EILT SEHR!

Von Miguel Helm

Aber nichts passiert. Die deutsche Bürokratie wächst immer weiter. Ist das wirklich so schlimm? Besuch bei einem Metzger, der schließt, und einem Landrat, der verzweifel. 

Fleischerhälften
Die Zeit

Vielleicht sollte man einen Text über etwas, zu dem jeder eine Meinung hat, an einem Ort beginnen, an dem jeder schon einmal war. An einer Wursttheke.

Die Metzgerei liegt in Roßdorf, einem Teil der Kleinstadt Bruchköbel in Hessen, gegenüber von »Monika’s nahkauf«, wo die Jalousien seit Wochen unten sind, weil Monika gestorben ist, und einer gut besuchten Apotheke, wo ein zwinkerndes Virus an der Scheibe klebt. Die Metzgerei heißt wie ihr Besitzer, Volker Jost, und wirbt mit dem Spruch: »Da weiß man, dass es schmeckt!«

An einem Samstagmorgen im Frühjahr ist vor der Wursttheke ein Stehtisch aufgebaut, ein rotes Band hängt um die weiße Tischdecke, auf zwei Silbertabletts liegen Schnittchen, daneben stehen Sektgläser. Die Menschen plaudern und stoßen an. Frauen mit Kühltaschen, Alte, die draußen ihre Senioren-Scooter geparkt haben, und etwas jüngere Männer mit Zetteln in der Hand, auf denen in Bleistiftbuchstaben »200 Gramm Roastbeef« steht, oder »300 Gramm gefüllte Lendchen«.

Es sieht aus, als würde hier in Bruchköbel etwas gefeiert. Wären da nicht Volker Jost, der Metzger, die Verkäuferinnen und seine beiden Schwestern. Die Jüngere hat Tränen in den Augen: »Ich könnte heulen.« Volker Jost sitzt da und schüttelt den Kopf, ein geknickter Mann mit Schnauzer und einer weißen Mütze mit der Aufschrift: We know how. Wir wissen, wie.

Heute ist der letzte Tag der Metzgerei Volker Jost in Bruchköbel. Die Menschen hier werden ihm fehlen, sagt Jost. Sie bringen ihm Abschiedsgeschenke, Blumen, Schokolade, ein Seidentuch. Sie sagen Sätze wie »Ich werde deinen Eiersalat vermissen!« oder »Ihr wart so gut zu uns!«.

Um kurz vor 13 Uhr verlässt der letzte Kunde den Laden. Die Verkäuferinnen säubern die Fliesen, wischen die Theke, kehren den Boden. Volker Jost fährt nach Hause. »Jetzt ist es wirklich vorbei!«

Auf den ersten Blick ist das Ende der Metzgerei Jost in Bruchköbel nicht weiter interessant. Jedes Jahr schließen Hunderte Metzgereien in Deutschland. Sie schließen, weil sie kein Personal finden, weil viele Menschen weniger Fleisch essen oder lieber das billigere Fleisch aus dem Supermarkt kaufen. Jede Schließung ist bitter. Aber sie ist auch Teil der Marktwirtschaft. Ein Geschäft, das sich nicht rechnet, verschwindet.

Bei Volker Jost liegt der Fall anders. Er hat genug Kunden, die Jäger-Gulasch und Lendenspieße kaufen. Er hat genug Mitarbeiterinnen und mit seinem Sohn Christoph theoretisch einen Nachfolger. Trotzdem macht er in Bruchköbel zu.

Das liegt an einer Sache, über die kleine Handwerker und große Konzerne gleichermaßen klagen, genau wie Ärzte, Forscher und Bauern. Das ganze Land. Die Rede ist von der deutschen Bürokratie.

Deutschland streitet über die Migration, den Klimaschutz, die Waffenhilfe für die Ukraine. Bei der Bürokratie sind sich praktisch alle einig.

Für Bundeskanzler Olaf Scholz ist sie ein »über Jahrzehnte gewachsenes Dickicht«. Finanzminister Christian Lindner bezeichnet sie als »Monster«. Wirtschaftsminister Robert Habeck spricht von einem »Berg von Vorschriften«. Der CDU-Chef Friedrich Merz sagt, »unser Land erstickt in Bürokratie«. Der AfD-Vorsitzende Tino Chrupalla ruft dazu auf, den »Bürokratie-Irrsinn« zu beenden.

In den Zeitungen steht:

»Wie Bürokratie die Energiewende bremst« (Handelsblatt)

»Die Bürokratie befeuert die Bauflaute« (WirtschaftsWoche)

»Familienunternehmen ächzen unter Bürokratie« (FAZ)

»Bürokratie ist DER Jobkiller« (Bild)

Wenn sich aber alle so einig sind, dass Bürokratie etwas Schädliches ist, weshalb gibt es sie dann überhaupt? Warum wächst sie immer weiter? Und ist sie wirklich so schlimm?

 

Zwei Tage vor der Schließung der Metzgerei in Bruchköbel steht Volker Jost, 64, in seinem Haus und hält ein gerahmtes Foto in den Händen, eine Schwarz-Weiß-Aufnahme aus dem Jahr 1962. Volker Jost war damals drei Jahre alt. Ein Knirps mit großen Augen, vor dem eine tote Sau liegt. Josts Urururur-Großvater gründete die Metzgerei im Jahr 1818, danach wurden alle Männer in der Familie Metzger, der Großvater, der Vater. Volker Jost hat immer zwei Metzgereien betrieben, eine größere in dem Mehrfamilienhaus in der Kleinstadt Nidderau, wo er bis heute wohnt, und die kleinere im vier Kilometer entfernten Bruchköbel.

