Überall hier wird 2024 gewählt

Von Bastian Berbner

In diesem Jahr können auf der Welt so viele Menschen ihre Stimme abgeben wie nie zuvor. Das muss doch eine gute Nachricht für die Demokratie sein. Oder?

Ein umgedrehtes Denkmal
Ben Denzer

Mamun Islam, ein schüchterner junger Mann mit dünnem Bart, steuert am Morgen des 7. Januar sein Moped durch Pirojpur. Die Kleinstadt liegt im Süden Bangladeschs, auf einer der tausend Inseln, die der Ganges hier formt, bevor er in den Indischen Ozean mündet. Mamun Islam fährt zur Grundschule. Er ist 21 Jahre alt und geht an diesem Tag wählen, zum ersten Mal in seinem Leben.

Er gibt seine Stimme der Regierungspartei, weil er will, dass die Premierministerin, Sheikh Hasina, im Amt bleibt, so erzählt er es einige Wochen später. Mamun Islam ist zufrieden mit seinem Leben. Als Reisbauer verdiente er bis zum vergangenen Sommer 18.000 Taka im Monat, etwa 150 Euro. Genug für sich, seine Mutter und seinen Stiefvater. Dann fand er einen Job als Schweißer auf einer Baustelle in der Hauptstadt Dhaka. Dort verdient er 30 Euro mehr. Er kann jetzt sogar ein bisschen sparen. Nächstes Jahr will er heiraten, da kommt ihm das Geld gelegen.

Überall in Dhaka wird gebaut. Mamun Islam sagt: »Sheikh Hasina entwickelt das Land. Das ist gut.«

Mamun Islam und etwa fünfzig Millionen Bangladescherinnen und Bangladescher machten Anfang Januar den Auftakt zu etwas bislang Einzigartigem in der Geschichte: Noch nie konnten weltweit so viele Menschen in so kurzer Zeit ihre Stimme abgeben wie im Jahr 2024. Im Februar folgte Pakistan. Dann Indonesien. Von April bis zum vorigen Wochenende gab es in Indien die größte Wahl aller Zeiten. Ebenfalls am vorigen Wochenende wählten Mexiko und Südafrika. Im November sind die USA dran. Und an diesem Wochenende 360 Millionen Europäer. Am Ende des Jahres werden in mehr als 75 Ländern Wahlen stattgefunden haben.

Als vor 2.500 Jahren die Athener die Idee der Demokratie gebaren, waren ein paar Tausend Männer wahlberechtigt. In diesem Jahr sind es rund drei Milliarden Menschen. Nicht mehr nur Männer, sondern auch Frauen. Nicht mehr nur die Bewohner einer einzigen Stadt, sondern Menschen auf allen Kontinenten, Menschen aller Hautfarben, aller großen Religionen. Nicht mehr nur Gebildete, sondern auch Menschen wie Mamun Islam, der nach fünf Jahren die Schule verließ, um auf dem Reisfeld zu arbeiten.

Die Demokratie hat sich in ihrer langen Geschichte immer weiter ausgedehnt. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion schien sie sich endgültig durchgesetzt zu haben: Ein Land nach dem anderen demokratisierte sich, in Osteuropa, in Lateinamerika, Dutzende innerhalb weniger Jahre. So selbstverständlich schien die Überlegenheit der Demokratie zu sein, dass ein Ausdruck des US-amerikanischen Politologen Francis Fukuyama bald zur Floskel wurde. Der Sieg der liberalen Demokratie – das »Ende der Geschichte«.

In diesem weltweiten Superwahljahr könnte man denken: Fukuyama hatte recht. Der Demokratie geht es so gut wie nie zuvor.

An einem nebligen Februartag in Stockholm schneit es draußen vor den Fenstern auf die Ostsee, als drinnen, am Konferenztisch, eine Politikwissenschaftlerin und zwei Politikwissenschaftler ihre Laptops aufklappen. Sie arbeiten für das Demokratieforschungsinstitut IDEA. Ende 2023 haben sie ihren jüngsten Demokratiebericht veröffentlicht. Darin werten sie Informationen aus der ganzen Welt aus, Statistiken zu Bevölkerungsgrößen, Wirtschaftsdaten, Fakten zum Wahlverhalten; »alles, was zählbar ist«, sagt einer der Wissenschaftler, dazu Analysen von Experten. Aus alldem errechnen sie, wie gut es der Demokratie gerade geht.

Ihre Antwort: nicht besonders gut.

Laut dem Bericht waren die Werte schlechter als im Jahr zuvor, in dem sie schon schlechter waren als ein Jahr vorher. Seit sechs Jahren geht das so. Es ist ein Rückgang, wie ihn die Forschenden noch nie gesehen haben seit 1975, so weit reichen ihre Daten zurück. Sie sprechen von einer Welle der Autokratisierung, die über die Welt schwappe.

Seema Shah, eine resolute Amerikanerin mit strengem Scheitel, leitet das Forschungsteam. Sie weist zunächst auf das Offensichtliche hin: Zu den Staaten, in denen dieses Jahr abgestimmt wird, zählen auch Russland, 144 Millionen Einwohner, und Iran, 88 Millionen Einwohner. Die Menschen dort können zwar zur Wahl gehen, haben aber in Wahrheit keine Wahl. Selbst Nordkorea hatte angekündigt, im Frühjahr Parlamentswahlen abzuhalten, es dann aber nicht getan. »Wahlen allein sind kein gutes Kriterium, um die Gesundheit von Demokratien zu messen«, sagt Seema Shah. »Wichtig ist, ob die Wahlen frei und fair sind.« Und auch das reiche nicht aus.

