmerkonferenz im Erzgebirge hört Kretschmer im Juni einen Vortrag mit dem recht schnörkellosen Titel „Image im Eimer“. Stimmt natürlich, aber er hat da einen anderen Ansatz.

  Kretschmer will reden über die Dinge, die er großartig findet an Sachsen. Leipzig als Gastgeber der Fußball-EM: „Ihr habt so ein geniales Bild in die Welt gegeben!“ Das Weihnachtsland Sachsen, auch mitten im Sommer. Auf dem Chemnitzer Weinfest, wo er Wähler anstoßbereit mit Glas überfällt, stößt er auf ein Kölner Rentnerpaar. „Was machen Sie in Chemnitz?“, fragt er. „Urlaub“, sagen die Kölner. Urlaub! In Chemnitz! Innere Glühlampe an.

  Was Kretschmer auch gern sieht, sind T-Shirts, die eine Zugehörigkeit markieren: Schützenverein, Modelleisenbahn-Freunde, Skatrunde. Der Mensch braucht Gemeinschaft, diese Einsicht hatte Aristoteles womöglich vor Kretschmer, aber er hat weniger daraus gemacht.

  Michael Kretschmer sucht nach einem Band, das dieses auseinanderdriftende Sachsen zusammenhalten soll. Er hat da zwei Ideen, die eine hat mit der Zukunft zu tun, die andere mit der Vergangenheit.

  Mitte Juli, beim Fahrzeugentwickler FES in Zwickau darf Kretschmer in einem brandneuen Brennstoffzellen-Lkw mitfahren, in der Werkhalle federt er aus dem Führerhaus. „Sie haben gezeigt, dass Sie es draufhaben“, ruft er den Ingenieurinnen und Ingenieuren zu. Sachsen sei Autoland, Wissenschaftsland. Leibniz, Fraunhofer, Max Planck, der taiwanesische Chiphersteller TSMC, alle da. Er hat ja recht, Sachsen steht auch nicht schlecht da im Vergleich der Bundesländer: 6,6 Prozent Arbeitslosenquote, Mittelfeld. gut 38 000 Euro Bruttoinlandsprodukt, immerhin Nummer eins im Osten. Aber Statistiken allein hängen die Abgehängten nicht wieder an.

  Man wolle „der Welt zeigen“, sagt Kretschmer vor dem Super-Lkw, „was die Sachsen alles können“. Er kreuzt durch sein Land wie ein Lifecoach, der Selbstbewusstsein und Zuversicht stiften will. Und Wertschätzung verteilen an Menschen, die zu wenig davon bekommen.

  Es nieselt, als Kretschmer an einem Junisonntag in Olbernhau im Erzgebirge bei der Bergparade mitmarschiert. „Wer Sachsen verstehen will“, sagt er gern, „der muss ins Erzgebirge kommen.“ Der Königshof in Dresden, die Messe in Leipzig, die Fabriken in Chemnitz: Über Jahrhunderte hat Sachsen Deutschland geprägt, doch nirgendwo verdichtet sich diese große Geschichte für Kretschmer so prächtig wie in den traditionellen Festzügen der stolzen Erzgebirger. Er besitzt einen schwarzen Bergmannskittel, und wenn er ihn überzieht, dann ist es, als würde dieses dünne Stück Stoff ihn und die anderen schützen vor den Stürmen der Gegenwart.

  Zum großen Finale nehmen die Musikkorps der sächsischen Bergbaustädte in vollem Ornat auf dem Gelände der alten Saigerhütte Aufstellung. „Was für eine Kraft, was für eine Liebe zur Heimat“, ruft Kretschmer. Der Wohlstand des Landes, sein Charakter: „Alles kommt vom Berge her.“ Bergmännische Werte brauche man heute dringender als je zuvor, Ehrlichkeit, Solidarität. In seiner leicht sperrigen, leicht erhabenen Kretschmer-Sprache sagt er: „Es kommt so sehr auf uns an. Es ist unsere Heimat. Wir gehen unseren sächsischen Weg.“

  Die genaue Richtung des sächsischen Wegs ist eines der großen Mysterien dieses Sommers. Die CDU hat natürlich eine Bilanz und ein Programm: mehr Lehrer und mehr Polizisten, eigenen Grenzschutz und günstigere Pflege. Aber das allein wird es ja kaum sein.

