Ein Ort der Zuflucht

Von Sebastian Gubernator

Das Recht auf Abtreibung ist eines der umstrittensten Themen im US-Wahlkampf. Wie gespalten die Amerikaner in dieser Frage sind, lässt sich in Carbondale im Süden von Illinois beobachten. Bis vor Kurzem gab es in der Kleinstadt keine einzige Abtreibungsklinik, mittlerweile sind es drei.

Abtreibungsklinik in Carbondale in den USA.
Julia Rendleman

Kurz vor dem Ende spürt sie noch einmal kaltes Gel auf ihrem Bauch. Dann den Ultraschallkopf, ein sanftes Kreisen. Sie starrt an die Decke. Atmet tief ein und aus. Sie sieht nicht, was in diesem Moment über den Bildschirm flimmert: den winzigen Körper, an dem menschliche Züge zu erahnen sind. Arme, Beine, ein Köpfchen.

Später wird sie zögernd fragen, ob viel zu erkennen gewesen sei. Eigentlich hätte sie gern hingeschaut, aus „medizinischem Interesse“, aber sie habe sich nicht getraut. Wer weiß, welche Gefühle das in ihr ausgelöst hätte.

Sie ist 26 Jahre alt, eine Studentin aus Birmingham im US-Bundesstaat Alabama. Ihre Haut ist schwarz, ihr Haar lang und wellig. Seit vier Wochen weiß die junge Frau, dass sie schwanger ist. Jetzt, in einer Abtreibungsklinik im Süden von Illinois, sechs Autostunden von ihrem Zuhause entfernt, sortiert sie noch einmal ihre Gedanken. Sie hat schon eine Tochter, sechs Monate alt, und muss einen Studienkredit abzahlen. „Es ist“, flüstert die Studentin, „zu früh für ein zweites Kind.“

Als sie entschied, es nicht zu behalten, begannen die Probleme. Abtreibung ist in Alabama verboten. Eine Hilfsorganisation empfahl ihr eine Klinik in Illinois und versprach, die Kosten der Reise und der Behandlung zu übernehmen. Also setzte sich die Frau ins Auto, nahm ihre Tochter und ihre Tante mit, weil ihr Freund sich nicht freinehmen konnte. Sie fuhr nach Norden, durch Tennessee und Kentucky, zwei weitere Staaten, in denen Abtreibung illegal ist, bis sie in Carbondale ankam, einer kleinen Stadt, in der jede Woche Hunderte Frauen wie sie Zuflucht suchen.

Im Behandlungsraum sitzt Andrea Gallegos vor ihr, die Chefin der Klinik. Eine kleine Frau in Jeans und Bluse, 42 Jahre alt. „Sie sind bei etwas mehr als elf Wochen“, sagt Gallegos sanft. „Elf Wochen und drei Tage, nach allem, was ich sehe.“ Schon bald wird eine Ärztin ein Gerät in die Gebärmutter der Patientin einführen und das Gewebe absaugen, ein Eingri^ von wenigen Minuten. Die Studentin wird aus dem Behandlungszimmer schlurfen, benommen von der Betäubung, und sagen, dass sie gerade geweint habe, aber erleichtert sei.

Szenen wie diese spielen sich in Carbondale ständig ab. Allein an diesem Sommertag enden in der Alamo Women’s Clinic 29 Schwangerschaften. Ähnlich sieht es ein paar Straßen weiter in der Klinik von Planned Parenthood aus und im Choices Center am anderen Ende der Stadt. Carbondale hat 22.000 Einwohner, von denen viele in hölzernen Einfamilienhäusern mit gepflegten Gärten leben. Touristen kommen vor allem in die Stadt, um sie wieder zu verlassen und durch den Shawnee National Forest zu wandern, einen riesigen Wald in der Nähe. Bis vor Kurzem gab es hier keine einzige Abtreibungsklinik. Jetzt sind es drei.

Fast 50 Jahre lang galt in den USA ein bundesweites Recht auf Abtreibung. Es ging auf eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs zurück, bekannt als „Roe v. Wade“. Im Juni 2022 kippte das Gericht die Regelung, seitdem sind die Bundesstaaten zuständig. Dort, wo die Demokratische Partei regiert, ist Abtreibung weiterhin legal. Wo die Republikaner eine Mehrheit haben, wurden die Gesetze meist radikal verschärft. In 14 Staaten sind Abbrüche fast ausnahmslos verboten, in Florida, Georgia, Iowa und North Carolina nur in den ersten sechs Wochen erlaubt – einem Zeitraum, in dem viele Frauen noch gar nicht wissen, dass sie schwanger sind.