Dass das Wahlergebnis den politischen Willen der Bevölkerung widerspiegelt, ist nur die erste Dimension dessen, was »Demokratie« bedeutet. Die zweite messen die Forscher in Stockholm mit Indikatoren wie Unabhängigkeit der Justiz, Freiheit der Presse, bürgerliche Freiheiten, Freiheit politischer Parteien.

In vielen Ländern werden diese beiden Dimensionen, das Demokratische und das Freiheitliche, so selbstverständlich zusammengedacht, dass sie eine sprachliche Einheit bilden: die »liberale Demokratie« oder, im deutschen Grundgesetz, die »freiheitliche demokratische Grundordnung«.

In manchen Ländern ist die eine Dimension unter Druck, weil die Wahlen nicht frei und fair sind (zum Beispiel in Singapur). In anderen funktionieren die Wahlen, aber die Freiheiten werden eingeschränkt (Ungarn, Indien). In vielen Ländern ist es beides, »Bangladesch ist ein sehr typisches Beispiel«, sagt Seema Shah.

Ihr Kollege Alexander Hudson, ein junger Kanadier, ruft an seinem Computer die Daten für Bangladesch auf. Ein Koordinatensystem, eine Skala von null bis eins. Er klickt das Kästchen »Freiheit politischer Parteien« an. Ein Wert erscheint: 0,41 Punkte.

»Das ist nicht gut«, sagt Hudson. »Es ist sogar ziemlich schlecht.« Für Deutschland liegt der Wert fast doppelt so hoch, bei 0,74.

Drei weitere Klicks.

Unabhängigkeit der Justiz: 0,30.

Pressefreiheit: 0,43.

Bürgerliche Freiheiten: 0,45.

»Sieht alles eher übel aus«, sagt Hudson. »Und dass die Wahlen dieses Jahr ein Witz waren, darüber müssen wir nicht reden.«

Dann fügt er den Verlauf der vergangenen 25 Jahre hinzu. Aus den Punkten werden Linien, alle zeigen nach unten. »Reden Sie mal mit Menschen in Bangladesch«, sagt Hudson. »Für sie bedeuten diese Werte eine dramatisch veränderte Wirklichkeit.«

190 Prozesse gegen einen Nobelpreisträger

Fragt man Mirza Fakhrul, einen 76 Jahre alten Mann mit schief sitzender Brille, an einem brütend heißen Tag in Dhaka, wie frei seine Partei ist, dann lehnt er sich in seinem Schreibtischstuhl zurück und beginnt, laut zu lachen.

Fakhrul ist Chef der größten Oppositionspartei in Bangladesch. Das heißt, eigentlich ist er nur die Nummer drei. Aber die Nummer eins lebt unter Hausarrest, die Nummer zwei im Londoner Exil. Also führt Mirza Fakhrul die Partei, so gut es eben geht. Gerade saß er mal wieder im Gefängnis.

Zwei Monate vor den Wahlen, erzählt er, haben sie eine Kundgebung in Dhaka abgehalten. Unmöglich, zu rekonstruieren, wer anfing, aber schnell brannten Streifenwagen, die Polizei verschoss Tränengas und Blendgranaten, Schüsse fielen. Am Ende waren Hunderte Menschen verletzt und zwei tot, ein Parteianhänger und ein Polizist.

Am nächsten Morgen klingelte die Polizei bei ihm, erzählt Fakhrul. Er habe den Beamten Tee serviert, bevor er Wechselkleidung und Medikamente in eine Tasche packte. Er kannte das schon. Zehn Mal sei er vorher bereits inhaftiert gewesen. Diesmal sei er im Gefängnis auf 15 weitere Männer aus dem Führungszirkel seiner Partei getroffen. Erst nach der Wahl kamen sie wieder frei. Es gab keine Anklage, keinen Termin bei einem Richter. Menschenrechtsorganisationen geben an, dass nach der Kundgebung nicht nur die Parteispitze, sondern mehr als 20.000 Anhänger festgenommen wurden. Einige wurden gefoltert. Manche starben.

Als Mamun Islam in seinem Städtchen abstimmte, war die Opposition in Kollektivhaft. Sheikh Hasina trat ohne Herausforderer an. Dass sie wiedergewählt werden würde, war schon vor der Wahl klar. Mirza Fakhrul sagt: »Sie ist eine Diktatorin.«

Unweit des Flughafens von Dhaka sitzt ein Anwalt zwischen Bücherregalen, bis zur Decke gefüllt mit in Leder gebundener Rechtsprechung. Seinen Namen solle man nicht nennen, sagt er, sonst könne er nicht sagen, was gesagt werden müsse. Er erzählt, wie vor Jahren der letzte unabhängige oberste Verfassungsrichter Bangladeschs aus dem Land gejagt wurde, er lebt jetzt in Kanada. Der aktuelle oberste Richter ist ein Parteifreund der Premierministerin. Sein Vater saß für die Regierungspartei im Parlament. Sein Bruder, der mal ein persönlicher Berater der Premierministerin war, tut es immer noch. Der Anwalt sagt: »Die Justiz ist unter totaler Kontrolle der Regierung.«

Zyma Islam, 33, ist Reporterin beim Daily Star, der größten englischsprachigen Zeitung Bangladeschs. Voriges Jahr recherchierte sie über einen Vertrauten der Premierministerin, einen Wirtschaftsboss. »In Russland würde man ihn einen Oligarchen nennen«, sagt sie bei einem Treffen im Café neben der Redaktion.