  Die Kapellen scheppern los, 1500 Menschen singen in Olbernhau das „Steigerlied“, erstmals erwähnt in einem Zwickauer Liederbuch des 16. Jahrhunderts. „Glückauf, Glückauf, der Steiger kommt“, einigen kommen jetzt die Tränen. „Und er hat sein helles Licht bei der Nacht / schon angezündt.“ Für sieben Strophen ist die Welt in Ordnung. Der sächsische Weg, er führt mutmaßlich zu einem Gefühl, noch so ein Kretschmer-Sätzchen: „Wie es hier ist, ist es richtig.“

  Das Band der Geschichte, tief berührend, aber wen vermag es noch zu binden? Wenn man böse wäre, könnte man sagen, dass mancher Anwohner, der die Bergparade am Fensterbrett verfolgte, der Miene nach mehr ans Werfen als ans Winken dachte.

  Während Kretschmer und seine Mitbewerber kämpfen, sind andere in diesem Sommer des Kämpfens müde. Kretschmers sächsische CDU-Kollegin Yvonne Magwas, Vizepräsidentin des Bundestags, kündigt Mitte Juli ihren Rückzug an, sie habe zu viele „Beleidigungen, Bedrohungen“ und „Gleichgültigkeit“ erlebt. Fast gleichzeitig teilt Dirk Neubauer, der parteilose Landrat von Mittelsachsen, mit, dass er wegen Anfeindungen „aus rechter Ecke“ aufhört – und aus Frust über Kretschmer und dessen CDU, die „Torwächter des Stillstands“, etwa bei der Energiewende.

  Michael Kretschmer und seine Partei, diesem Verhältnis muss man auf den Grund gehen, in der kleinen Gemeinde Dorfhain, zwanzig Kilometer südwestlich von Dresden. Bürgergespräch im Juni, „Michael Kretschmer direkt“, rund 150 Leute. Der Erste will gleich wissen, warum der Ministerpräsident es zulässt, dass der Wald mit Windrädern „durchlöchert“ werde. Kretschmer antwortet, man müsse „sich ehrlich machen“, am Ausbau der Erneuerbaren „geht kein Weg vorbei“. Misstrauische Blicke. Die Spannung löst sich erst, als Kretschmer den Ausstieg aus der Atomkraft bedauert.

  Die Windräder im Wald hat er einer widerspenstigen CDU abgerungen. Seine Leute finden: Das ist doch ziemlich viel. Kritiker wie Dirk Neubauer sagen: Das ist viel zu wenig. Der Privatmann Kretschmer, heißt es bei den Grünen, sei ein „progressiver Typ“, liberal, bio, „dem muss man nichts erklären“. Aber er mache halt „keine progressive Politik“ – und mit seinem Grünen-Bashing die Arbeit seiner eigenen Koalition kaputt.

  In Dorfhain tritt nun eine blonde Frau ans Mikrofon, schwarzer Blazer, kontrollierter Zorn. Es wird ein Austausch, der viel verrät über die sächsische CDU und ihren Chef. Die Frau will Kretschmer etwas „mitgeben“. Da sei die „Ausgrenzung“ von Leuten, die bei Corona „nicht im Gleichschritt gelaufen sind“. Da seien die Demos gegen rechts, alles okay, aber sie frage sich „natürlich auch, warum niemand eine Demonstration gegen extremistischen Islamismus macht“.

  Kretschmer redet die Frau mit Namen an, er kennt sie. Sie ist, allen Ernstes, CDU-Gemeinderätin und Pressesprecherin im sächsischen Kultusministerium. Er antwortet dann mit gereizter Bestimmtheit. Islamismus? „Ehrlich gesagt: Das ist nicht so ganz unser sächsisches Thema. Unser Thema sind Reichskriegsflaggen, und zwar überall.“ Und noch mal: „Wir müssen eintreten gegen den Rechtsextremismus. Das ist das Thema.“ Restlos zufrieden nimmt das die Frau nicht zur Kenntnis.