Dutzende Kliniken schlossen. Auf der Suche nach neuen Standorten stießen die Betreiber auf Städte wie Carbondale: gelegen im südlichen Zipfel des liberalen Illinois, im Grenzgebiet zu den neuen Verbotszonen. Missouri und Kentucky sind mit dem Auto nur eine Stunde entfernt. Nach Memphis, einer Großstadt im republikanisch regierten Tennessee, sind es drei Stunden. Aus New Orleans, tief im Süden der USA, fährt ein Zug hierher. Für 1,5 Millionen Frauen ist Carbondale der nächstgelegene Ort, in dem sie eine Abtreibung haben können, so hat es die Wirtschaftswissenschaftlerin Caitlin Myers vom Middlebury College in Vermont errechnet.

Seit die Kliniken in der Stadt sind, ist dort eine Debatte entflammt, die viel über die Zerrissenheit der amerikanischen Gesellschaft erzählt. Bei der Präsidentschaftswahl im November wird das Recht auf Abtreibung eine der größten Streitfragen sein, manche Beobachter sagen sogar, es könne den Wahlausgang entscheiden. Für Kamala Harris, die neue Kandidatin der Demokraten, ist es das zentrale Thema.

WELT AM SONNTAG hat zwei Wochen in Carbondale recherchiert, mehrere Tage davon in der Klinik von Andrea Gallegos. Sie gewährte fast uneingeschränkten Zugang, nur während der Operationen war der Behandlungsraum tabu. Für diesen Text fanden zudem ausführliche Gespräche mit Abtreibungsgegnern statt, strenggläubigen Christen, die sich vom Klischee des Trump-Wählers entfernten, je länger man ihnen zuhörte.

Auf den ersten Blick ist Gallegos’ Abtreibungsklinik kaum als solche zu erkennen. Ein kleines, flaches Gebäude in einer Nachbarschaft, in der auch Zahn- und Kinderärzte ihre Praxen haben. Nur ein Banner gibt einen Hinweis, aufgehängt zwischen zwei Stangen im Rasen: „Alamo Women’s Health“.

Als Gallegos die Klinik vor knapp zwei Jahren erö^nete, wollte sie ein großes Schild aufstellen lassen. Die Patientinnen sollten das Gebäude schon von Weitem erkennen. Doch die Firma, mit der sie darüber sprach, habe sich plötzlich nicht mehr gemeldet. Gallegos vermutet, dem Inhaber sei klar geworden, was für eine Klinik sie plante. Sie lächelt matt, als sie das erzählt. In ihrem Büro neben der Rezeption stapeln sich Patientenakten. Auf dem Schreibtisch steht eine kleine Figur von Ruth Bader Ginsburg, der berühmten Richterin am Supreme Court, die sich ihr Leben lang für Frauenrechte starkgemacht hatte.

Gallegos wuchs in San Antonio auf, einer Großstadt in Texas. Ihr Vater arbeitete dort als Gynäkologe. Er begleitete Schwangerschaften, führte aber auch Abtreibungen aus, fest davon überzeugt, dass er beides anbieten müsse, um die Gesundheit von Frauen zu gewährleisten. Zu Hause erzählte er oft von einer Jugendlichen, die er als Medizinstudent in der Notaufnahme kennengelernt habe, Anfang der 70er. Sie hatte sich in die Hände eines sogenannten Engelmachers begeben, der illegale Abtreibungen anbot, und sich eine so schwere Infektion zugezogen, dass sie daran starb.

Es war die Zeit vor „Roe v. Wade“, eine Zeit, die sich jetzt zu wiederholen scheint. Einer aktuellen Studie zufolge ist der Anteil der Schwangeren gestiegen, die versuchen, selbst abzutreiben. Manche schlagen sich in den Bauch, andere schlucken giftige Kräuter. Ärzte berichten von Frauen, die in ihrer Verzweiflung mit Selbstmord drohen.