Sie fand heraus, dass der Oligarch illegal Geld in Steuerparadiese schaffte. Während Zyma Islam recherchierte, erhielten ihre Chefs Anrufe und Besuche. Vom Geheimdienst, von Politikern, einmal auch von einem Minister. Sie übten Druck aus, probierten es mit Bestechung. Als der Artikel trotzdem erschien, ging ein Anruf in der Redaktion ein: Man wisse, dass Zyma Islam mit dem Motorrad zur Arbeit fahre. Es sei ein Leichtes, sie zu überfahren und es wie einen Unfall aussehen zu lassen.

Zyma Islam stieg um auf Taxis. Als sie dachte, die Geschichte sei ausgestanden, wurden plötzlich Mitarbeiter einer Eigentümergesellschaft der Zeitung festgenommen. Ihr Chef habe sie gebeten, sich erst mal keine großen Fische mehr vorzunehmen, sagt Zyma Islam.

Der berühmteste Bürger Bangladeschs sitzt im achten Stock eines Turmes in Dhaka, in einem Büro, so groß und hell, dass es Freiheit suggeriert. In Wahrheit trifft man hier einen Geist in Gefangenschaft: Muhammad Yunus, 83, erhielt 2006 den Friedensnobelpreis. Er wird weltweit dafür verehrt, dass er Millionen Menschen Mikrokredite verschafft hat, um sie aus der Armut zu befreien. Anfang Januar verurteilte ihn ein Gericht zu sechs Monaten Haft. Er ist gegen Kaution frei. »Es ist lächerlich«, sagt Yunus.

In Bangladesch gibt es ein Wort für Verfahren mit erfundenen Vorwürfen: »Geisterfälle«. Yunus sagt, gegen ihn seien derzeit 190 solcher Prozesse anhängig. Barack Obama, Hillary Clinton, der Popstar Bono, die Vereinten Nationen und mehr als hundert Nobelpreisträger riefen Sheikh Hasina auf, Yunus nicht weiter zu verfolgen. Ohne Erfolg. Sie nennt ihn öffentlich einen »Blutsauger der Armen«.

Wenn man ihn nach dem Grund fragt, sagt er: »Sie hasst mich, weil ich weltweit mehr Anerkennung bekomme als sie. Sie denkt, sie habe den Friedensnobelpreis verdient.«

So ähnlich wie in Bangladesch, hatte Seema Shah in Stockholm gesagt, sei es auch in Pakistan, in Sri Lanka, in Indien – dort hat sich Premierminister Narendra Modi, ein Hindunationalist, am Dienstagabend zum Sieger der Wahl erklärt. In zahlreichen Ländern rund um die Welt kommen Autokraten und Populisten an die Macht. Auch in Europa. Orbán in Ungarn. Meloni in Italien. Im nächsten Europäischen Parlament werden Umfragen zufolge deutlich mehr Rechtspopulisten und Rechtsextremisten sitzen als bisher.

Egal, ob man die Daten von IDEA anschaut oder die anderer Forschungsinstitute, die Botschaft ist dieselbe: Die Demokratie zieht sich zurück. Demokratische Länder werden weniger demokratisch. Gerade-noch-so-Demokratien werden zu Autokratien. Und Länder, die schon autokratisch waren, werden noch autokratischer. Es scheint, als bewahrheite sich das Gegenteil von Fukuyamas Vorhersage: nicht der Sieg der liberalen Demokratie, sondern ihr Ende.

Die Frage ist: Warum?

In Stockholm hängt diese Frage irgendwann in der Luft. Für einen Moment ist es still, dann sagt Seema Shah, sie hätten darauf keine verlässliche Antwort, nur Anhaltspunkte und anekdotische Evidenz. Spricht man mit weiteren Forschern, mit Politologen, Sozialpsychologinnen, Soziologen und Anthropologen in Deutschland, Österreich, Großbritannien und den USA, dann schälen sich doch Gründe heraus.

Die meisten dieser Gründe erklären, warum sich die Demokratie in einem bestimmten Land zurückzieht, sie sind eher klein. Entscheidender sind die Gründe, die für die ganze Welt gelten. Die erklären, warum die Demokratie nicht nur hier und da unter Druck ist, sondern überall – und überall gleichzeitig.

Die Schwäche der einen

Jede Idee braucht einen Champion. Jemanden, der sie verkörpert, verteidigt. Der andere inspiriert, ihr zu folgen. Und jene sanktioniert, die das nicht tun. Der Champion der Demokratie war lange das Land, in dem die alte Idee aus der Antike in der Neuzeit wiederbelebt wurde, ein Land, das Menschen überall in der Welt von Selbstbestimmung und einem besseren Leben träumen ließ und das Millionen Einwanderer anzog, die bei der Ankunft in der neuen Heimat als Erstes eine Statue der römischen Göttin der Freiheit erblickten: die Vereinigten Staaten von Amerika. Das »Land der Freien«, wie es in seiner Nationalhymne heißt.

In den vergangenen gut zwanzig Jahren haben die USA sich in den Augen von Menschen auf allen Kontinenten für diese Rolle disqualifiziert. Sie sind keine Inspiration mehr. Guantánamo. Abu Ghraib. Folter. Der Einmarsch in den Irak. Der Verrat an den Menschenrechten. Der Bruch des Völkerrechts. Der Trump-Wahnsinn.

In einem der wichtigsten Demokratie-Indizes, dem Polity Score, ist das Mutterland der Demokratie genau das nicht mehr: eine reine Demokratie. Als Trump an der Macht war, wurden die USA bereits mehrfach herabgestuft. Der Sturm auf das Kapitol im Januar 2021, nach der Wahl seines Nachfolgers Joe Biden, stieß das Land dann über die Schwelle. Die USA gelten jetzt als »Anokratie«, eine fragile Zwischenstufe zwischen Demokratie und Autokratie, stets gefährdet, abzurutschen in den dunklen Keller der Gewaltherrschaft.