Jost ist keiner, der sich damit brüstet, wie viel den Menschen in Bruchköbel an seiner Metzgerei gelegen ist – oder dass die fünf Schweine, die er jede Woche bei einem befreundeten Bauern einkauft und anschließend mit Respekt, wie er sagt, schlachtet, ein besseres Leben hatten als die Hunderttausenden Schweine, die jeden Tag in deutschen Massenschlachthöfen getötet werden. Jost sagt nur, seine Arbeit habe ihn lange sehr glücklich gemacht.

Doch seit einigen Jahren liegt er immer wieder nachts wach. Jost ist seit fast 50 Jahren Metzger, seit 40 Jahren Meister und seit 15 Jahren im Prüfungsausschuss der Fleischerinnung Hanau. Trotzdem hat er inzwischen Angst, seinen Beruf falsch zu machen. Dabei geht es nicht um Fleisch und Wurst und die richtige Zubereitung, sondern um Regeln und Verordnungen, die ihm nicht einleuchten.

Ein Beispiel. Vor einigen Monaten standen Mitarbeiter des Veterinäramts in Josts Metzgerei. Sie sagten, er müsse einen Warnhinweis anbringen, dass seine Kunden das Hackfleisch, das sie kaufen, vor dem Essen erhitzen müssen. So will es eine Verordnung, die Jost bisher nicht kannte und deren Sinn er nicht verstand. Außer Mett und Tatar darf man Hackfleisch nicht roh essen. Das weiß doch jedes Kind. Aber bitte, wenn es die Behörden wollen. Es wurde ein gelber Zettel ausgedruckt, laminiert und über der Wursttheke aufgehängt: »Hackfleisch und Geschnetzeltes nur im durchgegarten! Zustand verzehren.«

Die Folge sei, sagt Jost, dass die Kunden auf den Zettel zeigen und fragen, ob etwas mit seiner Ware nicht stimme. Warum sonst sollte er auf eine Selbstverständlichkeit aufmerksam machen? »Die Leute halten einen doch für doof«, sagt Jost.

Mehrmals pro Woche muss er aufschreiben, wie heiß und wie lange er seine Wurst gart, woher das Geflügelfleisch, das er verarbeitet, stammt und wann er welchen Gewürzbeutel geöffnet hat. Seine Frau hat Tabellen erstellt, die er Zeile für Zeile mit Temperaturangaben, Uhrzeiten und Chargennummern füllt. Anfang des Jahres packte er sein Hackfleisch in kleine Tüten und füllte das Wasser aus den Wasserhähnen seiner beiden Metzgereien in Behälter. Das alles schickte er an ein Lebensmittelinstitut zur »mikrobiologischen Risikoanalyse«, einmal die Woche, sechs Wochen lang, auch das ist vorgeschrieben, für insgesamt 5.400 Euro, die er selbst zahlen musste.

»Als würde ich schummeln wollen«, sagt Volker Jost.

Laut einer Umfrage des Zentralverbands des Deutschen Handwerks aus dem vergangenen Jahr sagen drei von vier Handwerkern im Land, der Bürokratieaufwand sei in den vergangenen fünf Jahren gestiegen und »die ständige Anpassung an neue gesetzliche Regelungen« erschwere die Arbeit erheblich. Mehr als 60 Prozent der Metzger, so das Ergebnis einer Befragung des hessischen Fleischerverbands, macht die Bürokratisierung ihres Berufs große Sorgen. Sie belastet sie mehr als die steigenden Energiekosten. Mehr als das veränderte Konsumverhalten ihrer Kunden. Mehr als der Fachkräftemangel.

Am 15. Februar 2024 erhielt Volker Jost eine E-Mail von einem Absender mit dem Namen »A39 LMFL«, es war die Abteilung »Lebensmittel- und Fleischhygieneüberwachung« des örtlichen Veterinäramts. Betreff: »Amtliche Lebensmittelüberwachung; Erinnerung – zulassungspflichtige Tätigkeiten«. Die Mail hatte zwei PDF-Anhänge und endete »mit freundlichen Grüßen Im Auftrag«.

Im Kern ging es, wieder einmal, um eine Verordnung. Diese sieht vor, dass ein Metzger, der mehr als ein Drittel seiner Produktionsmenge an »andere Betriebe des Einzelhandels« verkauft, eine gesonderte Zulassung benötigt. Diese anderen Betriebe sind zum Beispiel Kantinen und Gaststätten. Aber auch die Filialen des eigenen Betriebs gehören dazu – im Fall von Volker Jost also die Metzgerei in Bruchköbel.

Es klingt widersinnig: Wenn die Filiale zu profitabel ist, wenn Jost dort zu viel Fleisch verkauft, hat er ein Problem. Dann braucht er die gesonderte Zulassung, und die ist aufwendig, weil die Auflagen über die Vorschriften hinausgehen, die er jetzt schon erfüllen muss.

Die Zulassung würde erfordern, dass sich Beamte des Regierungspräsidiums und des Veterinäramts Josts Betrieb genau ansehen. Sie würden kontrollieren, ob Jost »Nachweise über jährliche Personalschulungen zur Lebensmittelhygiene« vorlegen kann, außerdem »einen Trinkwasserversorgungsplan« und »einen Abwasserentsorgungsplan«. Es wäre aufwendig, aber vermutlich könnte Volker Jost diese Auflagen mit ein bisschen zusätzlicher Arbeit erfüllen.

Schwieriger ist es mit der Verordnung (EG) Nr. 852/2004, Anhang II, Kapitel I Nr. 2: »Betriebsstätten«, ist dort zu lesen, müssen so angelegt sein, dass »aerogene Kontaminationen« vermieden werden.

