Ingo Bach, Sophie Peschke und Team
Kurzbiographie der Nominierten in der Kategorie Bestes lokales Digitalprojekt 2025
Ingo Bach, Jahrgang 1966, leitet das Ressort Gesundheit des Tagesspiegel. Er ist seit 1998 Redakteur und durchlief erst einige andere Ressorts, bevor er 2001 sein – in diesem Falle passt das Wording der abgegriffenen Phrase – Leib- und Magenthema fand: Seit 2001 berichtet er für den Tagesspiegel über Medizin und Gesundheit. Er steht gern im OP-Saal und schaut den Chirurginnen und Chirurgen über die Schulter, auch wenn dabei Blut fließt. Und weil er öfter gefragt wurde „Kennst Du eine gute Klinik?“ entwickelte er einen Qualitätsvergleich Berliner Krankenhäuser, der vor 20 Jahren zum ersten Mal erschien, und seitdem regelmäßig fortgeführt wird. Zudem ist er Chefredakteur des Magazins „Tagesspiegel Gesundheit“.
Sophie Peschke begann ihren Berufsweg im Journalismus mit einem Schülerpraktikum beim Westfälischen Anzeiger, der Lokalzeitung ihrer Heimatstadt in Nordrhein-Westfalen. Nach ihrem Bachelorstudium in Multimedia Produktion in Kiel und Jönköping (Schweden) und einem Masterabschluss in Fernsehjournalismus in Hannover sammelte sie umfassende Berufserfahrung. Zu ihren Stationen zählen unter anderem die Produktion eines Dokumentarfilms auf dem Eisbrecher Polarstern in der Arktis sowie eine Festanstellung bei einem Radiosender in Australien. Als Multimedia-Reporterin war sie außerdem für die Hannoversche Allgemeine Zeitung und die Neue Presse tätig. 2022 wechselte sie als Social Videoredakteurin zum Tagesspiegel und baute dort als Teil des ersten Social Media Teams den Videobereich mit auf. Seit 2025 ist Sophie Peschke Head of Social Media des RedaktionsNetzwerk Deutschlands und verantwortet die Betreuung der Social Media Kanäle von insgesamt 29 Zeitungsmarken, die Teil des Netzwerks sind.

Im Interview
Wie entstand die Idee zu Ihrem Beitrag und wie haben Sie recherchiert?
Alles begann mit einer Pressemitteilung der privaten Meoclinic, die Ingo Bach im April 2023 in seinem Postfach fand. Von einer „revolutionären All-in-one-Operation“ war da die Rede. Und was Ingo Bach dann las, klang tatsächlich außergewöhnlich: Man verkürze so die „Geschlechtsumwandlung (sic!) (also Angleichung eines trans Mannes) von 4 Jahren auf einen Tag“. Bach dachte, das könnte eine spannende OP-Reportage sein, in der man Dinge zu sehen bekam, die bestimmt viele interessieren, die aber nie danach zu fragen wagten. Zum Beispiel, wie eine Phalloplastik abläuft.
Ingo Bach übernahm den Termin für das Vorgespräch mit dem Chirurgen und etwas später auch mit dem Patienten. Nach diesen Treffen vor allem mit dem Protagonisten war klar: Eine einfache OP-Reportage reicht hier bei weitem nicht. Nils Mertins, Mitte 40, hatte auf seinem Weg so viel erlebt und wusste so viel über das trans Sein zu berichten, was anrührend war, spannend, aufwühlend, erschütternd und zu Tränen rührend. Das würde nicht in einen Text passen. Das musste größer werden. So entstand die Idee einer mehrteiligen Serie mit dem Höhepunkt einer weltweit einzigartigen OP, um das angeborene Geschlecht von Nils Mertins an sein empfundenes anzupassen. Und es war klar, dass es nicht nur Spannendes aufzuschreiben gab, sondern viel mehr zu hören und zu sehen.
Bach suchte den Kontakt zur Social Media–Redaktion und schlug vor, daraus ein multimediales Projekt zu machen und fragte, ob die Video-Redakteurin Sophie Peschke Bach zum ersten Treffen mit Nils Mertins begleiten wolle. Wir holten Chefredakteur Christian Tretbar hinzu, der das Potenzial erkannte für neue Erzählformen, die der Tagesspiegel gerade entwickelte. „Das setzen wir mit den neuen Storytelling-Tools um“, sagte er, und holte das Innovation Lab-Ressort dazu.
