Als wäre nichts gewesen

von Anne Lena Mösken

Die Rettungssanitäterin Diana Wieprich war zufällig mit ihrem Freund auf dem Breitscheidplatz, als Anis Amri einen Lkw in den Weihnachtsmarkt steuerte und zwölf Menschen tötete. Die beiden gehörten zu den ersten Helfern vor Ort. Sie selbst wurden mit dem Erlebten alleingelassen. Über das Weiterleben nach dem Terror.

Als Diana und Felix am Abend des 19. Dezember 2016 nach Hause kommen, ist es kurz nach halb elf. Sie haben den Bus genommen, haben sich aneinander festgehalten. Ein erschöpftes Pärchen, das vielleicht gestritten hat, so muss das ausgesehen haben, das vielleicht auch einfach nur müde ist vom Weihnachtstrubel. Niemand hat sie angesprochen, niemand hat sich nach ihnen umgedreht.

Mockup des nominierten Textes von Anne Lena Mösken von der Berliner Zeitung-Website
Berliner Zeitung / BDZV

Im Flur ziehen sie ihre Kleider aus, die blutverschmierte Hose, die dreckigen Schuhe. Ich muss etwas essen, sagt Felix. Er macht sich eine Tiefkühlpizza. Diana bekommt irgendwie ein Stück Toast herunter. Dann schalten sie die Nachrichten ein, hören zum ersten Mal das Wort "Terror". Sie rufen ihre Eltern an. Einen Freund, der im Fernsehen gesehen hat, wie Felix neben dem Lkw stand. Die Freundin, bei der sie am Nachmittag zu Besuch waren und Apple Crumble gegessen haben; die wusste, dass Diana Felix den Weihnachtsmarkt zeigen wollte. Dann gehen sie schlafen. Es ist kurz nach Mitternacht.

"Mir war schon bewusst, dass es abstrus war, wie wir uns verhalten haben", sagt Diana, "dass da noch was kommen wird. Man steht auf, geht arbeiten, isst was, geht schlafen, steht auf, geht arbeiten. Und merkt irgendwie, langsam musst du mal eine Reaktion zeigen. Es kommt aber nichts. Das hat mir Angst gemacht."

Wie geht das Leben weiter nach dem Terror? Ein halbes Jahr ist es jetzt her, dass der Tunesier Anis Amri einen Lkw in den Weihnachtsmarkt auf den Berliner Breitscheidplatz gesteuert hat, zwölf Menschen tötete und fünfundfünfzig verletzte, viele davon schwer. Seitdem ist die Stadt mit der Aufarbeitung des Anschlags beschäftigt. Es geht um große Fragen, es geht um Verantwortung. Hätte der Anschlag verhindert werden können? Hätten die Behörden Anis Amri, der als Gefährder galt und vermutlich bandenmäßig mit Drogen handelte, verhaften und abschieben können? Versuchte das Landeskriminalamt zu vertuschen, dass es Amri im Visier hatte und trotzdem nichts unternahm, um ihn aufzuhalten?

Nur manchmal geht es noch um die Opfer des Anschlags, die Überlebenden, die Angehörigen. Dann ist von den Entschädigungen die Rede oder von den Behörden, die auch hier nicht alles richtig machten. Tagelang ließen sie die Menschen auf die Todesnachrichten ihrer Angehörigen warten; erst nach Wochen gelang es, eine Ausnahmeregelung für das Opferentschädigungsgesetz zu schaffen, das bisher nicht griff, wenn die Tatwaffe bei einem Anschlag ein Lkw war.

Worum es bei alldem nicht geht: Was macht der Terror mit einem Leben?

Am Wochenende nach dem Anschlag fährt Diana mit einer Freundin raus aus der Stadt. Sie schaltet das Handy aus, sie geht schwimmen, schwitzt in der Sauna, sie ist weit weg. Sie verdrängt, was sie gesehen hat. Nur die Jacke, die sie am Abend des Anschlags trug, kann sie nicht anziehen. Irgendwas sträubt sich in ihr.