Die »Betriebsstätte« von Volker Jost ist das Haupthaus seiner Metzgerei. Dort gibt es seit 1962 einen Verkaufsraum. Verlässt man den Verkaufsraum durch die Hintertür, erreicht man einen gepflasterten Innenhof, etwa zehn Meter lang. Dahinter befinden sich die Wurstküche und das Kühlhaus. Mehrmals täglich laufen Jost und seine Mitarbeiterinnen vom Kühlhaus zum Verkaufsraum, mit roten Plastikkisten in den Händen oder Würsten am Haken.

Und genau das ist das Problem.

Denn unter diesen Umständen kann Volker Josts Betrieb nicht zugelassen werden. So habe es ihm das Veterinäramt erklärt, erinnert er sich. Der Grund: Es ist nicht auszuschließen, dass auf den zehn Metern zwischen Verkaufsraum und Kühlraum Keime aus der Luft in die Lebensmittel gelangen. Das Fleisch abzudecken, reicht nicht. Der Innenhof muss überdacht werden. »Wegen den zehn Metern! Als würde der Tschernobyl-Regen täglich über uns runterkommen«, sagt die ältere der beiden Schwestern.

Im vergangenen Dezember setzt sich die Familie zusammen. Sie rechnen aus, wie hoch der Anteil der Produktionsmenge ist, den sie in Bruchköbel verkaufen. Lange Zeit lag er bei etwa einem Viertel. Im vergangenen Jahr aber kauften mehr Leute in Bruchköbel ein als früher. Warum, kann Volker Jost nicht sagen. Jedenfalls liegt der Anteil, den er an »andere Betriebe des Einzelhandels«, also auch seine eigene Filiale, lieferte, über der Grenze von einem Drittel.

Nun hat Volker Jost mehrere Optionen.

Erstens: dem Veterinäramt die Umsatzsteigerung in der Filiale einfach verschweigen. Aber das ist riskant – ganz abgesehen davon, dass Volker Jost ein ehrlicher Mann ist.

Zweitens: die Metzgerei in Bruchköbel nur noch an drei Tagen pro Woche öffnen, um den Umsatz zu senken. Aber das ist unpraktisch, weil Jost dann die Ware, die nicht verkauft wird, hin und her transportieren muss.

Drittens: den Innenhof für Tausende Euro überdachen. Aber wird Jost die Zulassung dann wirklich erhalten? Er kennt einen Metzger, der seine Metzgerei für viel Geld umbaute und trotzdem jahrelang auf die Zulassung wartete.

Volker Jost entscheidet sich für den radikalsten Schritt. Option vier. Am 16. Februar schreibt er an »A39 LMFL«:

»Guten Morgen

Wie gestern am Telefon besprochen, werden wir zum 31.03.2024 unsere Filiale in Bruchköbel/Roßdorf schließen.«

Er sagt, er habe nicht weiter gegen die Bürokratie ankämpfen wollen.

Fragt man das zuständige Veterinäramt, ob man gemeinsam mit dem Metzger nach Lösungen gesucht habe, heißt es: »Für eine Beratung in wirtschaftlicher Hinsicht ist die Behörde weder zuständig noch ausgebildet.« Die gesetzlichen Vorgaben seien komplex, der Handlungsspielraum für die örtlichen Ämter gering.

Kurz bevor an jenem Samstagmittag die Abschiedsfeier zu Ende ist und Volker Jost seine Metzgerei in Bruchköbel endgültig schließt, tritt eine alte Frau an ihn heran, sie trägt roten Lippenstift. Edda Dittmann hat gerade vier Scheiben Kochwurst gekauft. Sie ist 94 Jahre alt und sieht nur noch wenig. Mit den Händen tastet sie nach Volker Jost.

»Sind Sie der Metzger?«

»Ja, der bin ich!«

»Ich dachte, es ist ein Scherz mit der Schließung.«

»Leider nicht.«

»Wissen Sie, ich habe überlegt, eine Demonstration anzumelden. Was erlauben sich diese Leute, solche Gesetze zu machen? Was soll man dazu noch sagen?«

Sie schüttelt den Kopf und wünscht alles Gute. »Unser kleines Nest war so glücklich, Sie zu haben.«

 

Sabine Kuhlmann, 54, ist Professorin für Verwaltungswissenschaft. In ihrem Büro an der Uni Potsdam sagt sie: »Wir haben einen Kipppunkt erreicht.« Noch nie sei die Kritik an der Bürokratie so massiv gewesen wie heute.

»Wir sind zu perfektionistisch«, sagt Kuhlmann. Man kann das gut an EU-Gesetzen beobachten. Sie gelten in allen Ländern der Europäischen Union. Deutschland aber, sagt Kuhlmann, lege sie besonders streng aus. Die Rechtsexperten in den Verwaltungen, meist Juristen im höheren Dienst, hätten enormes Fachwissen, aber meist wenig Bezug zu jenen Menschen, die mit den Regeln zurechtkommen müssen: den Unternehmensgründern, Bürgermeistern, Wissenschaftlern, Handwerkern.

Hinzu kommt eine weitere deutsche Besonderheit. Fast nirgendwo auf der Welt gibt es einen dermaßen ausgebauten Rechtsstaat. Hier kann jeder Bürger gegen jede staatliche Entscheidung, die ihn betrifft, Klage einreichen. Diese Klagen landen bei den 52 deutschen Verwaltungsgerichten, die jedes Jahr Zehntausende neue Urteile sprechen.

Die Folge ist ein Wust an Regelungen, die sich teils widersprechen oder in der Praxis gar nicht umsetzbar sind. In Deutschland gibt es Speditionsunternehmen, die für den Transport eines einzigen Windrads bis zu 60 Einzelgenehmigungen einholen müssen. Wissenschaftler, die Bewilligungen von mehreren Dutzend Ethikkommissionen und Datenschutzbeauftragten benötigen, ehe sie mit einem Forschungsprojekt beginnen können. Alleinerziehende Väter, die, wenn sie ihre Mutter pflegen, Anrecht auf zwölf verschiedene Sozialleistungen haben, welche sie aber bei acht verschiedenen Behörden beantragen müssen.