Ganz verstanden, sagt Gallegos, habe sie das Thema erst als Jugendliche. Mit 14 oder 15 Jahren sei sie im Internet auf eine Seite gestoßen, die die Namen von Abtreibungsärzten au^ührte und sie als „Mörder“ beschimpfte. Auch der Name ihres Vaters stand dort. Später sah sie Demonstranten vor seiner Klinik stehen, eine wütende Menschenmenge. Sie erfuhr, dass Abtreibungsärzten empfohlen wurde, eine schusssichere Weste zu tragen. Einige von ihnen fielen Mordanschlägen zum Opfer.

Gallegos ist keine Ärztin, sondern studierte Sozialarbeiterin. Sie kümmerte sich um die Patienten einer Rehaklinik, später stieg sie in deren Leitung auf. 2020, während der Pandemie, wurde sie Direktorin zweier Abtreibungskliniken, die ihr Vater in Texas und Oklahoma betrieb. Rund zwei Jahre später verkündete der Oberste Gerichtshof seine Entscheidung. Gallegos erinnert sich, dass sie wütend war. Die Republikaner, die in Texas und Oklahoma regierten, verboten Schwangerschaftsabbrüche fast ausnahmslos.

Sie und ihr Vater dachten nach. Irgendwann reifte in ihnen die Idee, ihre Kliniken in andere Bundesstaaten zu verlegen. Gallegos hatte im Internet eine Karte der USA gesehen, eingeteilt in Staaten, die Schwangerschaftsabbrüche verboten, und andere, in denen sie legal blieben. Die südliche Spitze von Illinois bohrte sich tief in republikanisches Gebiet. Gallegos erzählt, sie habe sich hingesetzt und die „liberalste Stadt im südlichen Illinois“ gegoogelt. So fand sie Carbondale.

Trotz seiner geringen Größe hat die Stadt eine Universität und ein LGBTǪ-Café. Im Stadtrat sitzt eine Transgender-Frau. In manchen Gärten hängt die Regenbogenflagge. Bei der Präsidentschaftswahl 2020 kam Joe Biden in Carbondale auf 72 Prozent, in den noch kleineren Orten drumherum lag Donald Trump mit Abstand vorn. Gallegos ließ in Carbondale eine ehemalige Augenklinik umbauen. Im November 2022 empfing sie die ersten Patientinnen. Zunächst pendelte sie von ihrem Wohnort, saß stundenlang in Flugzeugen und Mietwagen. Vor etwas mehr als einem Jahr zog sie mit ihrer Familie um. Ihr Mann fand einen neuen Job, ihre Kinder wechselten die Schule. Ihr Vater baute eine neue Klinik in New Mexico auf, auch er ließ sein Leben in San Antonio hinter sich.

Etwa eine Million Abtreibungen werden jedes Jahr in den USA erfasst, die Zahl ist zuletzt gestiegen. Zugleich häufen sich Berichte über Schwangere, die selbst in Extremfällen keine Hilfe erhalten. In Ohio wurde einem zehnjährigen Vergewaltigungsopfer eine Abtreibung verweigert. In Texas durften die Ärzte nicht eingreifen, als einer Frau viel zu früh die Fruchtblase platzte. Sie erlitt eine Sepsis, an der sie fast gestorben wäre.

Mehr als 171.000 Frauen reisten im vergangenen Jahr für eine Abtreibung in einen anderen Bundesstaat, wie Daten des Guttmacher Institute zeigen, einer Organisation, die sich für das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche einsetzt. Kein Staat nahm mehr Patientinnen auf als Illinois. Andrea Gallegos behandelt Frauen aus Tennessee, Alabama, Mississippi, Missouri, Louisiana, Oklahoma, Georgia, Kentucky, Texas, Arkansas und Florida. Sie spricht von „medizinischen Flüchtlingen“. Auch die Ärzte in ihrer Klinik reisen abwechselnd aus anderen Staaten an, meist für eine Woche. Einer von ihnen ist Gallegos’ Vater, inzwischen 79 Jahre alt.

In Deutschland sind Abtreibungen bis zur zwölften Schwangerschaftswoche möglich, bei medizinischer Indikation auch später. In US-Staaten wie Illinois ist das Recht deutlich lockerer. Abbrüche sind dort so lange legal, bis der Fötus außerhalb des Mutterleibs lebensfähig wäre, in der Regel zwischen der 24. und 26. Woche. Die meisten ihrer Patientinnen, sagt Gallegos, seien aber im ersten Trimester.