Sophie Peschke und Ingo Bach trafen sich mehrmals mit Nils vor der OP, interviewten seinen Chirurgen Paul Jean Daverio, ließen sich die bevorstehende OP erklären. Sie fragten Nils Mertins zu seinem Leben und merkten, Nils beantwortete alle Fragen, durchdacht, selbstreflektiert, tabulos. Es folgte die Operation: Neun Stunden, in der mehrere Chirurgenteams parallel die einzelnen Schritte der körperlichen Transition an einem Tag durchführten.
Doch der Transitionsprozess war mit der OP nicht abgeschlossen, körperlich nicht und auch seelisch nicht. Bach und Peschke entschieden sich, auch das transparent zu begleiten und zu beschreiben, um Nils Mertins eines Tages die große Abschlussfrage stellen zu können: Hat es sich gelohnt, haben sich die Erwartungen an diesen Schritt erfüllt?
Sie trafen sich gemeinsam oder auch allein mit Nils Mertins, in seinem Heimatort oder per Videocall mit seinen Freunden. Ein Beispiel: Weil ihm das erste Mal, wenn er sich im Schwimmbad nur in Badehose würde zeigen können, besonders wichtig war, begleitete ihn Sophie mit ihrer Kamera ins Schwimmbad, in Bielefeld. Kein Aufwand war zu groß, keine Strecke zu weit, damit die Geschichte stimmig bleibt. Und der Tagesspiegel hat bereitwillig unterstützt.
Die letzte große Frage aber blieb unbeantwortet, denn, so sagte es Nils: Eine Transition ist eigentlich nie abgeschlossen …
Vor welchen Herausforderungen standen Sie?
Zunächst hatten wir das große Glück, einen Protagonisten zu finden, der uns auf seinem gesamten Weg durch die Transition teilnehmen ließ. Dies bedeutete für uns eine besondere Verantwortung, sensibel mit diesem Vertrauen umzugehen – insbesondere, da eine Operation an den Genitalien ein intimes Thema ist. Eine weitere Herausforderung war die mediale Umsetzung. Wir mussten ein ausgewogenes Zusammenspiel aus Text, Fotos, Grafiken und Video entwickeln, um die komplexen Inhalte anschaulich und nachvollziehbar darzustellen. Dabei wollten wir sicherstellen, dass unsere Userinnen und User umfassend informiert werden, ohne sie mit der Tiefe der Informationen zu überfordern. Und ganz praktisch war die Begleitung der neunstündigen OP, die wir detailliert erklären wollten, auch für die beiden Autorinnen und Autoren eine Herausforderung. Auch unsere Langzeitbeobachtung über ein Jahr stellte uns vor die Aufgabe, die Geschichte in einer Weise zu erzählen, die gleichermaßen informativ wie zugänglich ist. Um dieser Herausforderung gerecht zu werden, entschieden wir uns für eine siebenteilige Serie in Form von Scrollytelling. Dieses Format kombinierten wir mit drei Videofolgen einer Bewegtbilddokumentation, um das Erzählte auf verschiedene Weise erlebbar zu machen.
Wie wurden Sie unterstützt?
Die fertige Serie ist eine Teamleistung aus verschiedenen Ressorts des Tagesspiegels: Die Chefredaktion hat die Idee von Anfang an intensiv und geduldig unterstützt und mit Ressorucen ausgestattet. Der Artdirektion haben wir die starke Gestaltung zu verdanken, der Bildredaktion die großartige Auswahl des Bildmaterials. Das Innolab hat das Scrollytelling umgesetzt, das Queerspiegel-Team hat für die Videoumsetzung einen wichtigen Sensitivity Check übernommen.
Durch die Unterstützung unserer Kolleginnen und Kollegen konnten wir die Arbeit in unseren Ressorts – Ressort Gesundheit und Ressort Social Media – zu einem Ergebnis führen, auf das wir alle sehr stolz sind. Diese bereichsübergreifende Zusammenarbeit zeigt, wie viel Kreativität und Expertise in unserem Team steckt.
Was macht für Sie persönlich guten Journalismus aus?