»Wir leben heute in einem Dschungel an Regeln, den keiner mehr überblickt«, sagt Sabine Kuhlmann.

 

An einem Mittwochmorgen im Frühjahr fährt Helmut Riegger, 62, mal wieder zur Baustelle. Riegger, Diplom-Verwaltungswirt und CDU-Mitglied, ist Landrat des baden-württembergischen Landkreises Calw. Die Baustelle liegt im Schwarzwald, zwischen Fichten und Büschen, vor einem Tunnel in einem Berg, ungefähr zwei Kilometer von Calw entfernt, einer Stadt mit 24.000 Einwohnern und postkartentauglichen Fachwerkhäusern.

Bagger beißen in Schotter, Lkw rollen über Erde, Bauarbeiter laufen auf und ab. Ginge es nach Helmut Riegger, einem elegant gekleideten Mann mit weißen Haaren und weißem Hemd, wären die Arbeiten schon seit Jahren beendet. Dann würde hier längst ein Zug vorbeirauschen, alle 30 Minuten werktags, alle 60 Minuten am Wochenende. Die Hermann-Hesse-Bahn, benannt nach dem berühmtesten Sohn der Stadt Calw.

Jeder Zug bietet Platz für 120 Fahrgäste, ist batteriebetrieben und braucht für die 19 Kilometer lange Strecke 24 Minuten. Das ist die Idee. »Die Bahn würde viele Probleme von Calw lösen. Sie wäre das Beste, was der Region passieren könnte«, sagt Helmut Riegger. Er sagt: wäre. Er sagt: würde. Denn die Hermann-Hesse-Bahn ist genau das geblieben: eine Idee.

Riegger ist seit 2010 in Calw, davor war er Bürgermeister von Sindelfingen. In seinem Büro, bei Erdbeeren und Schokolade, erzählt er, er sei vor mehr als 30 Jahren in die Politik gegangen, um das Leben der Menschen voranzubringen. Aber seit ein paar Jahren werde er ausgebremst. Von den Behörden, sagt Riegger. Und von einem Tier. Der Fledermaus.

Kurz nach Helmut Rieggers Amtsantritt veröffentlichte das Prognos-Institut eine Studie zur wirtschaftlichen Zukunftsfähigkeit der 412 Kreise und kreisfreien Städte in Deutschland. Calw landete auf Rang 237 und damit mehr als 170 Plätze hinter den angrenzenden Landkreisen Böblingen und Karlsruhe. Ein Grund, so die Autoren der Studie, liege darin, dass die Region so schlecht angebunden sei.

Wer ohne Auto in Calw lebt und in Stuttgart oder Böblingen arbeitet, wo große Unternehmen wie Mercedes-Benz, Bosch und Siemens sitzen, muss in einen Bus steigen. Dieser Bus rollt mindestens 25 Minuten durch Kleinstädte im Schwarzwald, bevor er eine Stadt namens Weil der Stadt erreicht, die über einen S-Bahn-Anschluss verfügt. Von dort braucht man dann noch mal 23 Minuten nach Böblingen und 42 Minuten nach Stuttgart. Und selbst wenn man ein Auto hat, geht es kaum schneller, weil die Bundesstraße, die sich durch Calw schlängelt, häufig verstopft ist.

Der frisch gewählte Landrat Helmut Riegger glaubte, er habe eine Lösung für das Problem. Es gab einmal einen Zug, mit dem man von Calw nach Stuttgart fahren konnte, die Württembergische Schwarzwaldbahn – mehr als ein Jahrhundert lang. Im Jahr 1983 wurde der Zug außer Betrieb genommen. Er hatte sich nicht mehr gerechnet.

Helmut Rieggers Plan schien so einfach wie genial zu sein: Er wollte die Württembergische Schwarzwaldbahn reaktivieren. Und weil es sich nicht um den Neubau einer Bahnstrecke handelte, musste er keine Gutachter beauftragen, um jene Strecke zu finden, die Natur und Mensch am wenigsten beeinträchtigt, so wie das Gesetz es vorsieht. Er musste keine oder nur sehr wenige Grundstücke aufkaufen. Und er musste nicht jahrelang mit Anwohnern über Lärmschutzmaßnahmen und Entschädigungszahlungen verhandeln.

Denn die Bahnstrecke existierte schon. Sie wurde zwar nicht mehr genutzt. Aber rechtlich war es, als sei sie nie stillgelegt worden. Die erforderlichen Genehmigungen sollten schnell zu bekommen sein.

Auch die Finanzierung war bald gesichert, 50 Prozent der damals veranschlagten 49 Millionen Euro würde die Landesregierung übernehmen. Winfried Hermann, der baden-württembergische Verkehrsminister von den Grünen, bezeichnete die Bahn als »Schlüsselprojekt für den ländlichen Raum und das Überleben der Stadt Calw«.

Helmut Riegger verkündete öffentlich: Spätestens im Jahr 2018, zum Ende seiner ersten Amtszeit, fährt die Hermann-Hesse-Bahn.

Am 7. Mai 2024, sechs Jahre nach dem geplanten Starttermin, nimmt Helmut Riegger in Raum A200 des Landratsamts Platz, trinkt einen Schluck Cola und sagt: »Dann fangen wir mal an.« Vor ihm sitzen 13 Kommunalpolitiker, Bürgermeister, Kreis- und Gemeinderäte, allesamt Mitglieder des Zweckverbands Hermann-Hesse-Bahn. Sie sind gekommen, um zu erfahren, wie es um das Projekt steht. Einer der Männer fragt gleich zu Beginn: »Gibt es irgendwelche Katastrophen zu verkünden? Wie steht es um die Genehmigungen?«

Wer in Deutschland bauen möchte, sei es eine Straße, eine Stromtrasse oder eine Bahnstrecke, braucht einen – wie es im Behördendeutsch heißt – Planfeststellungsbeschluss. Dieser wird von der Planfeststellungsbehörde erteilt, in diesem Fall das Regierungspräsidium Karlsruhe.