Der Streit um Abtreibung hat einen tiefen Graben durch Amerika gezogen. Schon die Begri^e zeigen, dass es nicht nur um Gesetze geht, sondern auch um Deutungshoheiten. Die Abtreibungsbefürworter sagen, sie seien „pro-choice“, für die Entscheidungsfreiheit. Die Gegner nennen sich „pro-life“, für das Leben. Kamala Harris positioniert sich in der Frage so klar wie niemand zuvor in ihrem Amt. Im März besuchte sie als erste US-Vizepräsidentin eine Abtreibungsklinik. Donald Trump hingegen brüstet sich damit, das Ende von „Roe v. Wade“ ermöglicht zu haben, indem er konservative Richter an den Supreme Court berief. Sein designierter Vizepräsident J.D. Vance bezeichnete sich in der Vergangenheit als „100 Prozent pro- life“.

Von Gallegos’ Klinik sind es mit dem Auto nur zehn Minuten zum Choices Center. In dem steinernen Flachbau hatte früher ein Hautarzt seine Praxis, jetzt werden dort Schwangerschaften beendet. Die Morgensonne kündigt einen drückend heißen Tag an, als auf der anderen Straßenseite ein Mann in das schlüpft, was er seine Arbeitskleidung nennt und andere ein Täuschungsmanöver. Er streift sich eine orangefarbene Warnweste übers Poloshirt und zieht den Reißverschluss zu. An die Brust klemmt er sich eine Bodycam, wie sie amerikanische Polizisten im Einsatz tragen.

Der Mann heißt Brandon Hamman, ist 37 Jahre alt und trägt einen Vollbart. Die nächsten Stunden wird er auf dem Bürgersteig stehen, zusammen mit einer jungen Frau, seiner Mitstreiterin. Wenn sich ein Auto der Klinik nähert, laufen sie ein paar Schritte auf die Straße und ho^en, dass es anhält. Sie möchten Patientinnen davon abbringen, die Klinik zu betreten.

Hamman ist evangelikaler Christ. Er hält Abtreibung für Mord, eine Sünde. Aber er wird auch dafür bezahlt, hier zu stehen. Er arbeitet für eine christliche Organisation namens Coalition Life, die im Mittleren Westen der USA gegen Abtreibung kämpft, ausgestattet mit Spendengeldern. Jeden Tag versammeln sich Mitarbeiter und ehrenamtliche Helfer vor den Kliniken in Carbondale. Meist sind sie zu zweit, und Hamman ist ihr Chef. Er und seine Leute schreien die Patientinnen nicht an, wie es Abtreibungsgegner in Amerika häufig tun. Sie tragen keine Banner oder Plakate. Wenn ein Auto hält, reichen sie Flyer durchs Fenster, auf denen steht: „Das ist nicht deine einzige Wahl.“ Hamman nennt das „Bürgersteig-Beratung“. Er sieht sich als jemand, der an einer Klippe steht und Menschen davor warnt, in den Abgrund zu stürzen. „Wir wollen diesen Frauen helfen, die wegen einer Abtreibung da reingehen“, sagt er. „Wir wollen ihnen zeigen, dass sie andere Optionen haben.“ Wer ein Kind nicht großziehen wolle, könne es zur Adoption freigeben. Wer kein Geld für Untersuchungen habe, dem könnten christliche Organisationen helfen.

Die Kliniken warnen ihre Patientinnen bereits bei der Terminvergabe vor Leuten wie ihm. Nicht anhalten, einfach weiterfahren. Andrea Gallegos nennt Hamman und seine Mitstreiter nur „die Demonstranten“. Sie hält es für trügerisch, dass sie Warnwesten tragen, als wären sie o^izielle Parkplatzanweiser.

Hamman sagt, es gebe unzählige Gründe, warum Frauen sich für eine Abtreibung entscheiden.

„Aber ich habe noch keinen gehört, der es rechtfertigt, jemanden zu töten.“ Er findet, Abtreibungsärzte hätten die Todesstrafe verdient. Er hält die Todesstrafe für christlich. In seinem Wohnort im Umland von Carbondale wählt die Mehrheit die Republikaner, auch er hat 2016 und 2020 für Trump gestimmt. Trotzdem klingen Zweifel an, wenn er über den Ex-Präsidenten spricht. Er ist ihm nicht radikal genug.