Kevin Casas-Zamora, der Chef der drei Forscher im Stockholmer Konferenzraum, sagt: »Mittlerweile zitieren sogar Generale in Myanmar Donald Trump, um ihre Politik zu rechtfertigen. Die USA haben ihre soft power eingebüßt.«

Die Stärke der anderen

Es waren nicht nur die strahlenden Vorbilder, die einst Amerikas Attraktivität ausmachten. Es waren nicht nur Martin Luther Kings »I have a dream« und die Hippies von Woodstock, John F. Kennedy und die Helden von Hollywood. Es war auch das Geld.

Nach dem Zweiten Weltkrieg halfen die USA dem zerstörten Westeuropa mit großzügigen Krediten, Kraftwerke und Eisenbahnstrecken zu bauen. Der Marshallplan trug dazu bei, Länder wie Deutschland und Frankreich in ihre Einflusssphäre zu ziehen. Nach diesem Muster verfuhr Amerika auch später noch, in anderen Regionen der Welt – und gab damit eine Antwort auf die vielleicht wichtigste politische Frage: Wer liefert?

Politik ist eine Transaktion. Benötigt heute ein Land Hilfe von einem anderen, dann ist es oft eine Autokratie, die diese Hilfe gewährt. Auch dafür ist Bangladesch ein gutes Beispiel. Als Mamun Islam im Januar aus Dhaka in seine Heimat fuhr, um zu wählen, rollte der Bus über eine neue Brücke, sechs Kilometer lang. Sie wurde vor zwei Jahren eingeweiht – gebaut hat sie maßgeblich China.

Chinesische Investoren ziehen gerade eine Autobahn auf Stelzen über das 23-Millionen-Gewühl Dhakas. Westlich der Hauptstadt errichtet Russland ein Atomkraftwerk. Im Süden will Katar einen Hafen erschaffen.

Weltweit baut China Straßen und Schienen, an rund hundert Häfen ist das Land beteiligt, von Panama bis Vietnam, von Sri Lanka bis Lettland, sogar an einem Terminal des Hamburger Hafens hält ein chinesischer Staatskonzern mittlerweile Anteile. Eine Billion Dollar hat China in den vergangenen zehn Jahren für Infrastruktur außerhalb des eigenen Landes ausgegeben, und es ist wie damals beim Marshallplan: Die Projekte dienen den eigenen ökonomischen und geopolitischen Interessen – aber sie verbessern eben auch das Leben von Millionen Menschen rund um die Welt. Mamun Islam braucht jetzt nicht mehr sieben Stunden, sondern nur noch vier, um seine Verlobte zu besuchen. Er sagt, er freue sich jedes Mal, wenn er über die Brücke fahre.

Noch mehr als zwischen Staaten ist die Frage, wer liefert, innerhalb von Staaten entscheidend – zwischen Regierten und Regierenden. Keine Regierungsform ist selbstverständlich, auch nicht die Demokratie. Sie muss sich stets aufs Neue beweisen. Wenn sie die Probleme der Menschen nicht löst, suchen sich die Menschen eine Alternative.

Lange schien es, als würde sich die Frage, wer sich am besten um seine Bürgerinnen und Bürger kümmert, gar nicht erst stellen. Die Demokratie, wer denn sonst? Die Freiheit, das war das Selbstverständnis der Demokraten des Westens, bringt den Wohlstand automatisch mit sich – ohne freie Wahlen und eine freie Justiz kein freies Wirtschaften und ohne freies Wirtschaften keine Verbesserung der Lebensverhältnisse. Diktatur, das war gleichbedeutend mit Gulag und Kulturrevolution, mit den Fackelzügen der SA und dem Blutdurst afrikanischer Potentaten. Demokratie war Herrschaft für die Menschen. Autokratie war Herrschaft gegen die Menschen.

Diese Gewissheit ist zerbrochen. Was früher als natürliches Nebenprodukt der Demokratie galt, erheben autoritäre Herrscher heute zu ihrem Hauptversprechen: Mit uns wird es euch materiell gut gehen. Man muss sich nur anschauen, welche Länder gerade – gemessen an der Zahl ihrer Nachahmer und Neider – am erfolgreichsten sind.

In Afrika: Ruanda.

Seit dreißig Jahren herrscht Paul Kagame über das Land. Er hat es stabilisiert, die Wirtschaft ist gewachsen, die Lebenserwartung gestiegen, fast die gesamte Bevölkerung ist mittlerweile krankenversichert. Kigali gilt als sauberste Hauptstadt Afrikas und als Paradies für Start-ups. Ruandas Verwaltung ist weitgehend digitalisiert, Plastiktüten sind verboten, Frauen machen die Mehrheit der Abgeordneten aus. Früher wäre klar gewesen: So etwas schafft nur eine Demokratie. Aber Kagame ist ein Diktator.

2015 ließ er die Verfassung ändern, um erneut bei den Wahlen antreten zu dürfen – er erzielte 98,63 Prozent. Im Juli wird Ruanda wieder wählen, der Sieger steht schon fest. Die Opposition ist ausgeschaltet, kritische Journalisten werden ins Exil gezwungen oder ermordet. All das scheint den demokratischen Westen nicht weiter zu stören – er finanziert 70 Prozent des ruandischen Staatshaushalts. Volkswagen baut in Kigali Autos, BioNTech hat dort gerade eine Impfstoff-Fabrik eröffnet, der FC Bayern will einen Fußball-Campus errichten. Für viele afrikanische Länder wiederum ist Ruanda ein Vorbild. Als die Afrikanische Union eine Reformkommission für ihre verkrusteten Strukturen einsetzte, übertrug sie die Leitung an Paul Kagame.

