„Wir lassen zu, dass Plattformen unsere Demokratie aushebeln“
BDZV-Interview mit dem Medienwissenschaftler Martin Andree über die (Meinungs-)Macht digitaler Monopole und die Gefahren für die Demokratie.
Den Redaktionen der BDZV-Mitgliedsverlage steht das Interview zum kostenfreien Abdruck zur Verfügung. Es ist ihnen freigestellt, den Text um einzelne Fragen zu kürzen.
Das Interview führte Dr. Andrea Gourd, Leiterin Fachkommunikation und stv. Leiterin Kommunikation beim BDZV.
Im Netz tobt ein politischer Machtkampf um die Kontrolle der öffentlichen Meinung, sagt Martin Andree. Der Medienwissenschaftler warnt vor einer gefährlichen Machtverschiebung: weg von demokratischer Legitimation hin zu Konzernen, die mit Algorithmen Meinung und Stimmung lenken. In seinem Buch „Krieg der Medien. Dark Tech und Populisten übernehmen die Macht“ fordert Andree: Wir dürfen nicht zusehen, wie Plattformen und Populisten unsere Demokratie untergraben. Ein Gespräch über digitale Monopole, Meinungsmacht und Verantwortung.
Herr Andree, Sie sprechen von einem Kampf um die Medienherrschaft. Wer kämpft hier gegen wen?
Am sichtbarsten ist der aktuelle Wirtschaftskrieg: Tech-Monopole drücken die redaktionellen Medien an die Wand, indem sie ihnen im Netz die Finanzierungsgrundlage entziehen und so den Journalismus austrocknen. Neben diesem „Krieg um die Medien“ gibt es einen „Krieg in den Medien“, der unsere Gesellschaft spaltet. Die digitalen Plattformen verstärken gezielt polarisierende Inhalte und extreme Positionen, was die gesellschaftliche Mitte zum Schweigen bringt. Dieser Krieg wird offen geführt: So nutzt Elon Musk die Plattform X, um Wahlkampf für die AfD zu machen, während die US-Regierung die AfD als „zivilisatorischen Alliierten“ bezeichnet. Das Ziel ist klar: die EU destabilisieren und trumpistische Partner-Regierungen aufbauen.
Sie sagen, die digitale Öffentlichkeit sei längst „invasiv übernommen“ worden. Was ist passiert – und warum haben wir es so lange nicht bemerkt?
Monopole beherrschen die digitalen Medien: Google dominiert 90 Prozent des Suchmaschinenmarktes, Meta etwa 85 Prozent von Social Media. Damit kontrollieren die Tech-Konzerne die digitale politische Öffentlichkeit in Deutschland und Europa. Sie bestimmen, wer welche Inhalte zu sehen bekommt. Hinzu kommt: Rund 60 Prozent unserer medialen Aufmerksamkeit findet inzwischen digital statt. Diese extreme Bündelung von Meinungsmacht wäre analog niemals zulässig gewesen. Digital hat man sie geschehen lassen. Das ist verfassungswidrig.
Viele Menschen halten Social Media für einen Ort, an dem jeder seine Stimme erheben kann. Sie widersprechen. Warum?
Weil der Eindruck täuscht. Ja, jeder darf theoretisch sprechen – aber nur unter Bedingungen, die allein die Plattform-Eigentümer festlegen. Sie kontrollieren einseitig das digitale Forum. Damit wird den Menschen in Wirklichkeit ihre Stimme genommen. In Demokratien durften Bürger zu allen Zeiten die Bedingungen mitgestalten, unter denen wir miteinander Informationen austauschen. Jetzt bestimmen die Tech-Monopolisten die Regeln. Die demokratische Gemeinschaft ist ausgeschlossen.
„Die vermeintliche Freiheit in sozialen Netzwerken ist in Wahrheit Entmachtung. Die Plattformen alleine entscheiden, was sichtbar wird.“
Dann ist das Freiheitsversprechen der sozialen Netzwerke eine Illusion?
Es ist eine Schein-Emanzipation. Sie verdeckt, dass die Menschen in Wirklichkeit sehr weitgehend entmachtet werden. Denn im Maschinenraum ziehen die Tech-Oligarchen die Fäden. Sie entscheiden, was sichtbar wird und was untergeht.
Wenn Algorithmen entscheiden, was wir sehen, erinnert das an Zensur. Zu Recht?