Als sie zurück in Berlin ist, trifft sie Freunde zum Abendessen. Am Nebentisch bestellen sie Sekt, die Kellnerin stolpert, Gläser fliegen, die Gäste schreien. Diana wird schlecht, Tränen schießen ihr in die Augen. Plötzlich ist sie wieder auf dem Breitscheidplatz, sieht wieder alles vor sich. Die Verletzten. Die Toten.

Diana, 24, und Felix, 27, fahren an jenem Abend mit dem Bus den Kurfürstendamm hinunter, ein Spalier aus Lichtern, glitzernde Weihnachtswelt. Felix filmt die Fahrt mit dem Handy. Diana hatte den Tag über frei, hatte sich krankschreiben lassen. Ein Nerv ist eingeklemmt, sie kann den Hals kaum drehen. Sie arbeitet als Anästhesiepflegerin im Krankenhaus. Die vielen Stunden im OP, die kalte Luft dort, die Nachtschichten. Es gibt Tage, da schlafen die Patienten friedlich ein und wachen genauso wieder auf; und es gibt Tage, an denen sie einen Notfall nach dem anderen hat. Wenn es zu viele von diesen Tagen gibt, geht es ihr manchmal nicht so gut. Dann sorgt sie selbst dafür, dass sie wieder klarkommt, so wird das von einem Profi wie ihr erwartet.

Diana, 24, und Felix, 27, fahren an jenem Abend mit dem Bus den Kurfürstendamm hinunter, ein Spalier aus Lichtern, glitzernde Weihnachtswelt. Felix filmt die Fahrt mit dem Handy.

Diana hatte den Tag über frei, hatte sich krankschreiben lassen. Ein Nerv ist eingeklemmt, sie kann den Hals kaum drehen. Sie arbeitet als Anästhesiepflegerin im Krankenhaus. Die vielen Stunden im OP, die kalte Luft dort, die Nachtschichten. Es gibt Tage, da schlafen die Patienten friedlich ein und wachen genauso wieder auf; und es gibt Tage, an denen sie einen Notfall nach dem anderen hat. Wenn es zu viele von diesen Tagen gibt, geht es ihr manchmal nicht so gut. Dann sorgt sie selbst dafür, dass sie wieder klarkommt, so wird das von einem Profi wie ihr erwartet.

Vor acht Jahren hat Diana angefangen, ehrenamtlich bei den Johannitern zu arbeiten, 2013 machte sie eine Ausbildung zur Rettungssanitäterin. Karneval der Kulturen, Blütenfest, Konzerte, Marathon. Kinder mit Schürfwunden, Rentner, die stürzen, erschöpfte Läufer. An ihrem ersten Tag beim Rettungsdienst sah sie ihren ersten Toten. Kein schöner Anblick; er hatte mehrere Wochen in seiner Wohnung gelegen. Ein paar Stunden später dann eine alte Frau. Sie war friedlich eingeschlafen.

Diana liebt diese Arbeit. Sie ist gut darin, schnell zu handeln, wenn es darauf ankommt. Sie wird dann ganz ruhig, sie hat ihren Körper jahrelang darauf trainiert, genau zu wissen, was zu tun ist. Sie will Medizin studieren. „Diana ist jemand, der den einzelnen Menschen wichtig nimmt“, sagt Felix. „Darum geht es in unserem Beruf: nicht um die Krankheit, um den Menschen.“

Die beiden haben sich auf einem Festival kennengelernt, auch Felix ist Sanitäter, beide waren zum Dienst eingeteilt. Dann brach ein Unwetter aus, Zehntausende junge Menschen übernachteten in Turnhallen statt in Zelten. Diana und Felix waren dreißig Stunden wach, danach stieg er nicht in den Zug nach Oldenburg, wo er lebt, sondern fuhr mit Diana nach Berlin, um noch ein bisschen länger bei ihr zu sein. Seitdem sind sie ein Paar.

Als Felix am 19. Dezember zu Besuch ist, sind sie ein halbes Jahr zusammen. Sie schlendern über den Weihnachtsmarkt, Hand in Hand. Sie trinken Glühwein. Sie kaufen jeder ein Stück Bergkäse. Auf der Treppe vor der Gedächtniskirche bleiben sie stehen. Es ist jetzt kurz vor acht. Sie haben Hunger. Der Kühlschrank zu Hause ist so gut wie leer. Sie beschließen, auf dem Weihnachtsmarkt zu essen. Komm, sagt Diana zu Felix, ich zeige dir erst noch etwas. Am Eingang steht eine riesige Weihnachtskugel, in der man Selfies schießen kann. Doch die Kugel ist besetzt. Also kehren sie um, zurück zu den Essensständen.