Für uns bedeutet guter Journalismus, inklusiv, innovativ und nutzerorientiert zu arbeiten. Und die Fähigkeit zu haben, einen multiperspektivischen Blick auf einen komplexen Sachverhalt zu lenken und dabei trotzdem spannend und verständlich für die Nutzenden zu bleiben. Mit unserer Reportage über die Transition eines trans Mannes wollten wir zeigen, wie wichtig es ist, die Perspektiven aller Personengruppen zu berücksichtigen – in diesem Fall vor allem die Perspektive von Nils, aber daneben auch die des Chirurgen und seiner Teams, der vorbereitenden und nachsorgenden medizinisch Pflegenden, der Angehörigen und Freunde von Nils und vielen weiteren.
Wir sind überzeugt davon, dass modernes Storytelling crossmedial sein muss. Deshalb haben wir unsere Inhalte gezielt über verschiedene Plattformen verbreitet: auf tagesspiegel.de, in Print, über Social Media und Videoplattformen – und das immer auf für die jeweilige Plattform optimal ausspielbare Form. So konnten wir sicherstellen, dass unsere Geschichte möglichst viele Menschen erreicht und wir uns dabei auf die jeweils Nutzenden einstellen können.
Scrollytelling war für uns das ideale Format, um die komplexen Inhalte unserer Reportage klar, intuitiv und ansprechend zu vermitteln. Dieses Format erlaubte es uns, den Nutzerinnen und Nutzern ein interaktives und zugängliches Erlebnis zu bieten.
Guter Journalismus bedeutet für uns aber auch, auf die Bedürfnisse der User einzugehen. Mit unserer Reportage wollten wir nicht nur informieren, sondern auch Neues zeigen. Die erste filmische Dokumentation einer trans Operation direkt aus dem OP-Saal und die intensive Begleitung des Protagonisten über einen so außergewöhnlich langen Zeitraum boten uns die Möglichkeit, journalistisches Neuland zu betreten.
Für uns ist Journalismus dann gelungen, wenn er Mehrwert schafft – für die Gesellschaft, die Betroffenen und das Publikum. Und wenn er dabei mit spannend erzählten Geschichten das Publikum mitnimmt, ohne dabei belehrend oder missionierend zu wirken.
Was braucht ein herausragender Artikel?
Ein herausragender Artikel erfordert für uns vor allem Authentizität, Tiefe und eine innovative Herangehensweise. Unsere Geschichte schöpft ihre Kraft aus der intensiven Auseinandersetzung unseres Protagonisten mit sich selbst während seiner Transition. Es war für uns eine besondere Gelegenheit und Verantwortung, Teil dieses Prozesses sein zu dürfen und seinen Weg journalistisch zu begleiten.
Darüber hinaus lebt die Reportage von außergewöhnlichen, bislang ungesehenen Bildern und Bewegtbildern. Wir haben unsere Userinnen und User mitgenommen in einen OP-Saal, um eine der komplexesten Operationen der heutigen Zeit – die Geschlechtsanpassung von einem Frauenkörper zu einem Männerkörper – zu dokumentieren.
Mit dieser Geschichte erschließen wir journalistisches Terrain, das selten zuvor beleuchtet wurde, und ermöglichen eine einzigartige Nähe zu unserem Protagonisten. Denn das ist auch das, was einen guten Beitrag ausmacht: das Glück, einen außergewöhnlichen Protagonisten zu finden, der mit seiner tabulosen Offenheit, Selbstreflektiertheit und Selbstvertrauen eine so aufwendige Geschichte zu tragen vermag. Mit Nils Mertins haben wir einen solchen Protagonisten gefunden.
Was erwarten Sie von der Preisverleihung?
Von der Preisverleihung erwarten wir uns vor allem, inspirierende Begegnungen mit Kolleginnen und Kollegen aus der Branche, deren Geschichten uns bereits neugierig gemacht haben. Es ist eine Gelegenheit, die Vielfalt und Kreativität im Journalismus zu erleben und voneinander zu lernen. Ebenso freuen wir uns darauf, gemeinsam wichtige Themen ins Rampenlicht zu rücken. Der Theodor-Wolff-Preis bietet eine einzigartige Möglichkeit, diese Themen zu würdigen und ihnen eine neue Sichtbarkeit zu verleihen. Für uns ist es eine Chance, den Wert von herausragendem Journalismus zu feiern und dessen Bedeutung für unsere Gesellschaft hervorzuheben.