Im Nahen Osten: Katar.

Einst eine verschlafene Halbinsel am Persischen Golf, ist Katar heute eine Mini-Weltmacht. Der Flughafen ist einer der wichtigsten Knotenpunkte der Welt, Al-Dschasira einer der bedeutendsten Nachrichtensender. Katar hat die Fußball-WM ausgerichtet. Der deutsche Vizekanzler Robert Habeck verneigte sich vor dem Emir, um Gaslieferungen für Deutschland zu erbitten. Wenn Israel und die Hamas verhandeln, geht ohne Katar wenig.

Katar ist eine Erbmonarchie, ohne freie Wahlen, ohne Parteien. Vom Wohlstand aber profitieren, ähnlich wie in Ruanda, nicht nur die Herrschenden. Sondern alle Staatsbürger.

In Lateinamerika: El Salvador.

Lange war das mittelamerikanische Land bekannt für die höchste Mordrate der Welt. Die Regierungen kamen und gingen, die Gangs beherrschten die Straßen. Bis 2019 Nayib Bukele an die Macht kam. Der neue Präsident ließ Gefängnisse bauen und Zehntausende inhaftieren. Seither genügen winzige Verdachtsmomente, um für Monate hinter Gitter zu kommen, ohne Anklage, ohne Prozess. Tausende Unschuldige sind in Haft. Aber die Straßen sind sicher.

Heute ist El Salvador das Land mit der niedrigsten Mordrate in der Region. Touristen kommen, Unternehmen aus dem Silicon Valley siedeln sich an. Als El Salvador im Februar wählte, bekam Bukele 83 Prozent. In ganz Lateinamerika ist ein Bukele-Hype ausgebrochen.

Ruanda, Katar, El Salvador – sie sind die regionalen Champions der Autokratie. Es gibt auch einen Weltmeister.

Der Aufstieg Chinas ist die große antidemokratische Erzählung der vergangenen Jahrzehnte. Staunend und schaudernd beobachteten viele Menschen im Westen, wie sich China im Zeitraffer modernisierte, wie Metropolen heranwuchsen und Flughäfen in derselben Zeit entstanden, die man in Berlin braucht, um eine kaputte Rolltreppe zu reparieren. Selbst in der Wissenschaft, eigentlich eine Bastion demokratischer Gesellschaften, ist China mittlerweile Spitze: Keine Institution publiziert mehr als die Chinesische Akademie der Wissenschaften. Die amerikanische Universität Harvard und die deutsche Max-Planck-Gesellschaft liegen dahinter.

Die von China unterdrückten Uiguren. Die ermordeten Journalisten in Ruanda. Die Sklavenarbeiter, die Katars Stadien gebaut haben. Die Unschuldigen in salvadorianischen Gefängnissen und die vielen anderen Menschen, die unter autokratischer Herrschaft leiden. Sie alle stehen mit ihren Schicksalen im Schatten der noch zahlreicheren Menschen, die von genau dieser Herrschaft profitieren.

China hat 800 Millionen Menschen aus der Armut geholt – die größte Elendsverringerung in der Geschichte der Menschheit.

In Ruanda sinkt die Armut ebenfalls, das Pro-Kopf-Einkommen steigt.

Katar gehört mittlerweile zu den reichsten Ländern der Welt.

Und in El Salvador bekamen die Menschen das, wonach sie sich sehnten: Sicherheit.

Die Psychologie der Angst

Im Universitätsklinikum Salzburg zieht Pia Steinböck, eine Frau Anfang vierzig, ihren weißen Kapuzenpulli aus und ein OP-Hemd an. Dann legt sie sich auf den Rücken. Steinböck hat sich einen halben Tag freigenommen von ihrem Bürojob, um an diesem Experiment teilzunehmen. Sie nestelt an ihren Fingern, als die Wissenschaftler sie in eine MRT-Röhre schieben. In den nächsten Minuten wird die Maschine den Blutfluss in Pia Steinböcks Gehirn messen.

Steinböck sieht eine Videosequenz: Der Joker aus der Batman-Filmreihe erschießt lachend einen Moderator.

In einer Szene aus Fight Club verprügelt Brad Pitt einen Menschen, das Blut spritzt.

Ein Mädchen wird vor seiner Klasse von der Lehrerin bloßgestellt.

Als Pia Steinböck wieder aus der Röhre auftaucht, sagt sie: »So schlimm war es gar nicht, da sind die Nachrichten schlimmer.«

Das Ergebnis des Experiments wird erst in einigen Monaten vorliegen. Weitere Probanden müssen untersucht und die Bilder übereinandergelegt werden, ein einzelner Scan ist nicht aussagekräftig. Das Team der Universität Salzburg erforscht, was im Hirn von Menschen geschieht, die sich bedroht fühlen.