Später wird Diana jeden ihrer Schritte immer wieder durchgehen. Was wäre gewesen, wenn. Wenn sie den Käse nicht gekauft hätten. Wenn sie nicht stehen geblieben, nicht umgekehrt, wenn sie einfach nach Hause gefahren wären. Es ist ein sinnloses Spiel, bei dem sie am Ende immer an demselben Punkt anlangt: dass es verdammt knapp war.

Als dieser Gedanke zum ersten Mal bei ihr ankommt, ist der Anschlag zwei Tage her. In den Nachrichten hört sie, dass nur das Bremssystem verhindert hat, dass der Lkw weiterraste. „Dass ich selbst hätte sterben können“, sagt Diana, „das saß.“

Mit einem Mal erträgt sie den Alltag nicht mehr, das ständige Gehetze im OP, nicht aus Not, sondern weil das Tagessoll erfüllt werden muss. Sie nimmt sich Zeit für die Patienten, wird dafür angeraunzt. Sie lässt alles fallen und rennt auf den Flur, nur raus. Ist mir alles egal, denkt sie, ich lebe.

Natürlich hat sie ihren Kollegen erzählt, dass sie auf dem Breitscheidplatz war, gleich am Tag danach, als sie zur Arbeit kam. In Berlin war der Katastrophenfall ausgerufen worden, die Verletzten wurden auf die Krankenhäuser verteilt. Kollegen waren zum Dienst einbestellt worden. „Ich hatte das Gefühl, dass es keine Rolle gespielt hat, dass ich da war“, sagt Diana. Es gab noch andere Kollegen, die an diesem Tag auf dem Weihnachtsmarkt waren, drei Stunden vor dem Anschlag, eine Stunde vorher. „Das wurde irgendwie verglichen“, sagt sie. „Aber man kann da sein – und man kann da sein. Fast niemand hat die Tragweite verstanden.“ Die Verletzungen, die Diana an jenem Abend davontrug, sind für niemanden sichtbar.

Felix und Diana stehen hinter der Gedächtniskirche, als Anis Amri einen fünfundzwanzig Tonnen schweren Sattelzug in den Weihnachtsmarkt steuert.

„Wir waren so nah dran und gleichzeitig so weit weg“, sagt Diana. Sie hören keinen Knall, keine Schreie. Sie schlendern weiter, der Katastrophe entgegen.

Sie sehen ein Paar, das sich weinend in den Armen liegt. Betrunkene, denkt Felix. Diana nimmt eine Unruhe wahr, wie es sie gibt, wenn in einer Menschenmenge eine Schlägerei ausbricht. Irgendwas liegt in der Luft. Ein Mann kommt ihnen entgegen, er ist klitschnass, er schleppt eine Kasse. Felix hört noch, wie er sagt: „Es ist alles kaputt.“

Dann hält sie ein Pärchen auf: „Geht nicht weiter, da vorne ist etwas passiert.“ – „Gibt es Verletzte?“, fragt Felix. Die beiden nicken. Diana und Felix laufen los.

Sie konnten nicht anders, sagen sie hinterher. Für genau diesen Moment sind sie ausgebildet, haben Lehrgänge besucht, in denen sie geschult wurden darin, wie sie sich zu verhalten haben, wenn es viele Verletzte auf einmal gibt.

Diana sagt, sie habe sofort gewusst, dass es ein Terroranschlag war. Nizza war erst ein paar Monate her. "Es war doch klar, dass es irgendwann auch Berlin treffen würde", sagt sie. Nur dass er vor den eigenen Augen geschehen kann, das bleibt immer unvorstellbar. Felix glaubt in diesen Minuten noch immer an einen tragischen Unfall.

Spielt es in so einem Moment eine Rolle, was eigentlich passiert ist? Nein, sagt Diana. "In so einem Moment denkt man nicht nach. Man funktioniert."