Ich vermeide den Begriff „Zensur“, weil er von rechtspopulistischen Kräften missbraucht wird. Klassische Zensur – also staatliche Kontrolle vor Veröffentlichung – gibt es nicht. Das ist im Grundgesetz auch klar festgelegt. Was wir erleben, ist etwas anderes: die systematische Manipulation von Sichtbarkeit nach einem klaren rechtslibertären Drehbuch. Moderate Stimmen verschwinden, extreme werden verstärkt. Wissenschaftliche Studien belegen, dass in Deutschland besonders die AfD davon profitiert. Das überrascht angesichts der massiven inhaltlichen Ähnlichkeiten zu den Positionen von Trump und Tech kaum.
Elon Musk und Mark Zuckerberg sprechen dagegen von „unbegrenzter Meinungsfreiheit“ auf ihren „unzensierten Plattformen“. Wie passt das zusammen?
Je radikaler dieser „Absolutismus der Meinungsfreiheit“ à la Musk durchgesetzt wird, desto stärker dominieren verbale Brutalos und organisierte Shitstorms. Sie verbreiten hemmungslos auch strafbare Inhalte wie Rassismus, Diskriminierung und Verleumdung, was die polarisierenden Algorithmen noch verstärken. Dabei wird die gesellschaftliche Mitte so sehr eingeschüchtert, dass sie zunehmend verstummt. Untersuchungen zeigen, dass sich zwischen 20 und 50 Prozent der Bürger aus Angst vor Angriffen seltener oder gar nicht mehr öffentlich äußern. Wir müssen Meinungsfreiheit aber nicht nur für eine winzige Minderheit von aggressiven Trollen sichern, sondern für alle Menschen in Deutschland.
Was folgt daraus politisch?
Die rechtslibertären Ideologen hinter Big Tech benennen ihre Ziele offen: Sie wollen die „lästigen“ Kontrollmechanismen der Demokratie abschaffen, also Gewaltenteilung und Rechtsstaat. Sie streben eine Herrschaft von CEO-Königen an, die viel schneller und „effizienter“ durchregieren, als es unter demokratischen Bedingungen möglich wäre. Was wir in den USA derzeit erleben, zeigt, wie weit dieser Umbau bereits vorangeschritten ist.
Welche Rolle spielen KI-generierte Inhalte, die immer stärker das Netz fluten?
KI-generierte Inhalte sind für die Inhalteanbieter quasi der Genickschuss. Neue Studien zeigen: Je mehr KI-Surrogate durchs Netz strömen, desto stärker verlieren die journalistischen Originale an Sichtbarkeit. Zugleich findet eine weitere Monopolisierung des Zugangs zu Wissen statt. Und kein Mensch versteht mehr, wo diese Informationen überhaupt herkommen.
Soziale Netzwerke gelten rechtlich nicht als Medien, sondern als neutrale Intermediäre, die nur eine Infrastruktur zur Verfügung stellen. Was bedeutet das konkret?
Es bedeutet, dass sie enorme Rechtsprivilegien haben, für die es keine sachliche Grundlage gibt. Die Plattformen konnten durchsetzen, dass sie als Netzwerke reguliert werden, ähnlich wie etwa Betreiber von Telefonnetzen. Sie haften nicht für Inhalte, verdienen aber damit Geld wie jeder andere Inhalteanbieter. Ein absurdes Konstrukt. Man hätte sagen können: Wer das Haftungsprivileg bekommt, darf natürlich keine Inhalte monetarisieren, was sowieso ein Selbstwiderspruch wäre. Denn die Plattformen leugnen ja sogar selbst, Inhalteanbieter zu sein. Aber das Gegenteil ist passiert.
Plattformen haben Rechtsprivilegien – Redaktionen Verantwortung. Diese Schieflage untergräbt den Journalismus und belohnt destruktive Akteure.
Für journalistische Medien wie die Zeitungen gelten dagegen strengen Regeln und Verantwortlichkeiten. Was folgt daraus?
Zwar gibt es auch im Journalismus Anbieter, die mit Sensationslust und Emotionalisierung Geld verdienen. Aber solchen Versuchungen sind rechtliche Grenzen gesetzt. Alle Medien müssen für ihre Inhalte haften. Plattformen müssen das nicht. Sie können also hemmungslos die Diskurse radikalisieren und können sogar strafbare Inhalte zu Geld machen.
Haben wir zu spät erkannt, dass unser Medienrecht für eine analoge Welt gemacht wurde – und digital nicht mehr wirkt?