  Die sächsische CDU hat eine rechtskonservative Strömung, und keine schwache. Ein Landtagsabgeordneter der Linken glaubt sogar: „Der einzige Grund, warum diese Leute nicht mit der AfD zusammengehen, ist der Erfolg von Michael Kretschmer.“ Der Ministerpräsident muss sich auch diesen Teil seiner Partei gewogen halten, ab und an wirft er den Rechten ein Bonbon hin. 2018 hat er mal die Chemnitzer Rocker von Kraftklub, Exportschlager und Ausweis sächsischer Soft-Power, als „unmögliche linke Band“ beschimpft. Wenn man so was liest, stellt man sich unweigerlich vor, wie der Privat-Kretschmer zum Politik-Kretschmer sagt: „Findest du wirklich?“

  Fragt man Kretschmer, ob er den Leuten nach dem Mund redet, ist seine Antwort erst mal ein langgedehnter Pff-Laut. Dann sagt er: „Auf die Idee muss man erst mal kommen.“ Als Mann ohne Prinzipien hat man ihn auch nicht kennengelernt, aber durchaus als Mann, der keinen Millimeter Spielraum ungenutzt lässt. Kretschmer sei „situativ anschmiegsam“, sagt ein Kenner der Landespolitik, eine noble Beschreibung von dessen Fertigkeit, ein Publikum zu lesen.

  Kretschmer tut auf den letzten Metern des Wahlkampfs, was er glaubt, für den Sieg tun zu müssen. Er geht an Grenzen und darüber hinaus, und damit ist nur unter anderem das Doppelinterview gemeint, das er mit seiner Frau, der ehemaligen MDR-Journalistin Annett Hofmann, der Bunten gibt. Vier Kinder haben sie, zwei hat Hofmann mit in die Ehe gebracht.

  In den letzten Wochen des Juli und den ersten Wochen des August verschärft Michael Kretschmer dann Botschaft und Ton: Er nennt Björn Höcke einen „Neonazi“, er verlangt eine Volksabstimmung über die Stationierung von US-Mittelstreckenraketen. Und er fordert: „Wir können nicht länger Mittel für Waffen an die Ukraine in die Hand nehmen, damit diese Waffen aufgebraucht werden und nichts bringen.“ Da ist der Punkt erreicht, an dem selbst viele Christdemokraten im persönlichen Gespräch mit dem Wutbürger Kretschmer wohl sagen würden: „Lass gut sein, guten Abend noch.“

  Wer zumindest ansatzweise verstehen will, was Kretschmer da treibt, sollte mit ihm erst mal nicht über Russland reden. Sondern über Ostdeutschland.

  Am Nachmittag des 20. Juli sitzt Kretschmer auf einem Podium in der Kühle des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr in Dresden. Anfangs ging es um das Erbe des Widerstands gegen Hitler, jetzt geht es um das Erbe der deutschen Einheit. Der Moderator fragt, ob der Osten nicht angekommen sei in der Demokratie. „Doch“, sagt Kretschmer. Angekommen, aber anders geblieben als der Westen: „Ich sehe in der Unterschiedlichkeit kein Problem. Ich sehe eine Bereicherung.“ Im Osten gebe es „ein anderes Gefühl von Gerechtigkeit, ein anderes Leidensniveau“. Darauf müsse man „Rücksicht“ nehmen.

  In seinem Büro in der Staatskanzlei hat Kretschmer ein Schwarz-Weiß-Foto von Dixie Dörner hängen. Dörner im Trikot von Dynamo Dresden, im Zweikampf, vor zwei Jahren ist er gestorben. In den Fernsehnachrichten haben sie ihn damals als „ostdeutschen Franz Beckenbauer“ vorgestellt. Wieder diese Westperspektive, das habe Kretschmer gewaltig genervt, hört man. Vielleicht war ja Beckenbauer einfach der westdeutsche Dixie Dörner?

  Kretschmer glaubt, dass viel zu viel nicht gesehen wird: Dass die Menschen im Osten weniger Lohn kriegen und weniger Rente, dass sie weniger Vermögen haben. All die „Ohnmachtserfahrungen“, der Ausverkauf ihres Landes nach der Wende, 85 Prozent des Volkseigentums ging an Westdeutsche. Und heute? Fänden sich die Ostdeutschen nicht in den politischen Debatten der Republik wieder. „Das macht die Leute wütend“, sagt er.

