LNG-Terminals und Windparks: Was macht die Energiewende mit unseren Küsten?
Von Tobias Schmidt und Leon Grupe
Bis zu zehn LNG-Terminals und noch zehn neue Mega-Windparks: Von Sylt bis Rügen wird die Küstenlandschaft verändert. Das sorgt bei Anwohnern und Touristen für gemischte Reaktionen.
Eigentlich hat Karsten Schneider, parteiloser Bürgermeister des schmucken Binz auf der Ostseeinsel Rügen, stabil gute Laune. Seit dem 24. Januar ist das anders. Da besuchte ihn ein RWE-Manager und entwarf ein verstörendes Zukunftsszenario für das Urlaubsparadies: Fünf Kilometer vor die Küste soll Europas größtes LNG-Terminal gestellt werden. Zwei gigantische Regasifizierungsschiffe, an denen kleinere Tanker hängen, um Flüssiggas hineinzupumpen. Plus Pendelverkehr. Plus eine neue Pipeline ans Festland.
„Das Vorhaben, die Terminals ausgerechnet den fünf Ostseebädern vor die Nase zu setzen, wird hier von vielen Menschen als eine Provokation wahrgenommen“, sagt Schneider. Und: „In Berlin stellt man auch kein zehnstöckiges Toilettenhäuschen vor das Reichstagsgebäude.“
In Berlin, da rühmt sich die Ampel-Koalition für das „Deutschland-Tempo“, mit dem die gigantische Infrastruktur in Nord- und Ostsee hochgezogen und die Energiewende vorangetrieben wird. Denn für den Klimaschutz braucht es Wind- statt Kohlestrom. Und die Flüssiggas-Terminals sollen zu Wasserstoff-Häfen werden, dem CO2-freien Brennstoff der Zukunft. Es gibt also sehr gute Begründungen für die massiven Eingriffe in die Meeres- und Küstenlandschaft.
Aber was machen die Großbaustellen der Energiewende mit den Menschen vor Ort? Was bedeutet es für den Tourismus, wenn die Sehnsucht nach unberührter Natur und freiem Horizont kaum mehr zu stillen sein wird? Wir haben Antworten gesucht, bei Bürgermeistern, Naturschützern, Urlaubern, Gastgebern: Im Ostseebad Binz, in Prerow auf dem Darß, in Wangerland am Wattenmeer. Wir sind auf viel Verständnis getroffen, auf Einsicht, Gelassenheit. Aber auch auf Frust. Und Wut.
Station 1: Anti-LNG-Bewegung auf der Ostseeinsel Rügen: „Wer das vom Strand aus sieht, die schwimmenden Terminals, die Verladeschiffe, den Lärm, die Luftverschmutzung, die Lichtverschmutzung in der Nacht, tja, der kommt vermutlich nicht wieder“, sagt der Binzer Bürgermeister Schneider beim Strandspaziergang vor einem türkis schimmernden Meer. „Und wenn der Tourismus den Bach runtergeht, dann wird die Insel zum Armenhaus. Zehntausende Jobs wären in Gefahr.“
Der 24. Januar wurde zum Erweckungsmoment für die Insel und zum Startschuss für die erste Anti-LNG-Protestwelle in ganz Deutschland. Die Gemeinden taten sich zusammen, eine Bürgerinitiative gründete sich. Von Öko-Aktivisten bis AfD-Rechtsaußen, alle packte der Zorn.
Als Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) gestern zu Gesprächen mit Verbänden und Vertretern der Gemeinden und der Wirtschaft auf die Insel kamen, wurden sie von 600 Demonstranten erwartet. Als Ministerpräsidentin Manuela Schwesig eintrifft, ruft einer von ihnen: „Du hast alle verraten.“ Auf der Insel glauben sie, die Landesregierung in Schwerin war von Beginn an in die Pläne eingeweiht – und einverstanden.
Buhmann ist aber vor allem Habeck. Bislang wurde seine LNG-Politik ziemlich positiv aufgenommen. Jetzt wird plötzlich verhandelt, ob das alles nicht doch total überdimensioniert ist. Plötzlich rücken die Sorgen um Umwelt, Klima und Tourismus in den
Fokus. Das Lob fürs „Deutschland-Tempo“ ist auf der Ostseeinsel umgeschlagen. „Wenn die Regierung auf stur schaltet und an dem Großprojekt ohne Grund und Alternativstandorte festhält, erleben wir hier ein blaues Wunder“, sagt Bürgermeister Schneider und warnt: „Dann werden die Menschen an unserer Demokratie zweifeln und in die falschen Arme getrieben, weil sie sich von denen in Berlin verraten fühlen.“ Mit dem „blauen Wunder“ ist die AfD gemeint. Die liegt hier schon bei 20 Prozent, obwohl Binz boomt.