Ich würde umgekehrt sagen: Wir haben die richtigen Prinzipien, die unsere Demokratie jahrzehntelang bestens geschützt haben. Wir wenden sie nur nicht auf digitale Medien an. Dass wir den Plattformen massive Rechtsprivilegien einräumen und sie nicht als Medien behandeln, ist, salopp gesagt, unsere eigene Dummheit.
Europa ist in zentralen digitalen Bereichen abhängig von US-Konzernen. Was bedeutet das für unsere Souveränität?
Den Tech-Konzernen ist es gelungen, öffentliche Güter zu monopolisieren, also etwa den Zugang zu Medien und Informationen, zu Märkten, zu Infrastrukturen. „Souveränität“ bedeutet, dass Individuen und Gesellschaft frei und selbstbestimmt sind. Das ist unter den Bedingungen dieser Monopole definitiv nicht der Fall. Jetzt haben wir es mit einer skrupellosen und erpresserischen US-Regierung zu tun, die diese Abhängigkeiten nach Herzenslust gegen uns ausnutzen kann. Und weil wir noch gar nicht in die echte Konfrontation gegangen sind, haben wir noch nicht einmal begriffen, wie schlimm die Lage wirklich ist.
„Europa hat sich digital abhängig gemacht. Digitale Macht ist geopolitische Macht. Wir müssen endlich aufwachen.“
Die US-Regierung warnt die EU explizit davor, die Tech-Konzerne strenger zu regulieren. Sie macht sich so zum Erfüllungsgehilfen der Plattformen. Warum?
Weil sie eine klare geostrategische Strategie verfolgt: Sie will Europa mittelfristig in eine digitale Kolonie verwandeln, die vollkommen abhängig ist von den US-Monopolen. Und sie will trumpistische Partner-Regierungen aus Parteien wie etwa der AfD etablieren, die sich dieser Vormacht unterwerfen. Die moderaten Parteien in Europa verstehen immer noch nicht, dass sie selbst abgeschafft werden sollen. Sie machen sogar noch Deals mit ihren eigenen Henkern. Das ist irre.
Sie sprechen von einem „kritischen Zeitfenster“, um die digitale Öffentlichkeit wieder zu öffnen. Wie groß ist es noch?
Sehr klein. Der jetzige digitale Scherbenhaufen ist das Ergebnis jahrelanger Versäumnisse. Das hat spätestens zu Merkels Zeiten angefangen. Besonders enttäuschend: Die Franzosen haben das Problem seit zehn Jahren verstanden, wurden aber über all‘ die Jahre von den ahnungslosen Deutschen ausgebremst. Wenn die Merz-Regierung jetzt nicht schnell aufwacht, wird auch in dieser Legislaturperiode nichts mehr passieren. Dann ist die Messe gesungen.
Kann Regulierung allein das Problem lösen oder braucht es ein neues Bewusstsein bei Nutzern und Lesern?
Wenn wir nur „Regulierung“ sagen, spielen wir schon nach dem Playbook von Big Tech und den Rechtslibertären. Wir müssen das Framing ändern: Es geht nicht darum, digitale „Freiheit“ einzuschränken. Das Gegenteil ist der Fall: Wir befreien das Internet von den Monopolisten. Wir geben den Menschen die Macht über das Netz zurück. Dann wird ein Schuh draus.
Sie vergleichen die Plattformmacht mit einem „digitalen Schienennetz“, das Big Tech allein kontrolliert. Um im Bild zu bleiben: Welche Optionen haben Verlage, um wieder auf die Gleise zu kommen?
Solange der Markt nicht frei ist, haben Verlage im Digitalen faktisch keine Chance. Die Zugänge werden vollständig von den Tech-Monopolen beherrscht. Umso erstaunlicher ist, dass die Journalisten nicht gemeinsam Sturm laufen. Die Pressefreiheit ist heute wesentlich stärker bedroht als in historischen Krisen wie der Spiegel-Affäre. Aber der Aufschrei bleibt aus.
Wenn Sie morgen eine Schlagzeile in jeder Zeitung platzieren könnten – welche wäre das?
„Was ist bloß los mit uns?“ Wir jammern, statt zu handeln. Wir waren einmal ein Land, das Mauern eingerissen hat. Die mutigen Helden in Ostdeutschland haben 1989 ein autokratisches Regime durch ihren friedlichen Widerstand in die Knie gezwungen. Wir haben gemeinsam Europa zu einer großartigen und demokratischen Region gemacht. Und jetzt? Wir schauen tatenlos zu, wie Tech-Konzerne und Rechtspopulisten unsere demokratische Ordnung unterlaufen und die Macht übernehmen. Schlimm.
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