Sechs Bauabschnitte muss es bei der Hermann-Hesse-Bahn genehmigen. Das liegt daran, dass die Strecke nicht exakt so bleiben kann wie vor der Stilllegung. Bahnsteige müssen neu errichtet, Brücken neu eingehoben und zusätzliche Gleise verlegt werden. Für die meisten Änderungen braucht es einen eigenen Planfeststellungsbeschluss, so steht es im Allgemeinen Eisenbahngesetz, Paragraf 18, Absatz 1.

Mittlerweile sind vier Bauabschnitte genehmigt. Zwei Beschlüsse aus Karlsruhe fehlen. Immer noch.

Im Raum A200 des Landratsamts melden sich jetzt weitere Kommunalpolitiker zu Wort. Sie sagen:

»Es stinkt mir gewaltig!«

»Wir verlieren unsere Glaubwürdigkeit als Kommunalpolitiker.«

»Die Leute lachen uns aus.«

Der Oberbürgermeister von Calw erzählt, seine Stadtkapelle übe schon seit Jahren das Lied Auf der schwäbsche Eisenbahne ein, um es bei der Eröffnungsfeier der Bahn zu spielen. Das Ganze gleiche doch einem Schildbürgerstreich.

Helmut Riegger sagt: »Ich stimme euch zu.«

Wie kann es sein, dass die Hermann-Hesse-Bahn noch immer nicht fährt?

Es ist kompliziert, das hat Helmut Riegger bereits im Vorgespräch gesagt. Wahnsinnig kompliziert. Was er auch gesagt hat: »Diese Leute in Karlsruhe leben in einer völllig anderen Welt.«

 

Das Wort Bürokratie ist schon als Schimpfwort erfunden worden, von einem französischen Wirtschaftswissenschaftler im 18. Jahrhundert. Seitdem wird über sie geklagt. Bereits in der Frankfurter Paulskirche 1848, als das erste gesamtdeutsche Parlament zusammenkam, wurde gegen ihre Ausbreitung gewettert. Willy Brandt sprach 1976 von den »Sorgen und Ängsten des einzelnen Menschen vor überwuchernden Bürokratien«. Und Helmut Kohl im Jahr 1982 von »einer Zukunftsperspektive, die frei ist von unnötigen bürokratischen Auflagen«. In den vergangenen Jahrzehnten gab es Entbürokratisierungsgutachten, Entbürokratisierungskommissionen, einen Masterplan »Bürokratieabbau« und – allein seit 2015 – drei Bürokratieentlastungsgesetze.

Marco Buschmann ist Bundesjustizminister, er hat sich selbst aber einen weiteren Jobtitel gegeben: »Bürokratieabbau-Minister«. In seinem Büro in der Berliner Mohrenstraße erzählt er von einem Chef, den, so sagt er, wohl jeder schon mal hatte. »Dieser Chef, der einem alles bis ins letzte Detail vorschreiben will, ein Micro-Manager. Der seinen Leuten misstraut. Der ihnen am liebsten sagen würde: In dieser Umdrehung, liebe Mitarbeiter, gehört der Bleistift gespitzt. Nicht schneller! Nicht langsamer!« Über einen solchen Chef, sagt Buschmann, fingen die Leute an zu lästern und wendeten sich von ihm ab. »Dasselbe findet gerade im Verhältnis von Staat und Bürgern statt.«

Als Reaktion darauf hat Buschmann dem Kabinett das Bürokratieentlastungsgesetz IV vorgelegt, nach der Sommerpause soll es verabschiedet werden.

Dieses Gesetz sieht unter anderem vor: Hauptversammlungen von börsennotierten Unternehmen werden erleichtert. Eine zentrale Vollmachtsdatenbank für Steuerberater entsteht. Die Fluggastabfertigung kann auch digital erfolgen. Aufbewahrungsfristen für Buchungsbelege werden verkürzt.

Unternehmer, Steuerberater, Fluggesellschaften. Man könnte sagen: ein Gesetz von einem FDP-Minister für eine FDP-Klientel. Der Mittelstandsverbund nennt das Gesetz »zu zaghaft«. Der Verband der Familienunternehmer findet es »geradezu peinlich«. Die Forscherin Sabine Kuhlmann hält es für »nicht mehr als Symptombekämpfung«.

Justizminister Marco Buschmann sagt: »Es ist ein erster Schritt auf einem langen Weg.«

 

In einem Büro des Regierungspräsidiums Karlsruhe, in einem grauen Plattenbau, sitzen Tobias Korta, ein Verwaltungsjurist, und Daniel Raddatz, ein Biologe. Sie sind die Menschen, die laut Landrat Helmut Riegger in einer anderen Welt leben. Als Referatsleiter der Höheren Naturschutzbehörde sind sie für den Schutz vom Aussterben bedrohter Arten im Regierungsbezirk Karlsruhe zuständig. Sie veranlassen zum Beispiel den Bau eines Elektrozauns um das Brutgebiet von Brachvögeln, damit der Fuchs sie nicht frisst. Oder den Umzug von Kohlmeisen aus Bäumen, die gefällt werden sollen. Meistens arbeiten sie geräuschlos, Konflikte sind in der Regel schnell beigelegt. Bei der Hermann-Hesse-Bahn ist das anders. »So ein komplexes Projekt hatten wir noch nie«, sagt Raddatz.