Zu diesem Zeitpunkt ist alles unklar: Wo der Attentäter ist, ob es Sprengsätze auf dem Platz gibt, am Lkw, wie damals 2004 in Madrid, als Terroristen in der U-Bahn Bomben zeitverzögert zündeten, um die Rettungskräfte auch noch zu erwischen. Ins Bataclan ließ die Pariser Polizei zuerst nur Ärzte, die einer speziellen Anti-Terroreinheit angehörten. In Berlin wurden die Helfer mitten in ein Gefahrengebiet geschickt, das niemand überblicken konnte.

Ein Polizist stellt sich Diana und Felix in den Weg. Wir sind Sanitäter, sagen sie. "Tut, was ihr könnt", sagt der Polizist, dann lässt er die beiden durch.

Vor Helfern, die als erstes an einem Ort mit einer großen Anzahl von Verletzten eintreffen, liegt eine unmenschliche Aufgabe. Es gibt ein Wort dafür: Triage. Das Sichten. Das Prinzip dahinter wurde im Krieg entwickelt. Verwundete werden nach der Schwere ihrer Verletzungen eingeteilt, damit die dringlichsten Fälle zuerst behandelt werden können. Es geht dann nicht mehr darum, den einzelnen Menschen zu retten, sondern soviele wie möglich.

Nach diesem Prinzip müssen Sanitäter heute bei zivilen Katastrophen vorgehen. Sie sind befreit von der Pflicht, Hilfe zu leisten, damit am Ende möglichst viele überleben. Wem kann überhaupt noch geholfen werden? Für wen wird es zu spät sein, wenn die Rettungskräfte eintreffen? Wer wird den Transport ins Krankenhaus nicht überleben?

Das zu beurteilen ist die Aufgabe der ersten Helfer. Sie greifen nicht ein, sie sichten. Und müssen binnen Sekunden entscheiden, wer leben wird und wer nicht.

Diana geht nach links, Felix nach rechts, wo der Lkw steht. Sie arbeiten schnell und konzentriert. Sie teilen die Menschen in vier Kategorien ein: grün, gelb, rot, blau. So ist es vorgeschrieben. Um sie herum wird es langsam still, wer konnte, ist weggerannt. Jemand muss die Musik ausgestellt haben. Auf der Straße fahren keine Autos mehr. "Es war wie unter einer Glaskuppel", sagt Felix.

Diana streift sich Handschuhe über, sie hat immer ein Paar in der Tasche dabei, in einem kleinen gelben Plastikei. Felix greift mit bloßen Händen zu, zieht zwei Tote unter dem Lkw hervor. Irgendwann sind seine Hände voller Blut.

Die Schneise, die der Lkw in den Weihnachtsmarkt gerissen hat, ist siebzig, vielleicht achtzig Meter lang. Als der erste Rettungswagen eintrifft, sind sie den gesamten Weg einmal abgeschritten, haben die Toten gezählt, jeden der Verletzten angesprochen, seine Atmung überprüft, den Puls, seine Wunden, ein paar Worte gesagt. "Bleiben Sie ruhig, es kommt gleich Hilfe."

Diana ist froh, dass sie in diesem Chaos eine Aufgabe hat, dass all die Jahre, in denen sie für einen Moment wie diesen trainiert hat, jetzt dafür sorgen, dass sie weiß, was sie tun muss. Nicht stehen bleiben, immer weitergehen. Grün. Gelb. Rot. Blau.

Die meisten Verletzungen kennt sie. Sie hat schon viel gesehen. Auch hinterher wird sie sagen, dass ihre Entscheidungen fachlich richtig waren. Und es wird ihr trotzdem nicht helfen. Weil das Framing nicht stimmt, der Rahmen, in dem sie sich bewegt. Sie steht nicht im OP, sie hat nichts, mit dem sie helfen kann, außer ihren Händen. Sie trägt keine Sanitäterjacke, die sie nach der Schicht wieder ausziehen kann. Sie war mit ihrem Freund auf dem Weihnachtsmarkt, ein friedlicher Ort voller Musik und bunter Lichter. Jetzt steht sie mitten in einer Katastrophe. Sie fühlt sich hilflos, jeder Tote, den sie zählt, macht sie wütend und verzweifelt.