Habeck hatte zwischenzeitlich einen Alternativstandort für das Terminal ins Auge gefasst, den Hafen Mukran ein paar Kilometer nördlich von Binz. Die Folgen für das Ostseebad wären noch desaströser. Erwogen wird auch, das Terminal weit raus aufs Meer zu schieben. Dann würde man es vom Strand nicht sehen. „Auch das wäre für uns ein No-Go“, sagt Nadine Förster vom Bündnis „Lebenswertes Rügen“. Der Meeresboden würde zerstört, die Sassnitzer Rinne, eine „Herings-Autobahn“, verwüstet. Schweinswale, Kegelrobben, Meeresvögel, alle würden leiden, sagt Förster. Hinzu kommt das Chlor, das für die Reinigung der LNG-Anlagen verwendet wird und ins Meer gelangt.
„Wir wollen nicht zum Industriehafenbecken verkommen. Wir werden uns nicht opfern, um die Energieversorgung für ein paar Jahre sicherzustellen“, sagt Förster. „Wirtschaft und Industrie können Energie sparen. Dann schaffen wir das auch ohne Terminal. Wir sind gegen den fossilen Wahnsinn.“
Gewinnen die Rügener ihre LNG-Abwehrschlacht? Fraglich. Der Haushaltsausschuss des Bundestages hat das Geld für das staatliche Terminal zwar erst mal auf Eis gelegt. Das Wirtschaftsministerium gibt sich schmallippig, spricht weiter von der Prüfung verschiedener Optionen. SPDChefin Saskia Esken machte aber bereits klar: Das Terminal wird gebraucht!
Station 2: Windkraft-Blues in Prerow auf dem Darß: 100 Kilometer westlich von Binz liegt die Halbinsel Fischland- Darß-Zingst. Ein Teil von deren Westküste ist einer dieser verwunschenen Flecken Erde, an denen man sich noch immer wie der erste Mensch vorkommen kann. Im Süden liegt Ahrenshoop, an der Nordspitze ein einsamer Backstein-Leuchtturm, dahinter ein Urwald ohne Straßen, ohne Parkplätze. Davor weißer Sand und das offene Meer.
„Wenn ich nach einem stressigen Tag über die Düne komme, der erste Blick, die Weite, der Strand, der Horizont, wow, das Gefühl von Freiheit, das ist unschlagbar“, sagt René Roloff, Bürgermeister des Ostseebades Prerow, das dem Weststrand am nächsten liegt.
16 Kilometer vor der etwas langweiligen Nordküste steht schon seit zwölf Jahren der Windpark „Baltic 1“. 21 Windräder mit einer Nabenhöhe von 67 Metern. Bei trübem Wetter vom Strand aus kaum zu sehen, bei besonders klarer Sicht wie zum Greifen nah.
Gegen „Baltic 1“ regte sich seinerzeit Protest, der Park wurde dann etwas kleiner gebaut. Das war 2011, noch in der alten Zeit. Inzwischen wurde die Genehmigung für einen neuen Windpark erteilt. „Gennaker“ wird um „Baltic 1“ herum errichtet. 103 Windräder mit 167 Meter langen Rotoren. Kürzester Abstand zur Westküste: 10 Kilometer. Bürgermeister Roloff sagt dazu: „Wenn wir den Windmühlen-Wald da stehen haben, ist es mit dem Gefühl von Freiheit vorbei.“
Der parteilose Kommunalpolitiker und Kunsttischler ist nicht gegen erneuerbare Energien, ganz im Gegenteil. An „Baltic 1“ hat er sich gewöhnt. Ihn treibt auch nicht die Angst vor einem Kollaps des Tourismus um. „Es wird uns nie an Gästen mangeln. Es werden halt andere Gäste kommen.“
Roloff ist enttäuscht und wirkt traurig. Nicht nur, weil er seine Westküste selbst so liebt. Nicht nur, weil durch „Gennaker“ die Gefahr von Schiffsunfällen und Ölkatastrophen steigen könnte, weil sehr viele Zugvögel geschreddert werden könnten. „Viele Gäste kommen auf den Darß, weil sie hier noch die Ursprünglichkeit finden, weil es Stellen gibt, wo der Mensch nicht spürbar ist“, sagt er. Bei Städtern sei die Sehnsucht besonders groß, weil sie ja dauernd von Mauern und Verkehr umgeben seien. Er findet die Sehnsucht berechtigt. Aber: „Das Versprechen, die Sehnsucht am Darß stillen zu können, das stimmt dann nicht mehr.“
Massenproteste wie auf Rügen sind trotzdem nicht zu erwarten. Der Naturschutzbund (Nabu) erwägt noch eine Klage, weil andere als die ursprünglich genehmigten Turbinen eingebaut werden. Die Klagen von Prerow und anderer Gemeinden wurden bislang alle abgewiesen. Bei Angelegenheiten ab der Wasserkante dürfen sie ohnehin kaum mitreden. Die meisten Anwohner schwanken zwischen Gleichgültigkeit und Resignation.