Ein wichtiger Vertreter dieser Forschung ist ein amerikanischer Sozialpsychologe namens John Jost, ein Mann mit ergrauendem Kinnbart und fester Stimme. Im Videotelefonat aus seiner New Yorker Wohnung erzählt Jost, dass er mit seinen Experimenten schon vor dem 11. September 2001 begonnen hat. Seine Vermutung war, dass Menschen nicht mit Unsicherheit umgehen können. »Das ist tief in uns verankert. Wir wollen, dass die Bedrohung beseitigt wird. So schnell wie möglich, koste es, was es wolle.«

9/11 war für seine Hypothese dann ein Testfall in der realen Welt. In den Monaten nach den Anschlägen interviewte Jost Menschen, die sich im World Trade Center oder in der Nähe befanden, als die Flugzeuge einschlugen. Ein großer Teil dieser Überlebenden wurde messbar konservativer, autoritärer. So wie das ganze Land. Plötzlich zogen die Amerikaner bei Maßnahmen ihrer Regierung mit, die eigentlich den eigenen Werten widersprachen. Guantánamo. Abu Ghraib. Folter. Irak. Der Verrat an den Menschenrechten. Der Bruch des Völkerrechts.

John Jost begann, weitere Terrorattacken rund um die Welt zu analysieren. Nach all diesen Akten unerwarteter kollektiver Gewalt gab es bei den nächsten Wahlen einen Rechtsruck. Jost entwickelte die These, dass es sich um ein grundsätzliches menschliches Phänomen handelt. Er nannte es authoritarian shift, den Schwenk ins Autoritäre. »Wenn sich Menschen bedroht fühlen, dann wollen sie einen starken Typen an ihrer Seite, der sie beschützt.«

Das Team, das Pia Steinböck im Hirnscanner untersucht, wird geleitet von der Forscherin Eva Jonas. Sie ist Professorin für Sozialpsychologie an der Uni Salzburg und befasst sich mit der Psychologie der Bedrohung in etwa so lange wie John Jost, auf dessen Arbeit sie aufbaut – indem sie zum Beispiel die Vorgänge im menschlichen Gehirn untersucht.

Ihr Team fand eine erhöhte Aktivität des anterioren cingulären Kortex, einer Art Gefahrenradar des Gehirns, der auf Dinge reagiert, die nicht mit dem Erwarteten übereinstimmen; so wie die Bedrohung durch terroristische Gewalt. Auch die Amygdala ist dann aktiver, das Angstzentrum des Gehirns. In solchen Gemütszuständen zeigen Menschen mehr Rassismus, mehr Aggressivität gegenüber Menschen, die anders sind als sie selbst – und, das ist entscheidend, mehr Sympathie gegenüber Menschen, von denen sie denken, dass sie so sind wie sie selbst.

Eva Jonas schloss daraus, dass der von John Jost beschriebene Rechtsruck, den Menschen in Bedrohungssituationen vollziehen, einhergeht mit etwas anderem: Menschen, die sich bedroht fühlen, würden »gruppiger«, sagt Jonas. Sie flüchten sich, weil sie allein das Problem nicht lösen können, es aber unbedingt gelöst haben wollen, in die Identifikation mit einer Gruppe, der sie als Ganzes die Lösung zutrauen – der AfD, dem »Islamischen Staat«, den Russen, den Weißen.

In den vergangenen zwanzig Jahren hat Eva Jonas viel Zeit damit verbracht, zu testen, ob Menschen nicht nur auf Terror, sondern auch auf andere Bedrohungen in dieser Weise reagieren. Die Erkenntnis: Egal ob es um Massenarbeitslosigkeit geht, eine Finanzkrise, die »Islamisierung Europas« oder die zunehmende Sichtbarkeit von Menschen mit Migrationshintergrund – immer gab es ähnliche körperliche Effekte. Und zwar völlig unabhängig davon, ob die Bedrohung objektiv gesehen real ist. Die subjektive Wahrnehmung ist entscheidend. Sie reicht aus, um das Gehirn in den Gefahrenabwehrmodus zu bringen.

Ausgehend von dem, was Eva Jonas herausgefunden hat, kann man sich die Menschheit von heute als ein paar Milliarden anteriore cinguläre Kortexe vorstellen, die Alarm schlagen. Als ein paar Milliarden Menschen, denen das alles zu viel wird, was sie selbst erleben oder ständig als Bilderschnipsel und Nachrichten auf ihrem Smartphone zu sehen bekommen: die Pandemie, die Kriege, die Klimakrise, die Migrationsströme. So flüchten sie sich in die Arme derer, die ihnen Sicherheit versprechen und das Aufgehobensein in einem großen Ganzen.

Es lohnt sich, dazu den World Values Survey anzuschauen, eine weltweite Umfrage, bei der teilweise seit Jahrzehnten dieselben Fragen gestellt werden. Unter anderem diese: Wie würde es Ihnen gefallen, regiert zu werden von einem »starken Anführer, der sich nicht mit einem Parlament und Wahlen herumschlagen muss«? Man könnte diese Frage auch so formulieren: Wie fänden Sie es, nicht mehr in einer Demokratie zu leben?

Derzeit sagen 43 Prozent aller Menschen, sie fänden das »gut« oder »sehr gut«, das sind acht Prozent mehr als noch Mitte der Neunzigerjahre. In Deutschland waren es 2018 bei der letzten Erhebung 24 Prozent (Mitte der Neunziger: 13 Prozent). In den USA sind es 37 Prozent (in den Neunzigern: 24 Prozent). Die Sehnsucht nach dem starken Mann, und laut John Jost ist es tatsächlich fast immer ein Mann, ist in der Multi-Krise der vergangenen Jahre deutlich gewachsen.

Kevin Casas-Zamora, der Chef des Stockholmer Instituts IDEA, sagt: »Demokratie ist etwas für gute Zeiten. Wenn es rau wird, gerät sie in Schwierigkeiten.«

Das klingt sehr düster. Wie beunruhigt sollte man sein? Oder, positiver formuliert: Kann man etwas tun?