Zwar behauptet Trump, kein Präsident sei mehr „pro-life“ gewesen als er. Doch für ein bundesweites Abtreibungsverbot spricht er sich nicht aus. Stattdessen hat er zuletzt vor allem gegen Spätabtreibungen gepoltert und betont, die Entscheidung liege bei den Bundesstaaten. Dahinter steckt ein Kalkül. Umfragen zeigen, dass die Mehrheit der Amerikaner für legale Abtreibungen unter bestimmten Umständen ist, darunter Millionen Republikaner. Trump will sie für sich gewinnen. Gleichzeitig ist er auf weiße evangelikale Christen angewiesen, ohne die er 2016 nicht ins Amt gewählt worden wäre.

Manchmal sieht Hamman Schilder, auf denen steht, Trump werde Amerika retten. „Ich glaube nicht, dass das stimmt. Gott wird Amerika retten.“ Wenn er an die Wahl im November denkt, ist er unentschlossen. Er überlege, einfach zu Hause zu bleiben, sagt er.

Der Süden von Illinois gehört zum Bible Belt, dem tief religiösen Teil der USA. Außerhalb von Carbondale werben Kirchen mit riesigen Billboards am Highway für den nächsten Gottesdienst. Evangelikale wie Hamman sind in dieser Gegend keine Seltenheit.

Einer ihrer Wortführer ist Phil Nelson, ein großer Mann, dessen Händedruck so fest ist wie sein Glaube. Er leitet eine Kirche, vor der die amerikanische Flagge weht: die Lakeland Baptist Church am Stadtrand von Carbondale. In einer Stunde beginnt der Gottesdienst, die ersten Besucher sind schon eingetro^en. Nelson, 67 Jahre alt, sitzt im Foyer, vor sich eine Bibel. In seinen Predigten liest er daraus vor wie aus einem Geschichtsbuch, jedes Wort gottgegebene Wahrheit.

„Carbondale ist eine sehr böse Stadt“, sagt der Pastor jetzt. „Die Universität hier ist gottlos. Sie lehren Dinge, die nicht richtig sind. Sie sagen, es sei okay für einen Mann, eine Frau zu sein, und umgekehrt. Sie sagen, es sei in Ordnung, ein Kind vor der Geburt zu töten.“ Nelson unterteilt die Welt in Schwarz und Weiß. Gott habe den Menschen den Auftrag gegeben, sich zu vermehren, und der Teufel arbeite dagegen an. Es sei falsch, Kinder im Mutterleib zu töten, so stehe es in der Bibel. Er ist ein guter Redner. In seinen Gottesdiensten spricht er mit sonorer Stimme, macht Kunstpausen und Scherze. Ein wenig erinnert er an David Letterman, den amerikanischen Fernsehmoderator. Kinder hält er für ein Geschenk Gottes. Nelson hat sechs Töchter und einen Sohn, zwei seiner Kinder sind adoptiert. Später an diesem Tag wird er zum Mittagessen in einem Diner sitzen. Als die Kellnerin kommt, stellt er sich vor: „Ich bin Pastor in der Stadt und frage Leute, die ich treffe, ob ich für sie beten darf. Gibt es bei Ihnen irgendein Anliegen?“ Die Kellnerin erzählt, dass sie neun Kinder habe. Nelson faltet die Hände und bittet Gott, sie zu schützen.

Wie viele andere Abtreibungsgegner ist er ein herzlicher Mensch, dem es ernsthaft darum geht, Leben zu retten. Gegen die Kliniken hat er schon protestiert, bevor es sie gab. Im Mai 2022, die ersten Pläne waren gerade bekannt geworden, ging er mit Gleichgesinnten ins Rathaus, wo an jenem Abend der Stadtrat das Thema verhandelte. Wie in jeder Sitzung durften sich Bürger zu Wort melden.

Es gibt ein Video, das zeigt, wie Nelson ans Mikrofon tritt. Er prangert einen „Massenmord“ an ungeborenen Menschen in Amerika an. „Wer wird um die 2000 bis 2500 weinen, die seit Mitternacht ausgelöscht wurden?“, fragt er und zeigt mit ausgestrecktem Arm auf die Stadträte wie ein Ankläger. „Wenn Sie nicht weinen, werde ich es tun!“ In dem Video sind Zwischenrufe zu hören, andere Besucher, die Nelson zum Schweigen bringen wollen. Der damalige Bürgermeister ruft sie zur Ordnung auf.

Die Gesellschaft in Amerika erinnert an zwei tektonische Platten, zwischen denen ein tiefer Spalt verläuft. Nur selten kommen sie miteinander in Berührung. Aber wenn, dann bebt die Erde.