Sie sieht einen Mann, der versucht, einen Verletzten wiederzubeleben. Sie sieht, dass er keine Chance hat. Sie will dem Mann sagen, er soll aufhören. Sie brauchen seine Hilfe woanders. Aber am Kopf des Verletzten kniet eine Frau, sie weint, vielleicht ist es die Tochter, vielleicht die Ehefrau. Wie kann sie ihr sagen, dass es keine Hoffnung mehr gibt? Diana läuft weiter.

Dann geschieht ein kleines Wunder. Die beiden Sanitäter, die in dem ersten Rettungswagen sitzen, der am Breitscheidplatz eintrifft, kennen Diana. Sie haben mit ihr zusammengearbeitet, der eine der beiden ist bei den Johannitern. Sie wissen, dass sie ihr trauen können, lassen sich von Diana und Felix zeigen, wo die Toten liegen, wo die Schwerverletzten. Wo sie als erstes helfen müssen. Geben ihnen Karten mit den Farben der vier Kategorien, die sie neben die Verletzten legen. Es sind viel zu wenige.

Felix rennt wieder zum Lkw, wo er eine Frau mit einem abgetrennten Bein zurückgelassen hat. Diana bleibt bei den beiden Sanitätern. Zusammen mit einer jungen Ärztin, die wie Diana zufällig auf dem Weihnachtsmarkt war, kümmern sie sich um eine Frau, die eine große Wunde in der Leistengegend hat. Sie ist nur ein paar Jahre älter als Diana. Die Ärztin legt einen Zugang, die Frau erhält eine Infusion. Diana drückt Kompressen auf die Wunden. Dann bringen sie die Frau in den Rettungswagen, die Ärztin steigt ein.

"Danach war ich im freien Fall", sagt Diana. "Keiner kannte mich." Ihre hohen Stiefel, die Handtasche. Sie sieht an diesem Abend nicht so aus wie eine, die Leben retten kann.

Der Notdienst ist eine Männerwelt. Frauen sind Krankenschwestern, die allenfalls Händchen halten. Die Drecksarbeit erledigen die harten Jungs.

Diana läuft durch die Schneise, stellt sich immer wieder bei den Rettungskräften vor: "Ich kann helfen." Und wird weitergeschickt. Felix hat irgendwer ein Stethoskop um den Hals gelegt. Er ist ein großer Mann mit breiten Schultern, er sieht aus wie ein Arzt. Ihn nimmt man ernst. Als sie sich irgendwann wieder treffen, steht Diana verzweifelt vor ihm: "Gib mir das Stethoskop, sonst sieht mich keiner." Aber da ist es schon fast vorbei.

"Ich hätte mehr tun können, wenn man mich gelassen hätte", sagt sie. Es ist ein quälender Gedanke. Er lässt sie nicht los. Auch nach Wochen nicht. Sie fühlt sich hilflos. Dabei hat sie getan, was sie konnte. Sie weiß das, aber sie kann es nicht fühlen.

Immer wieder geht sie zu den Verletzten, die für sie jetzt Patienten sind, fragt, wie es ihnen geht. In einer Bude, die noch steht, warten die Leichtverletzten. Feuerzangenbowle steht über dem Eingang, drinnen ist es warm. Diana schaut immer wieder nach, ob jemand das Bewusstsein verloren hat, hilft den Menschen in den Bus, der sie ins Krankenhaus bringt.

Es ist kurz nach zehn, als ein Polizist sie nach Hause schickt. Er führt Felix und Diana zur Absperrung. Der Breitscheidplatz ist jetzt ein Tatort. Sie haben noch das Stethoskop, eine Blutdruckmanschette, Verbandszeug. Dürfen wir das zurückbringen, fragen sie. Der Polizist schüttelt den Kopf. Sie müssen gehen. Er will nicht wissen, wer sie sind, schreibt ihre Namen nicht auf. Er fragt nicht, wie es ihnen geht. Ob sie selbst Hilfe brauchen, jemanden zum Reden.