Der Grund dafür sind zwei Tunnel, die vor mehr als 150 Jahren in die Berge getrieben wurden, um der Württembergischen Schwarzwaldbahn die Durchfahrt zu ermöglichen. Dann wurde die Bahn stillgelegt, es rollten keine Züge mehr, in die Tunnel kam trotzdem Bewegung. Fledermäuse siedelten sich an. Sehr viele Fledermäuse, bis heute.

Naturschützer haben in den Tunneln Lichtschranken aufgestellt. Sie haben die Tiere fotografiert und gefilmt, haben Netze gespannt, um sie zu fangen, und ihre Krallen mit Nagellack lackiert, um sie wiederzuerkennen. Die Bilanz: mehr als 1.000 Fledermäuse und mindestens 15 verschiedene Fledermausarten, darunter das Große Mausohr, das sich über das Licht der Abenddämmerung orientiert, die Wimperfledermaus mit ihrem wolligen Rückenfell und die Breitflügelfledermaus, die gerne Maikäfer und Schmetterlinge frisst.

In den Tunneln verbringen die Tiere einen Großteil des Jahres, in den Felsspalten halten sie Winterschlaf, hier finden sie Schutz vor Mardern, Eulen und Greifvögeln. Nach Ansicht der Referatsleiter Korta und Raddatz sind die beiden Eisenbahntunnel »national bedeutsame Quartiere« für die Fledermaus. Würden nach all den Jahren wieder Züge durch die Tunnel fahren, würden diese Quartiere zerstört. Die Fledermäuse könnten gegen die fahrenden Züge prallen oder in der Luft verwirbelt werden und innerlich verbluten. Ein Gutachter befürchtet »ein Massaker«.

Kurz, die Inbetriebnahme der Hermann-Hesse-Bahn wäre ein Verstoß gegen Paragraf 44 des Bundesnaturschutzgesetzes, der verbietet, »besonders geschützte Arten« zu verletzen oder zu töten. In Deutschland gelten alle Fledermäuse als »besonders geschützt«.

Der Naturschutzbund Deutschland klagte gegen das Projekt. Zweieinhalb Jahre lang verhandelten Riegger und seine Mitarbeiter mit den Naturschützern. Am Ende fand man eine Lösung. Eine Wand soll die beiden Tunnel in jeweils zwei Teile trennen. Auf der einen Seite sollen die Züge durchfahren, auf der anderen weiterhin die Fledermäuse leben. Nirgendwo in Deutschland gibt es eine solche Konstruktion, aber sie klang vielversprechend, auch für die Naturschützer. Zusätzlich, so das Konzept, sollen bestehende Fledermausquartiere in der Umgebung aufgewertet und neue geschaffen werden. Sogenannte Ausgleichsmaßnahmen, weil nicht auszuschließen ist, dass trotz der Trennwand Fledermäuse sterben. Im Juni 2019 zog der Naturschutzbund seine Klage zurück.

»Der Landrat dachte, jetzt könne alles ganz schnell gehen«, sagt der Referatsleiter Raddatz.

Aber nein. Die Pläne, obwohl aufwendig entwickelt, waren dem Regierungspräsidium zu vage. Ein Beispiel: Damit die Fledermäuse nicht in die falsche Öffnung fliegen, also in den Teil des Tunnels, in dem der Zug sie erfassen kann, müssen sie vergrämt werden. Das Landratsamt schrieb, dafür sollten Sprühnebel, Wind und Schall eingesetzt werden. »Aber nichts davon wurde getestet. Wer kann da sagen, ob das wirklich klappt?«, sagt Raddatz.

Die Beamten verlangten zusätzliche Informationen. Sie wollten auch mehr über die Ausgleichsmaßnahmen für die einzelnen Fledermausarten erfahren.

Man könne jetzt meinen, sagt Daniel Raddatz im Büro, das sei detailversessen. Aber die Details seien wichtig, man müsse die »Brille der Art aufsetzen«, um zu verstehen, was ihr wirklich hilft. Es gebe nun mal den Paragrafen 44. Das Tötungsverbot. »Was hieße das denn, wenn die Verwaltung nicht mehr nach dem Gesetz handelt? Das ist der erste Schritt zum Untergang des Rechtsstaats«, sagt sein Kollege Tobias Korta.

 

Werner Jann, 74, ist einer der renommiertesten Verwaltungswissenschaftler des Landes und der Vorgänger von Sabine Kuhlmann an der Universität Potsdam. Kaum jemand hat mehr zur deutschen Bürokratie geforscht als er. Man erreicht ihn am Telefon, und Jann sagt ziemlich schnell einen Satz, der etwas überraschend kommt.

»Hören Sie bitte auf mit dem Bürokratie-Bashing!«

Genauso wie seine Kollegin Kuhlmann, sagt Jann, sehe er Gesetze, die keinen Sinn ergeben, und Verwaltungsbehörden, die nicht in der Lage sind, komplexe Regeln verständlich zu machen.

Aber, fährt er fort, er könne die billige Schelte auf die Verwaltung nicht mehr hören. »Wenn Politikern nichts mehr einfällt, prügeln sie auf die Bürokratie ein.«

Bevor man aber über die Abschaffung von Gesetzen nachdenke, meint Jann, müsse man sich fragen, warum es sie überhaupt gibt. Man werde feststellen: Die meisten sind Antworten auf gesellschaftliche Probleme, formuliert von der Politik. Dass dabei manchmal absurde Regelungen entstehen, bezeichnet er als »Nebenwirkung«. Nebenwirkung einer Demokratie, die immer feingliedriger auf die immer komplexeren Probleme der heutigen Gesellschaft reagiert.