Nelson nennt sich politisch „unabhängig“, obwohl er immer konservative Kandidaten wählt. „Ich mag die Politik des früheren Präsidenten Trump“, sagt er und fügt übergangslos hinzu: „Ich mag seinen Lebensstil nicht.“ Trump sei kein moralischer Politiker. Er sei stolz. Er habe seine Frau betrogen. Trotzdem wird Nelson ihn wieder wählen. Es ist ein Widerspruch, der sich nur damit erklären lässt, dass Demokratie immer auch die Wahl des kleineren Übels ist. Bei allen persönlichen Problemen, die Nelson mit Trump hat, hält er Harris für viel schlimmer.

Wie die Abtreibungsgegner haben auch die Befürworter ein Netzwerk aufgebaut. Die Kliniken arbeiten mit Spendenorganisationen zusammen, die bedürftigen Frauen bei der Anreise helfen. Sie bezahlen Busfahrten, Benzin, Hotelzimmer, die Behandlungskosten. Es gibt sogar eine Gruppe von Piloten, die Patientinnen ehrenamtlich in kleinen Propellermaschinen befördert.

In einer milden Sommernacht, kurz vor Sonnenaufgang, hält im Stadtzentrum ein Toyota. Jess Jobe schaltet den Motor ab, eine zierliche Frau mit Pferdeschwanz. Sie schaut hinüber zum Bahnhof, der beleuchtet ist wie eine Sehenswürdigkeit. Der Zug hat mal wieder Verspätung. In ihr Handy tippt sie eine SMS: „Ich parke gegenüber dem Bahnhof vor einer Bar namens Booby’s.“ Wenig später leuchtet die Antwort auf: „Ok, wir sollten demnächst ankommen.“

Jobe sieht müde aus. Sie habe die Nacht auf der Couch verbracht, um ihren Mann nicht zu wecken, erzählt sie. Gut geschlafen habe sie nicht. Sie arbeitet ehrenamtlich für die Midwest Access Coalition, eine der Hilfsorganisationen. Ein- bis zweimal im Monat holt sie Patientinnen am Bahnhof ab, manchmal auch an einem kleinen Flugplatz östlich von Carbondale. Gerade wartet sie auf eine Frau, die vor mehr als 15 Stunden in New Orleans losgefahren ist. Sie soll sie in ihr Hotel bringen.

Dem Treffen mit WELT AM SONNTAG hat Jobe nur unter einer Bedingung zugestimmt: Eine Begegnung mit der Patientin findet nicht statt. Sie will verhindern, dass die Frau sich unsicher fühlt. Die lange Reise und der anstehende Termin seien belastend genug.

49 Prozent der Frauen, die in Amerika ihre Schwangerschaft abbrechen, leben unterhalb der Armutsgrenze. Die Midwest Access Coalition, kurz MAC, ist der Gegenpol zu den Organisationen der christlichen Fundamentalisten, wie diese ausgestattet mit Millionenspenden. Nach eigenen Angaben unterstützt MAC jedes Jahr Hunderte Frauen dabei, eine Abtreibung zu bekommen.

„Carbondale ist das Epizentrum, wegen seiner Lage“, sagt Jobe. „Wir sind eine progressive Community in einer sehr konservativen Gegend. Es gibt Demonstranten, aber die Patientinnen sind nicht in Gefahr. Das ist ein sehr sicherer Ort.“ Jobe weiß, wovon sie spricht. Alle paar Wochen hilft sie bei Planned Parenthood als Klinikbegleiterin aus und schirmt Patientinnen von Abtreibungsgegnern ab, von Leuten wie Brandon Hamman. „Es macht mich traurig, dass sie so wenig Verständnis dafür haben, wie komplex das Leben anderer Menschen sein kann.“

Der Riss geht nicht nur durch das Land, sondern auch durch Familien und Freundeskreise. Eine Rezeptionistin in der Alamo Women’s Clinic verheimlicht ihren Söhnen, wo sie arbeitet. Beide seien mit tiefgläubigen Christinnen verheiratet und gingen regelmäßig zur Kirche. Andrea Gallegos sagt, früher sei sie mit Republikanern befreundet gewesen. Heute sei das anders. Mit jemandem, der Trump unterstützt, wolle sie nichts zu tun haben.