Der Kampf um die Demokratie

Anna Lührmann, 40 Jahre alt, legt in ihrem Berliner Büro einen Artikel auf den Tisch. Sie hat ihn vor vier Jahren geschrieben, als sie noch am Demokratieforschungsinstitut V-Dem der Universität Göteborg arbeitete. Dort wird ein riesiger Demokratie-Datensatz verwaltet, den auch die Forscher in Stockholm verwenden.

Lührmann hat in dem Artikel untersucht, wie Demokratien zugrunde gehen. Sie blättert, Seite drei, ein Schaubild mit Pfeilen und Kästchen. Sie nimmt einen Bleistift in die Hand und sagt: »Eine Demokratie bricht nicht einfach so zusammen. Da muss viel zusammenkommen.«

Sie beginnt zu unterstreichen, Kästchen für Kästchen. Genug Menschen müssen unzufrieden sein mit der Demokratie. Es muss demokratiefeindliche Parteien geben, die diese Unzufriedenheit ausnutzen wollen. Diese Parteien müssen ihr Handwerk verstehen, so gut, dass sie Wahlen gewinnen können. Die Opposition muss schwach sein. Die Institutionen, die die Demokratie erhalten, auch. »Nur wenn all das zusammenkommt, bricht eine liberale Demokratie wirklich zusammen«, sagt Lührmann. »Das passiert nicht so häufig!«

Polen mache Hoffnung, sagt sie. Dort gewann der liberale Donald Tusk die Wahlen nach Jahren einer rechtspopulistischen Regierung. Joe Bidens Wahlsieg vor vier Jahren sei ebenso ein Grund zur Hoffnung. Genau wie Lula da Silvas Sieg über den Populisten Bolsonaro bei den Präsidentschaftswahlen in Brasilien.

»Es ist nicht so, dass es automatisch immer weiter runtergeht«, sagt Lührmann.

Und dennoch, Anna Lührmann gibt zu, dass sie sich Sorgen macht. Sorgen, die so groß sind, dass sie 2021 bei V-Dem kündigte – und die Branche wechselte.

Das Berliner Büro, in dem sie den Artikel zeigt, liegt im zweiten Stock des Auswärtigen Amtes, nur ein paar Türen entfernt von dem ihrer Chefin, Annalena Baerbock. 2021 trat Lührmann für die Grünen bei der Bundestagswahl an. Sie schaffte es ins Parlament, und Baerbock machte sie zu ihrer Stellvertreterin im Auswärtigen Amt, zur Staatsministerin für Europa und Klima.

An einem Mittwochmorgen im Frühling steigt Anna Lührmann in Berlin in ein Flugzeug. In der litauischen Hauptstadt Vilnius wird sie Deutschland bei einem Gipfel vertreten – eigentlich ein Termin von ein paar Stunden, sie wird trotzdem zwei Tage bleiben. Seit sie im Amt ist, hört sie immer wieder, dass es etwas gibt, in dem Litauen so gut ist wie kein anderes Land in Europa: im Kampf gegen russische Desinformation.

Lührmann hält die russischen Angriffe auf westliche Öffentlichkeiten mit Trollen, Fake-News und Hacker-Angriffen, auch das Beeinflussen von Wahlkämpfen und Wahlen, für eine große Bedrohung der Demokratie. Eine, der Litauen zu widerstehen scheint. Es gibt keine rechtspopulistische Partei im Parlament, auch keine großen prorussischen Gruppen in der Bevölkerung. In der Öffentlichkeit scheint die russische Propaganda von der bösen Nato und den Nazi-Soldaten aus Deutschland nicht zu verfangen.

In Vilnius trifft Anna Lührmann auf Menschen, die ihr erzählen, dass Litauen in den vergangenen Jahren 80 russische Medien verboten hat. Dass es Fact-Checking-NGOs gibt. Dass sich eine Kultur der freiwilligen Überprüfung entwickelt hat – Leute recherchieren in ihrer Freizeit Geschichten hinterher, die ihnen verdächtig vorkommen. Und Lührmann trifft junge Aktivistinnen, die Schülern und deren Lehrerinnen beibringen, wahre von falscher Information zu unterscheiden, unter anderem mithilfe von Computerspielen.

Die russische Autokratie führt einen Informationskrieg gegen die Demokratien des Westens. Sie will sie beeinflussen, schwächen, vielleicht sogar zerstören. Die litauische Gesellschaft ist in diesem Krieg angekommen, sie kämpft zurück. Viele andere tun es nicht.

Einmal sitzt Anna Lührmann im Auto mit Diplomaten der deutschen Botschaft in Vilnius. Einer erzählt ihr, dass die Botschaft nicht einmal über abhörsichere Technik verfüge. Er gehe davon aus, dass die Russen alles mithören, auch das Gespräch, das sie gerade führten. Er fordert sie auf, einige ihrer Kolleginnen und Kollegen im Bundestag aus deren »Barbie-und-Ken-Welt« herauszuholen. Dazu gehöre, die Botschaft mit sicherer Technik auszustatten.

Anna Lührmann sagt, sie nehme das mit nach Berlin.

Fragt man Anna Lührmann sechs Wochen später am Telefon, ob die Botschaft diese Technik bekommen habe, sagt sie: »Wir haben dafür kein Geld. Der Finanzminister will, dass unser Haushalt um 23 Prozent sinkt.« Stattdessen sei ihr etwas anderes gelungen. Sie habe das Thema Desinformation in Brüssel platziert. Es gibt jetzt ein Statement des Europäischen Rates, in dem mehr Medienkompetenz in den Lehrplänen der Schulen gefordert wird.