Muss man, um das Klima zu schützen und die Energiewende zu schaffen, die Naturromantik wirklich einfach abhaken? Braucht es diese Mega-Projekte, oder ginge es nicht auch dezentraler, mit Windmühlen für den Hausgebrauch? „Ernsthafte Diskussionen darüber höre ich nicht. Das lässt befürchten, es werden Fakten für die Ewigkeit geschaffen“, sagt Roloff.
Station 3: LNG-Tourismus statt Proteste in Wangerland am Wattenmeer: 400
Kilometer weiter westlich hängt ein milchig grauer Himmel tief über Hooksiel, ein kleiner Ort in der niedersächsischen Gemeinde Wangerland. Hier gibt es viel plattes Land und das Wattenmeer. Seit 2009 ist es Weltnaturerbe und zieht die Touristen in Scharen an.
Und dann gibt es hier noch was Neues zu bestaunen. Der Weg zum Strand führt am Deich entlang. Links grasen Schafe, rechts stehen Wohnwagen. Hinter einer sanften Steigung erscheint die „Höegh Esperanza“, das erste LNG-Terminal Deutschlands. Seit Dezember hilft es, die Gasversorgung sicherzustellen. Ein 294 Meter langer und 46 Meter breiter Kahn. Weltpolitik vor dem beschaulichen Hooksiel. Wenn zur blauen Stunde die Lichter anspringen, liegt das Terminal wie eine Kleinstadt auf dem Wasser. Große Sorgen, der Tourismus könne leiden, hört man trotzdem nicht.
Bernd und Antje Witte stehen bei 10 Grad und mäßigem Wind am Strand, die Wellen schwappen bis an ihre Schuhe. Die beiden haben ihre Handykameras auf die „Höegh Esperanza“ gerichtet. Sie wohnen in Braake und wollen für ein paar Tage am Meer entspannen. Das LNG-Terminal sehen sie zum ersten Mal. Er sagt: „Ich find’s nicht schlimm, eher interessant.“ Sie: „Ich find’s nicht schön, eher gewöhnungsbedürftig.“ Er: „Irgendwo muss es ja hin.“
Am Horizont erkennt man schemenhaft die Insel Mellum, ein Vogelschutzgebiet. Davor markieren Bojen die Fahrrinne, in der sich ein mit mehr als 100 000 Kubikmetern LNG beladener Tanker voranschleppt: Nachschub für die „Höegh Esperanza“, auf der das Flüssiggas regasifiziert wird und von der es durch überirdische Leitungen ans Festland gelangt.
Wolfgang kommt mit seiner Profi-Kamera immer mal wieder aus dem 20 Kilometer entfernten Wilhelmshaven nach Hooksiel. „Als Fotograf fürs Wattenmeer sehe ich das schon kritisch. Auf der anderen Seite kann ich es total nachvollziehen, dass sich in der Energiepolitik was ändern musste, nach Russland Angriffskrieg“, sagt er über das Terminal.
Friesische Gelassenheit. Aber was ist mit denen, die vom Tourismus leben? Im „Zum alten Krug“ fragen die Gäste neugierig nach dem Terminal, sagen die Betreiber Udo und Sabine Jaeckel. Ihre Vermutung, warum das LNG-Monstrum die Besucher nicht abhalten wird, ins Wangerland zu fahren: Der Hafen vom nahen Wilhelmshaven, der ist ja schon lange ein gigantisches Industriegebiet. Und vermutlich haben sie damit recht.
Vom Denkmal für verstorbene Seefahrer hat man den besten Blick. Als der Tanker mit dem Flüssiggas die „Höegh Esperanza“ erreicht, verfolgt hier ein Dutzend Neugierige gebannt das Manöver. Darunter eine vierköpfige Familie auf Fahrrädern und ein älteres Ehepaar mit Ferngläsern. Eine der Schaulustigen sagt, sie mache seit zehn Jahren regelmäßig Urlaub in Hooksiel. Stört sie das LNGTerminal? „Nein“, sagt die Frau, „an dieses Bild habe ich mich schnell gewöhnt.“
Eine andere Touristin weiß gar nicht, dass sie hier so eine Anlage in Windeseile errichtet haben. Für sie hat sich der Besuch dennoch gelohnt.