Im Wartezimmer ihrer Klinik hängt ein Fernseher, auf dem immer dieselbe Sendung läuft, „Family Feud“. In der Show treten Familien gegeneinander an, es wird viel gelacht. Die Frauen im Wartezimmer sind meist still. Nur manchmal tasten sie sich in Gespräche: Hast du deine Medikamente schon genommen? Weißt du, wie es sich anfühlt?

Eine 25-Jährige aus Mississippi erzählt, sie habe sich zuerst gefreut, als sie erfuhr, dass sie schwanger war. Dann seien die Zweifel gekommen: Sie führe eine Fernbeziehung mit einem Mann in Kanada, ihre gemeinsame Tochter sei elf Monate alt. Sie baue sich gerade eine Karriere auf. Schon jetzt sei es schwierig, das alles zu vereinen. Neben ihr sitzt eine 40-Jährige aus Texas, alleinerziehende Mutter von zehn Kindern, fünf Jungen und fünf Mädchen. Ein elftes Kind wolle sie nicht. Sie sagt, dass die Schwangerschaft ihr zu scha^en mache; seit Wochen könne sie kaum etwas essen. „Ich bin hungrig, erschöpft.“

Später wird eine 22-Jährige aus Louisiana ins Wartezimmer treten, blass, dünn, voller nervöser Energie. Erst erzählt sie unter Tränen ihre Geschichte, dann lacht sie viel, als wolle sie sich ablenken. Ihr Vater sei tot, ihre Mutter drogenabhängig, Crack und Heroin. Sie selbst sei ein halbes Jahr obdachlos gewesen und gerade erst bei einem Bekannten eingezogen, ihrem einzigen Freund. Sie wolle endlich ein normales Leben führen, einen Job bekommen.

Die meisten Frauen wirken gefasst. Viele weinen erst während der Operation, aus Erleichterung oder Trauer, so erklärt es sich Gallegos. Das entfernte Gewebe landet nach der Behandlung in einem Raum am Ende des Flurs. Alle zwei Wochen kommt eine Firma, die auf die Entsorgung medizinischer Abfälle spezialisiert ist. Manche Patientinnen wünschen sich eine Beerdigung für das Ungeborene, dann hilft die Klinik bei der Vorbereitung. Auf die Frage, wann das Leben beginnt, wann aus Zellgewebe ein Mensch wird, hat Gallegos keine Antwort. Vielleicht, sagt sie, denke sie darüber gar nicht so anders als ihre Gegner. Der Unterschied sei, dass für sie, Gallegos, auch das Leben der Mutter einen Wert habe.

 

Amerika ist laut geworden in letzter Zeit. Menschen in beiden Lagern neigen dazu, Meinungen für unumstößliche Wahrheiten zu halten. Statt miteinander zu reden, schreien sie sich an. Manche sagen, es habe mit Barack Obama begonnen. Die weißen Nationalisten hätten nicht glauben können, dass ein Schwarzer plötzlich Präsident war, und Obama sei es nicht gelungen, das Land zu einen. Danach kam Trump, und das Land ging in Lärm auf.

Cindy Courtney gehört zu den Menschen, die sich fragen, wie das passiert ist. Gerade steht sie zwischen Regalen, die vollgepackt sind mit Windeln, Stramplern und Teddybären, es sieht aus wie ein Kinderladen, nur die Preisschilder fehlen. Ein paar junge Mütter schlendern durch den Raum, eine hat ihr Baby im Arm. Courtney lächelt.

Sie ist die ehrenamtliche Leiterin von „Cradle of Hope“, einem katholischen Spendenzentrum,

„Wiege der Ho^nung“. Eltern, die nicht genug Geld haben, können sich hier eindecken. „Viele Frauen wissen nicht, wie viel Hilfe sie bekommen können, wenn sie vor der Entscheidung stehen, ob sie ihr Baby behalten sollen oder nicht“, sagt Courtney. Sie strahlt etwas Gütiges aus.