Lührmann hat es geschafft, Einigkeit in der Bundesregierung herzustellen, als Nächstes hat sie ihre Amtskollegen aus Frankreich und Polen davon überzeugt, gemeinsam den Vorstoß in Brüssel zu starten, schließlich brachte sie 13 weitere Mitgliedstaaten dazu, sich ihnen anschließen – am Ende stand dann ein Schriftstück von drei Seiten. In Anna Lührmanns Welt ist das ein großer Erfolg. Aber wird er dazu führen, dass europäische Schülerinnen und Schüler mehr Medienkompetenz erlangen? Dass sie wachsamer werden für die Einflussnahme aus Russland?

Einige Monate nach den Europawahlen wird es eine neue EU-Kommission geben. »Selbst wenn die auf unsere Forderungen eingeht, sind es ja nur Empfehlungen an die Mitgliedstaaten«, sagt Lührmann. »Umsetzen müssen das in Deutschland die Bundesländer. Im allerbesten Fall schaffen wir es in ein bis zwei Jahren, die Lehrpläne zu ändern. Dann müssen Lehrerinnen und Lehrer ausgebildet werden. Das wird dauern.«

Anna Lührmann ist Abgeordnete. Sie ist Staatsministerin. Sie hat Mitarbeiterinnen und Budgets und das Ohr von Annalena Baerbock und Robert Habeck. Sie hat Macht. Und wirkt gleichzeitig manchmal ziemlich machtlos. Das liegt nicht an ihr persönlich. Es liegt daran, dass in Demokratien die Macht zersplittert ist.

Vermutlich hätte China innerhalb einer Woche abhörsichere Technik installiert. Vermutlich hätte Paul Kagame in Ruanda mal eben eine Änderung der Lehrpläne angeordnet. Anna Lührmann sagt, sie verstehe, dass die Langsamkeit der Demokratie lähmend erscheine, manchmal sei sie das auch, aber am Ende sei sie eine gute Sache. »Wir wollen nicht, dass in Berlin heute jemand auf den Knopf drücken kann, und schon wird ab morgen in allen deutschen Schulen etwas anderes gelehrt. Das ist doch ein Schutz für unsere Demokratie.«

Überhaupt findet sie, dass die liberale Demokratie viel besser sei als ihr Ruf. Trotz aller »Bei uns geht es euch gut«-Versprechen der Autokratien: Studien zeigten, dass Menschen in Demokratien im Durchschnitt immer noch länger lebten, gesünder und glücklicher seien. Und manchmal vergesse man das Allerwichtigste, den Kern demokratischer Errungenschaft: friedliche Machtwechsel. Autokratien könnten noch so erfolgreich sein, sagt Lührmann, es gebe da immer eine Absturzgefahr. »Ein Verfallsdatum«, so nennt sie das.

Sheikh Hasina, die Premierministerin von Bangladesch, ist 76 Jahre alt. Wladimir Putin ist 71. Wer wird übernehmen, wenn sie nicht mehr an der Macht sind? Paul Kagame in Ruanda und Nayib Bukele in El Salvador sind jünger, doch auch sie werden nicht ewig regieren. Wer wird ihnen folgen?

In starken Demokratien hat diese Frage keine große Bedeutung. Die Menschen gehen wählen, eine andere Partei gewinnt, vielleicht auch dieselbe wie vorher, aber mit einer neuen Spitze. Dann ist die nächste Regierung dran. Autokratien, das zeigt die Geschichte, drohen in solchen Momenten des Übergangs abzurutschen in politische Gewalt und Chaos.

Als sie noch Wissenschaftlerin war, schrieb Anna Lührmann einen weiteren Artikel. Darin hat sie die Entwicklung der Demokratie in den vergangenen 120 Jahren in den Blick genommen.

Es gab drei Wellen der Demokratisierung. Die erste setzte Ende des 19. Jahrhunderts ein, mit dem Durchbruch der Massenmedien, dem Entstehen moderner Parteien, der Emanzipation bislang benachteiligter Gruppen. Sie endete mit dem Ersten Weltkrieg. Auf einmal wirkte die Demokratie alt und hinfällig. Die totalitären Systeme hingegen: jung, dynamisch, attraktiv. Die Zahl der Demokratien sank.

Die zweite Welle der Demokratisierung begann nach dem Zweiten Weltkrieg, katalysiert durch das Ende des Faschismus und die Dekolonisation. Die Zahl der Demokratien in der Welt sprang auf 45, sank dann aber in den 1960ern und 1970ern wieder.

Die dritte Welle baute sich mit dem Ende des Kalten Krieges auf. In den 1990ern demokratisierte sich der Osten Europas, aber auch ein großer Teil Lateinamerikas. Das Ende der Geschichte – das natürlich kein Ende war. Aktuell befindet sich die Welt wieder in einmal in der Gegenwelle.

In ihrem Artikel hat Lührmann die Wellen und Gegenwellen in einem Koordinatensystem dargestellt. Darauf erkennt man: Nie haben es die Autokraten geschafft, den Zuwachs an Demokratie komplett zunichtezumachen. Es blieb bei jeder Demokratisierungswelle ein Nettogewinn übrig. Betrachtet man den langen Zeitraum, zeigt sich also ein dauerhafter Aufwärtstrend.

So viel Angst man im Superwahljahr 2024 auch um die Demokratie haben kann, wahr ist: Die Welt ist derzeit immer noch demokratischer, als sie es zu Beginn der Neunzigerjahre war. Die Demokratie ist, trotz aller Probleme und aller Kritik, immer noch die beliebteste Regierungsform. Und vielleicht macht gerade das ihre Stärke aus – dass sie fähig ist, sich immer wieder selbst zu hinterfragen.