  Wenn Michael Kretschmer irgendetwas sein will, dann die Stimme des Ostens. Auch in der Ministerpräsidentenkonferenz. Er gebe dort den O-Ton weiter, den er bei den Bürgern höre, sagen Leute, die ihn in diesen Runden erlebt haben. Er schaue auch mal den Kanzler an, wenn er frage: Wisst ihr eigentlich, was da draußen los ist? Der Osten, diese These wiederholt Kretschmer den ganzen Sommer, sei „der Seismograf“ der Republik. Die AfD an der Pforte der Macht? Womöglich bald auch bei euch, liebe Freundinnen und Freunde.

  Drei Monate lang durch Sachsen mit Michael Kretschmer – wenn man sich festlegen müsste, für welche Position der Kandidat verlässlich den größten Applaus bekommt, dann wäre das: „Wir müssen diesen Krieg einhegen.“

  Das Bild verfestigt sich: Auch in der bundesweiten Debatte über den russischen Krieg gegen die Ukraine will Michael Kretschmer die Stimme des Ostens sein. „Es gibt einen einseitigen Mainstream, und abwägende Stimmen werden nicht mehr gehört“, sagt er. So erst könnten sich AfD und BSW des Themas bemächtigen.

  Nun könnte man fragen, was denn eigentlich genau das Abwägende in Kretschmers Einlassungen ist. Gut, er sagt jedes Mal unmissverständlich, dass Russland der „Aggressor“ ist und die Ukraine das „Opfer“. Fast jedes Mal wird er dafür von einigen ausgepfiffen, ausgebuht.

  Abseits dessen sprengt Kretschmer gewiss die Grenzen dessen, was CDU-Chef Friedrich Merz sich auszumalen vermochte, als er dem Wahlkämpfer etwas Beinfreiheit gewährte. Kretschmer ist der Ansicht, ein Waffenstillstand hätte gleich zwei Vorteile: Er „beendet das Sterben“ und er ermögliche „Gaslieferungen aus Russland“. Wie man das zynisch finden kann, versteht er nicht: Die Interessen der deutschen Industrie zu vertreten, heiße doch nicht, unsolidarisch mit der Ukraine zu sein.

  Selbst manche wohlwollende Wegbegleiter sagen, dass Kretschmer sich hier beinahe bockig weigert, die Dinge zu Ende zu denken. Etwa auch in seiner Haltung, dass die von Russland besetzten Gebiete natürlich nicht „russisch geworden“ seien, aber dass ein Waffenstillstand auch die „Entwicklungen“ des Krieges „berücksichtigen“ müsse.

  Anderseits beteuern Kretschmer-Vertraute, dass all das seine ehrliche Meinung sei. Er denke wirklich, dass die deutsche Wirtschaft auf russisches Gas angewiesen sei. Er denke wirklich, dass die Ukraine den Krieg nicht gewinnen könne. Ein Mal argumentiert er sogar, dass der Krieg sofort enden müsse, gerade weil „wir, die wir hier aus den neuen Ländern kommen, erlebt haben, wie die Rote Armee brachial mit Leuten umgeht“.

  Da ist sie wieder, die ostdeutsche Erfahrung. Die Freundschaft mit der Sowjetunion sei in der DDR politisch verordnet gewesen, sagt ein Kretschmer-Kenner. Trotzdem habe sie Spuren hinterlassen, in einem zunächst ganz unschuldigen Sinn. Kretschmer hat selbst mal erzählt, dass es ihn „sehr berührt“ habe, als er das erste Mal in Moskau auf dem Roten Platz stand, den er nur aus dem Russischbuch kannte.

  Die Sache ist Kretschmer ernst, so viel ist klar. Sonst würde er kaum riskieren, sein Ansehen in der Bundes-CDU derart zu beschädigen. Aber das schließt ja nicht aus, dass die Sache, mit Wucht vorgetragen, ihm auch helfen kann, noch friedfertiger rüberzukommen als die angebliche Friedenspartei AfD, und so eine Landtagswahl zu gewinnen.