Etwa auf die Probleme der modernen Nahrungsmittelproduktion. Zwei Autostunden von Volker Josts Metzgerei entfernt brachte eine Wurstfabrik verdorbenes Fleisch in Umlauf. Das war in den Jahren 2018 und 2019. Der Grund: schlechte hygienische Bedingungen. Listerien konnten sich ansiedeln und vermehren. Elf Menschen sollen daran gestorben sein, etliche weitere erkrankten schwer. Der Fall machte bundesweit Schlagzeilen. Es war nicht der einzige Lebensmittelskandal der vergangenen Jahre.

Es gab die BSE-Skandale in den Neunziger- und Nullerjahren: Verseuchtes Rindfleisch verursachte tödliche Hirnschäden bei mehr als hundert Menschen.

Es gab den sogenannten Gammelfleisch-Skandal 2005: Ein Fleischhändler verkaufte tonnenweise verdorbenes und durch Gefrierbrand geschädigtes Fleisch.

Den Dioxin-Skandal 2011: In Futtermitteln von Nutztieren fanden sich gesundheitsschädigende Mengen des giftigen Dioxins.

Den Pferdefleisch-Skandal 2013: In mehreren europäischen Ländern wurde Pferdefleisch als Rindfleisch verkauft – enthalten in Lasagnen, Gulasch, Döner.

Jeder Skandal hatte Folgen. Lebensmittelkontrollen wurden verschärft, neue Gesetze beschlossen.

»Schauen Sie sich den Koalitionsvertrag an«, sagt Werner Jann.

Dort ist 14-mal vom Entbürokratisieren die Rede. Da steht aber auch 291-mal das Wort Schutz. Artenschutz, Klimaschutz, Katastrophenschutz, Rechtsschutz, Investitionsschutz, Datenschutz. Wenn man also über Bürokratieabbau diskutieren will, muss man auch über diese sogenannten Schutzgüter sprechen.

Die Frage ist: Will man weniger Lebensmittelschutz, damit ein kleiner Metzger wie Volker Jost überleben kann?

Will man weniger Artenschutz, damit eine Bahnstrecke schneller gebaut werden kann?

 

Im Regierungspräsidium Karlsruhe legt der Beamte Tobias Korta eine DIN-A4-Seite auf den Tisch. Ein Tortendiagramm mit grünen, orangenen und roten Tortenstücken. Es geht um die »Planetaren Grenzen«. Werden sie überschritten, ist die Stabilität des Ökosystems Erde in Gefahr.

Ein Tortenstück stellt das Artensterben dar. Es ist tiefrot, wesentlich röter als etwa das Tortenstück weiter rechts, die CO₂-Konzentration. Wissenschaftlern zufolge ist weltweit jede achte Tier- und Pflanzenart vom Aussterben bedroht. Für die Ampelregierung ist der Erhalt der Artenvielfalt »eine Menschheitsaufgabe und eine ethische Verpflichtung«.

In Deutschland sind in den vergangenen drei Jahrzehnten 76 Prozent aller Insekten verschwunden, die Nahrung der Fledermäuse. Die Tiere finden weniger zu fressen. Und sie finden kaum noch Winterquartiere. Stillgelegte Stollen werden verschlossen oder gesprengt. Dachböden von Wohngebäuden und Kirchen verdichtet. Höhlenreiche Bäume gefällt.

Daniel Raddatz sagt: »Unsere Aufgabe ist es, zu schauen, dass es mit den Fledermäusen nicht weiter bergab geht.«

Mittlerweile hat das Landratsamt Calw konkretisiert, wie die Fledermäuse vergrämt werden sollen, damit sie nicht mit den Zügen zusammenprallen. Akustikspezialisten und Fledermausexperten wurden konsultiert, eine Firma wurde beauftragt, Lautsprecher mit den richtigen Schallfrequenzen herzustellen. In den Augen der Karlsruher Beamten fehlt nur noch ein Punkt, damit der Bau der Trennwand genehmigt werden kann: die Ausgleichsmaßnahmen.

An einem Dienstag Ende Mai nehmen drei Mitarbeiter des Regierungspräsidiums vor ihren Bildschirmen Platz. Sie sind mit drei Mitarbeitern des Calwer Landrats Helmut Riegger zu einer Videokonferenz verabredet. Zugeschaltet ist auch Christoph Ewen. Ewen, ein promovierter Bauingenieur, ist seit 20 Jahren als Konfliktberater tätig. Im Auftrag von Kommunen und Landesregierungen vermittelt er zwischen Streitparteien, etwa beim Bau von Windkraftanlagen. Oder, seit sieben Jahren schon, bei der Reaktivierung der Hermann-Hesse-Bahn.

In der Konferenz geht es vor allem um zwei Zahlen. 80 Prozent und 100 Prozent. Die Vertreter des Landkreises würden, um schneller voranzukommen, gerne 80 Prozent der erforderlichen Ausgleichsmaßnahmen erfüllen und den Rest nach der Genehmigung. Die Vertreter des Regierungspräsidiums hätten am liebsten 100 Prozent, gerne heute schon. In der Konferenz hört sich das dann so an:

Landkreis: »Wenn wir das jetzt nicht schnell hinbekommen, dann stellt die Politik das Projekt ein. Punkt. Dann haben wir 80 Millionen einfach so ausgegeben. Aber lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.«

Regierungspräsidium: »Um es mal hart zu formulieren: Ihr Zeitplan steht nicht über allem!«

Christoph Ewen: »Wir gehen hier ganz stark auf Kollisionskurs. Meinem Gefühl nach reißt den politisch Verantwortlichen wirklich bald der Geduldsfaden!«

An diesem Tag ist der Grund des Streits eine Datei, die das Regierungspräsidium vor der Konferenz verschickt hat. Dort sind die Fledermausarten aufgelistet, die in den Tunneln leben – versehen mit den Farben Grün, Gelb, Rot. Rot ist zum Beispiel die Breitflügelfledermaus. Für sie ist noch keine Ausgleichsmaßnahme gefunden worden. So sieht es jedenfalls das Regierungspräsidium.