Der Regionalpfarrer der Johanniter ist zum Breitscheidplatz gekommen. Er kümmert sich mit Dutzenden Ehrenamtlichen um die psychologische Betreuung der Menschen. Von Diana und Felix erfährt er nichts. Sie passen in keine Kategorie: Opfer, Überlebende, Angehörige. Polizisten, Rettungssanitäter, Feuerwehr. Diana und Felix hat es an diesem Abend nicht gegeben. Auch nicht die anderen Ärzte und Helfer, die wie sie nur durch Zufall auf dem Breitscheidplatz waren. Niemand weiß, wie viele es waren, eine Handvoll, ein Dutzend. Sie sind allein mit dem, was sie erlebt haben.

Studien zeigen, dass das Risiko seelischen Leidens nach einem Unglück am größten für die Überlebenden ist. Am zweitgrößten ist es für die ersten Helfer. Ausgerechnet sie hatte an jenem 19. Dezember niemand im Blick.

Als Diana und Felix an der Bushaltestelle stehen, merken sie, dass das Leben in der Stadt einfach weitergegangen ist. Nur die leuchtende Werbetafel über dem Platz, von der Felix noch ein Foto gemacht hat, bevor sie auf den Weihnachtsmarkt gegangen sind, ist jetzt schwarz. "Halten Sie die Rettungswege frei", steht da. "Bleiben Sie zu Hause und verbreiten Sie keine Gerüchte."

Am nächsten Tag fährt Felix zurück nach Oldenburg. Er hat eine Fortbildung. Das Thema: Wie geht man mit Massen von Verletzten um. Die Kollegen fragen ihn aus. Was ist passiert? Was hast du gesehen? Sag Bescheid, wenn du ein Bierchen trinken, mal alles rauslassen willst. Er redet und redet. "Das war, als ob man rotzevoll ist und kotzen geht", sagt er, "dann geht es einem am nächsten Tag viel besser."

Abends ruft er Diana an. "Irgendwie interessiert das hier niemanden", sagt sie. Er ist fassungslos. Er spürt, dass es ihr nicht gut geht. Doch er ist weit weg, kann sie nicht in den Arm nehmen, kann ihr nicht helfen.

Diana hängt in der Luft. "Alles dreht sich weiter, geht seinen Gang", sagt sie, "nur man selbst kann nicht mitlaufen." Sie ist angespannt und gereizt. Es war doch gut, dass du da warst, sagen Kollegen. Dann könnte sie ausrasten. "Was soll daran gut gewesen sein?", sagt sie.

An Weihnachten fährt sie zu ihrer Mutter. In ihren Armen bricht Diana zusammen. Das Gefühl, überlebt zu haben, überwältigt sie. Sie weint. Um all die Menschen, die gestorben sind. Denen sie nicht helfen konnte. Um sich selbst. Sie ist ganz allein mit ihrer Schuld.

Immer wieder tauchen jetzt die Bilder auf. Die Frau ohne Kopf. Eine alte Dame, die an einer Bude zwischen lauter persischen Kissen liegt und vom Krieg spricht. Die Frau, die weinend versucht, den toten Mann allein wiederzubeleben, Diana anschreit: Warum macht ihr nicht weiter? Wie sie durch die Schneise läuft, ausrutscht, immer wieder an derselben Stelle, irgendwann auf den Boden schaut und ein großes Stück Haut entdeckt. Als ihr Vater ein Stück Innereien vom Weihnachtsbraten auf ihren Teller legt, übergibt sie sich beinahe.

Nach dem Aufschrei im Restaurant, nach dem ersten Flashback, hat sie sich einen Schnaps bestellt. Jetzt ahnt sie, dass sie Hilfe braucht, dass sie es alleine nicht schafft, mit dem Erlebnis fertig zu werden. Sie ruft die beiden Sanitäter an, die als erstes am Breitscheidplatz waren. Sie vereinbaren ein Treffen. Krisenintervention heißt das, wenn Helfer nach einem schweren Einsatz selbst professionelle Hilfe bekommen. Bei den Johannitern gibt es dafür ausgebildete Leute. Doch von denen meldet sich keiner. Diana und Felix organisieren die Sitzung selbst.

Wochen später gelingt es ihnen auch, die junge Ärztin zu finden, mit der Diana sich um die verletzte Frau gekümmert hatte. Auch sie war an jenem Abend einfach nach Hause geschickt worden. Sie rief dann bei der Polizei an, zufällig war der Regionalpfarrer der Johanniter in der Nähe. Noch am selben Tag saß ein Seelsorger bei der Ärztin im Wohnzimmer. Es war Glück, dass das grobmaschige Hilfsnetz sie auffangen konnte.