  Ob er daran in jeder Minute dieses Wahlkampfs glaubt? Daran darf zweifeln, wer ihn im Juli hochemotional bei „Maischberger“ sieht, wo er sagt, er freue sich auf das Leben nach der Politik, und darauf, „keine Antworten mehr zu geben zu politischen Themen“. Kretschmer hat keine Lust mehr zu reden: So weit ist es gekommen.

  Ein Sonntag im August, nur noch drei Wochen bis zur Wahl. Kretschmer strahlt. Das kann daran liegen, dass seine famos schöne Geburtsstadt Görlitz demnächst noch schöner werden soll. Nach zwanzig Jahren Schließung wird die Stadthalle saniert, aber was heißt Halle: ein Tempel des Jugendstils, einst der größte Saal zwischen Dresden und Breslau. Kretschmer mittendrin und hin und weg.

  Dies ist der erste Sonntag seit mehr als zwei Jahren, an dem die CDU in Sachsen in einer Umfrage vor der AfD liegt. 34 zu 30 Prozent. Bei einer Direktwahl des Ministerpräsidenten würden 64 Prozent ihn bevorzugen, nur 14 Prozent den AfD-Mann Jörg Urban. Allein, in der CDU haben sie gelernt, Umfragen nicht blind zu vertrauen.

  Und dann muss Kretschmer ja sogar zwei Wahlen gewinnen am 1. September. Auch sein Direktmandat muss er verteidigen gegen einen recht geschmeidigen Herrn von der AfD. Wahlkreis 58, Görlitz 2: Das ist der große Preis für die AfD. Wenn Kretschmer zu Hause stürzt, raunen manche in der CDU, könnte er dann Ministerpräsident bleiben?

  Im Gewusel der Stadthalle steht ein Mann, der sich auskennt in der Lokalpolitik. „Ich glaube, es wird sehr, sehr knapp“, sagt er. Die Landgemeinden: alle blau. Er weist mit der Hand in den Saal: „Sehen Sie die Leute hier? Das ist die Innenstadt von Görlitz. Die muss den Micha retten.“

  Bei der Landtagswahl 2019 hat das geklappt, im selben Jahr haben die Parteien der Mitte in Görlitz bei der Oberbürgermeister-Wahl eine Notfallallianz gebildet: alle gegen die AfD. So haben sie den CDU-Bewerber Octavian Ursu in der Stichwahl ins Rathaus gehievt. Aber diese Allianz wird es so nicht mehr geben. An der Brücke über die Neiße, den Grenzfluss zu Polen, verteilen die Grünen an diesem Sonntag eine Anleitung zum „strategischen Wählen“. In Kürze: nicht CDU.

  Die anderen Parteien vermissen bei den Christdemokraten Demut und Dankbarkeit, sie reiben sich die Augen, wenn Kretschmer wieder über die Grünen herfällt. Viele in der sächsischen CDU haben ihr altes dynastisches Selbstverständnis nicht den neuen Zeiten angepasst. Das wenigstens ist bei Kretschmer anders, er hält Macht nicht für gottgegeben. Wie auch, nach dem, was ihm widerfahren ist.

  Bei der Bundestagswahl 2017 hat er hier in Görlitz sein Direktmandat verloren, nach 15 Jahren, gegen einen unbekannten Malermeister von der AfD, Tino Chrupalla, den heutigen Parteichef. Kretschmer erinnert sich an diesen „bitteren Tag“, während er an einem Julitag im Wahlkampf-Kombi sitzt. Eine Stunde ist es her, dass er wieder heil gelandet ist nach der kleinen Himmelfahrt auf dem Gabelstapler.

  So sei Politik in unseren Zeiten, sagt er, unberechenbar, ungerecht, manchmal brutal. Damals hat er Bekanntschaft gemacht mit einem Volkszorn, dessen Größe man erst ganz ermessen kann, wenn die Stimmen ausgezählt sind. „Du bist ständig unterwegs, gibst dein Bestes“, draußen ziehen jetzt die Vororte von Chemnitz vorbei. „Du kämpfst, du hast das Gefühl, dass du so bist mit den Leuten“, er legt den Mittelfinger auf den Zeigefinger: so eng. „Du stellst vieles Privates zurück, du verpasst den Geburtstag deiner Kinder.“ Und dann?

  „Und dann“, sagt Michael Kretschmer, „ist es plötzlich vorbei.“