„Sehr spannend alles, die Logistik und Infrastruktur dahinter.“ Vielleicht ist es das, was die Jaeckels meinten. Der Binzer Bürgermeister fürchtet, das geplante LNG-Terminal werde den Rügen-Tourismus ruinieren. In Hohenkirchen im Wangerland trifft man einen sehr unaufgeregten Peter Podein in seinem Büro. Er ist der allgemeine Stellvertreter des Bürgermeisters. Das LNG-Terminal
begreift der Parteilose als Chance für den „Industrietourismus“ am Nordseestrand, den die Gemeinde „fördern sollte“. Der Widerstand der Rügener will ihm nicht in den Kopf. „Ganz ehrlich, ich sehe die Dramatik nicht.“ Irgendwie müsse die Energieversorgung in Deutschland ja auch ohne russisches Gas gewährleistet werden.
In Wilhelmshaven war die Infrastruktur für das LNGTerminal – anders als vor Rügen – allerdings auch längst vorhanden. Und unberührte Natur gibt es zwischen der Industriestadt und dem Wangerland schon lange nicht mehr.
Mit im Raum sitzt Armin Kanning, Geschäftsführer der Wangerland Touristik. „Maritime Themen sind bei den Leuten der Renner“, sagt er und erzählt von Wattwanderungen bis dicht an die Fahrrinnen der dicken Frachter. „Ship-Spotting“ nennt er das. Mit der „Höegh Esperanza“ könne das ebenfalls gut funktionieren. Dafür will er die LNG-Anlage besser ins Tourismusangebot einbinden, mit „interaktiven Info-Points am Strand“.
Station 4: Windkraft-Pragmatismus in Friesland: Auf den Ostfriesischen Inseln wurde beim ersten Genehmigungsverfahren für einen Offshore-Windpark vor mehr als zehn Jahren das hässliche Wort „Horizontverschmutzung“ geboren. Vor zwei Wochen war Sven Ambrosy, Landrat von Friesland, mit seinem sechsjährigen Sohn auf Wangerooge, der östlichsten
Insel der Gruppe, nördlich von Wangerland. Von der Promenade aus hat er dem Sohn den Windpark „Nordergründe“ gezeigt. Blendende Sicht, sogar Helgoland war zu sehen.
Ambrosy berichtet: „Ich würde behaupten, die Windräder waren, von uns ausgesehen, so sechs Zentimeter hoch. Da muss jeder für sich entscheiden, ob ihn das stört oder nicht.“ Der SPD-Politiker hat eine These: „Offshore hat keine Auswirkung auf das Thema Tourismus.“ Bei den Abständen zu den Inseln und der Küste erwartet er – auch nicht, wenn die Anlagen größer werden – dass der Offshore-Ausbau eine Rolle spielen wird. „Aber natürlich gibt es auf den Inseln immer jemanden, der das hart ablehnt.“
Was ist mit dem nicht mehr einzulösenden Versprechen der unberührten Natur? Was mit der nicht mehr zu stillenden Sehnsucht nach dem freien Horizont? Ambrosy selbst hat die nicht mehr. Fährt er mit seinem Sohn durchs Land, dann vermisst der Knirps sogar Windräder, wo es keine gibt, denn die drehen sich so schön.
„Auch die Touristen haben sich weiterentwickelt“, sagt der Landrat. „Unsere Gäste haben ein erhöhtes Umweltbewusstsein. Sie bewegen sich mit dem Fahrrad. Sie bewegen sich in der Natur. Sie wollen den Nationalpark. Sie sind schon sensibel und sagen, wir wollen nicht, dass das zerstört wird. Aber sie sehen auch die Notwendigkeit des Ausbaus, weil sie Klimaschutz wollen.“
Das Fazit darf Reinhard Sager ziehen. Er ist der Präsident aller deutschen Landkreise, war viele Jahre lang selbst Landrat von Ostholstein. Sager ist ein CDU-Mann, kein Energiewende-Euphoriker und kein Robert-Habeck-Fan. „Eine Überforderung durch LNG-Infrastruktur für die Küsten sehe ich nicht, zumal einige LNG-Terminals nur für den Übergang benötigt werden und nicht für immer bleiben“, sagt er. „Für diese Zeit müssen wir hier und da in den sauren Apfel beißen und die Anlagen akzeptieren.“ Und, als Schlusswort des Landkreispräsidenten: „Und was wäre die Alternative? Ein Kohle- oder Gaskraftwerk will auch niemand vor der Haustür, geschweige denn ein AKW.“ Mit dpa