Die Gespräche mit den Kollegen, mit der Ärztin helfen Diana. Sie haben dasselbe erlebt, ihnen muss sie nichts erklären. Sie ruft einen Freund an, der Pfarrer ist. Zusammen gehen sie auf den Breitscheidplatz. Es ist der vorletzte Tag des Jahres. Die Stadt hat zu diesem Zeitpunkt schon entschieden, dass alles weitergeht wie bisher. Der Weihnachtsmarkt ist wieder geöffnet. Das soll signalisieren: Wir lassen uns unsere Freiheit nicht nehmen. Für Diana und Felix sind das leere Worthülsen. Sie stehen zwischen den Buden und sehen alles wieder vor sich. Sie weinen zusammen. Der Pfarrer spricht ein Gebet: "Gott, wir sind dankbar, dass du uns vor dem Schlimmsten bewahrt hast. Wir sind dankbar, dass wir helfen konnten. Zugleich weinen wir um die, denen wir in ihrer Not nicht gerecht werden konnten. Wir weinen und beten für sie." Diana und Felix finden in diesen Worten Trost, auch wenn sie nicht religiös sind.

Nach Neujahr bleibt Diana eine Woche lang zu Hause. Als sie wieder auf die Arbeit kommt, fragen die Kollegen: Bist du wieder gesund? Sie findet die Frage absurd. "Als hätte ich einen Schnupfen gehabt", sagt sie. Manchmal wird sie gefragt: Was ist mit dir? Warum bist du so schlecht drauf? Hast du Ärger mit deinem Freund? Das macht sie fassungslos. "Das Leben geht doch für mich nicht einfach weiter", sagt sie. "Warum versteht denn niemand, dass ich nach allem, was ich mitangesehen habe, nicht immer gut gelaunt bin?"

Es gibt gute Tage, sie werden mit der Zeit immer mehr, dazwischen sind die schlechten Tage, auch nach Wochen noch, nach Monaten. "Dann läuft nicht alles gut, und da ist die Welt nicht schön und bunt. Da ist die Welt einfach nur scheiße", sagt sie.

Anfang Februar, an einem dieser schlechten Tage, kommt sie abends nach Hause, sie hat den ganzen Tag über ihren Puls rasen gefühlt, die Arbeit war anstrengend, sie ist genervt von den Katzen ihrer Mitbewohnerin, es sind Kleinigkeiten, aber es kommt alles zusammen. Sie sitzt auf ihrem Bett und bekommt keine Luft mehr, die Bilder vom Breitscheidplatz überfluten sie. Nach ein paar Minuten ist alles wieder vorbei. Sie ruft Felix an und weint.

Auch er hat diese Flashbacks, steht auf einem Rockkonzert mit dem Rücken zur Wand, zuckt zusammen, als er auf einem nassen Stück Rasen ausrutscht. Aber die Erinnerungen überwältigen ihn nicht. Der erste Tag, an dem er keine Gesichter mehr vor sich sieht, kommt schneller als bei ihr.

Irgendwann gelingt es ihr, zumindest ihren Freunden klarzumachen, wie es ihr geht. Dass jedes Mal alles hochkommt, wenn wieder ein Anschlag passiert. Und es passiert fast jede Woche. London. St. Petersburg. Stockholm. Manchester. London. Sie kann das nicht von sich fernhalten, selbst wenn sie es versucht. Ein Freund ruft sie jetzt jedes Mal an, wenn die Nachrichten wieder voll sind mit Terror.

Diana beschließt, zu Felix nach Oldenburg zu ziehen. Sie hält es in Berlin nicht mehr aus, kann ihren Kollegen nicht verzeihen, dass sie ihre Geschichte nicht hören wollen, sie nicht ein Stück abgeben lassen von der Last, die sie trägt. "Die Zeit danach", sagt sie, "war für mich schlimmer als der Anschlag selbst." Sie wartet noch immer darauf, dass jemand anruft und sagt: Danke, dass ihr da wart. Aber es meldet sich niemand.