Das Landratsamt sieht es anders. Es würde gerne in einer benachbarten Stadt, in der Breitflügelfledermäuse wohnen, einen verlassenen Trafo-Turm »fledermaustauglich aufwerten«, wie es heißt. Es würde eine Wärmeglocke unter dem Spitzdach einbauen, weil es die Breitflügelfledermaus gerne warm hat, es würde Fledermausbretter anbringen und sehr schmale Einflugschlitze in die Mauern brechen, damit die kleinen Fledermäuse hindurchkönnen, aber keine Tauben.

Eine Angestellte des Regierungspräsidiums, eine studierte Biologin, sagt: »Mir ist bislang nicht bekannt, dass Kolonien von Breitflügelfledermäusen umgestaltete Trafo-Türme nutzen.« Für eine hohe Prognosesicherheit wäre ein anderes Gebäude besser geeignet. Damit sicher ist, dass die Tiere auch wirklich dort einziehen.

Die Antwort aus Calw: Man habe einen Fledermaus-Experten gefragt, der Trafo-Turm sei sehr wohl geeignet.

Der Konfliktberater Ewen schlägt vor, diesen Mann zum nächsten Treffen einzuladen.

Eine Woche später, beim nächsten Treffen, wird der Experte sagen, der Trafo-Turm sei geeignet.

Helmut Riegger und seine Mitarbeiter reichen einen überarbeiteten Antrag auf Planfeststellung ein. Die Beamten des Regierungspräsidiums müssen nun eine Stellungnahme schreiben, ob ihnen die Maßnahmen jetzt genügen. Oder ob Landrat Riegger und seine Mitarbeiter erneut nacharbeiten müssen. Und der Konfliktberater Christoph Ewen erneut vermitteln muss. Ewen sagt, er sei »vorsichtig optimistisch«, dass die größten Barrieren beiseitegeräumt seien. »Die Hesse-Bahn wird fahren, aber möglicherweise nicht so schnell, wie es sich der Landrat wünscht.«

Der hat derweil verkündet: Nächstes Jahr fährt der Zug.

 

Ein verzweifelter Landrat. Ein ratloser Metzger. Und ein Regeldickicht, das wächst und wächst. Die Politik kann, um es zu lichten, ein weiteres Gesetz verabschieden, etwa ein neues Bürokratieentlastungsgesetz.

Sie kann aber auch Unternehmer, Lokalpolitiker und Behörden zusammenbringen, um mit ihnen über die Vorschriften zu diskutieren, die sie belasten. Zum Beispiel den Metzger Volker Jost und das Veterinäramt oder den Landrat Helmut Riegger und das Regierungspräsidium Karlsruhe. »Praxis-Check« heißt dieses Instrument, das vom Wirtschaftsministerium auf Bundesebene entwickelt wurde. Dabei sollen widersprüchliche und praxisferne Regelungen identifiziert – und, wenn möglich, gestrichen werden.

Das Wirtschaftsministerium hat bereits mehrere solche Praxis-Checks organisiert, zum Ausbau von Fotovoltaikanlagen, zur Installation von Wärmepumpen, zur Genehmigung von Windrädern. Es ist ein vielversprechender Schritt. Das findet auch der Verwaltungswissenschaftler Werner Jann. »Aber so leid es mir tut«, sagt er, »es gibt nicht die eine Maßnahme, die das Problem löst.« Bürokratieabbau müsse man als Aufgabe für die gesamte Gesellschaft sehen. Die Politik. Die Verwaltung. Aber vor allem für die Bürger, die einerseits über bestehende Regeln klagen und andererseits neue Regeln einfordern, wenn etwa Menschen durch einen Lebensmittelskandal erkranken.

Im Hochsommer, vier Monate nach der Schließung der Metzgerei in Bruchköbel, verstaut Volker Jost mehrere Portionen Lasagne und eine Tüte voller Wurst in seinem Auto. Er ist auf dem Weg nach Bruchköbel, wo seine Kunden auf ihn warten, denen er die Waren nun nach Hause liefert. Alte Frauen sind darunter, bei denen er erst klingelt und dann klopft und laut seinen Namen ruft, weil sie schlecht hören. Ein alter Mann, der selten da ist, aber immer ein Gurkenglas hinter das Haus stellt, dem Jost sein Geld entnimmt. Und Frau Dittmann, die 94-Jährige, die kaum noch sehen kann und am letzten Tag der Metzgerei vier Scheiben Kochwurst gekauft hat. Sie erkennt Jost nicht sofort.

»Hallihallo! Wer ist denn da?«

»Frau Dittmann, der Metzger!«

»O Gott, meine Haare sind gar nicht gemacht!«

Gerade hat sie im Garten gearbeitet, jetzt sagt sie ein Gedicht auf, das sie selbst geschrieben hat, um »nicht völlig zu verblöden«. Ihre Stimme wird heiser, sie räuspert sich und entschuldigt sich. Sie sei es nicht mehr gewohnt zu sprechen, es gebe kaum Anlässe. Außer der Metzger kommt vorbei.

Die Gardinen der Metzgerei in Bruchköbel sind seit Wochen zugezogen. Auf der Scheibe klebt ein kurzer Abschiedsbrief: »Wir sagen DANKE«. Die vier Parkplätze der Metzgerei hat Volker Jost mittlerweile verpachtet, an den Bäcker und die Pizzeria in der Straße. Die Ladenfläche würde Jost verkaufen, aber bis heute hat sich keiner gefunden, der einziehen will. Für einen Gemüseladen seien die Räumlichkeiten perfekt, findet der Metzger.