Mit ihren 68 Jahren fühlt sie sich manchmal wie eine Großmutter, die auf ihre Enkel wartet. Die Frauen, die hierherkommen, nennt sie „Klientinnen“. Viele von ihnen hätten bereits ein Kind und seien erneut schwanger, die Mutter etwa, der sie neulich geholfen habe. Mehr als 40 Jahre alt, ungeplante Schwangerschaft. „Sie ist durchgedreht, sie hat keinen Partner. Aber sie hat sich entschieden, das Baby zu behalten, und ich glaube, es hat ihr wirklich geholfen, hierherzukommen.“

Das Spendenzentrum ö^nete im April 2023, als Antwort auf die Abtreibungskliniken. Es befindet sich in einem langgezogenen Gebäude, in dem auch die Post, eine Anwaltskanzlei und ein Massagesalon untergebracht sind. Die Klinik von Planned Parenthood ist zu Fuß nur drei Minuten entfernt. Morgens kommen Kollegen von Brandon Hamman ins Spendenzentrum, sie bewahren dort ihre Warnwesten und Flyer auf.

Auch Courtney stand schon vor einer der Kliniken, gemeinsam mit anderen habe sie dort gebetet.

„Leute, die vorbeifuhren, schrien mich an. Eine Dame hielt an und schimpfte, wir seien die schlimmsten Frauen der Welt. Sie hat uns den Finger gezeigt und ist weitergefahren.“ Sie erzählt das mit der leisen Stimme eines Menschen, der keinen Streit sucht. Courtney findet, die Abtreibungsfrage sei eine persönliche, eine spirituelle Angelegenheit. Trotzdem wünscht sie sich, dass die Regierung ungeborenes Leben stärker schützt. Sie vermeidet es, mit Freunden darüber zu reden, die anderer Meinung sind als sie.

Als junge Frau wählte sie die Demokraten, so wie ihr Vater, ein Arbeiter, es sein Leben lang getan hatte. Viele in der Partei waren für legale Abtreibungen, aber sie bemühten sich, das Thema nicht zu laut anzusprechen, und es gab auch einige Demokraten, die dagegen eintraten. Präsident Jimmy Carter betonte in den 70er-Jahren, dass er Schwangerschaftsabbrüche für falsch halte.

Dann geschah etwas, Courtney wundert sich bis heute darüber. Die Demokraten veränderten sich, und auch sie selbst, sagt sie, habe einen Wandel durchgemacht. 1992 erklärte Bill Clinton im Wahlkampf noch, Abtreibungen sollten „sicher, legal und selten“ sein. Es war ein Versuch, beide Lager zu erreichen. Später wurden diejenigen in der Partei, die ein Problem mit Abbrüchen hatten, immer leiser.

Ungefähr zur gleichen Zeit beschlich Courtney das Gefühl, dass sich die Demokraten zu stark in die Wirtschaft einmischten. Als sie in den 90er-Jahren als Pflegedienstleiterin in einem Krankenhaus arbeitete, habe die Regierung Vorschriften erlassen, die die Versorgung der Patienten erschwerten. Bei der Präsidentschaftswahl im Jahr 2000 trat ein Kandidat an, der gegen Abtreibung und für den freien Markt war. Der Kandidat hieß George W. Bush. Seither wählt Courtney die Republikaner, ihre alte Partei versteht sie nicht mehr. „Alles, was die Demokraten früher gesagt haben, sagen die Republikaner heute. Und das, was die Demokraten sagen, ist so bizarr.“

In letzter Zeit schaltet Courtney öfter von Fox News zu CNN. Sie hat ihre Meinung, aber sie will diejenigen verstehen, die auf der anderen Seite des politischen Grabens stehen. „Es ist schwer zu wissen, was wahr ist und was nicht.“ Auf die kommende Präsidentschaftswahl angesprochen, lacht Courtney. Sie mag Trump nicht. „Aber ich werde ihn wahrscheinlich wählen, weil ich Kamala nicht wählen kann. Das ist einfach ausgeschlossen.“ Sie überlegt. „So oder so bin ich nicht glücklich.“

Am Nachmittag, wenn die Patientinnen gegangen sind, sitzt Andrea Gallegos meist noch in ihrem Büro in der Klinik und kümmert sich um letzte Dinge. Sie geht davon aus, dass die Abtreibungsfrage im November eine große Rolle spielen wird. „Ich denke, wenn Trump gewinnt, steht alles auf dem Spiel, selbst in Staaten, in denen Abtreibung bisher geschützt ist“, sagt sie.

„Niemand wird sicher sein. So ernst ist die Lage.“

Bei der letzten Wahl in Carbondale, der Bürgermeisterwahl im vergangenen Jahr, traten zwei Kandidaten an. Eine schwarze Frau, die die Kliniken unterstützte, und ein weißer Mann, der sie am liebsten sofort dichtgemacht hätte. Im Rathaus regiert jetzt die Frau.