Yazan und Mohammed stehen auf dem Hermannplatz in Berlin-Neukölln und haben ein Problem. Es ist Sonntagnachmittag, Tag eins, nachdem die Hamas in Israel den Grenzzaun um Gaza überwand und israelische Staatsbürger angriff, misshandelte, tötete und verschleppte. Für Yazan, Mohammed und die fünf, sechs anderen Jungs, mit denen sie hier sind, alle kaum zwanzig, ist die Attacke der Hamas kein Terror, sondern ein Grund zum Feiern. "Freude" fühle er, sagt Mohammed, "seit gestern. Das ist so wichtig für unser Land."
Deshalb würden sie jetzt gerne die Flagge Palästinas ausrollen, die sie dabeihaben. Dafür sind sie extra aus Spandau nach Neukölln gefahren, eine Dreiviertelstunde mit der U-Bahn. Aber ein paar Meter weiter stehen Polizisten, Daumen an den dicken Schutzwesten eingehakt, und gucken streng.
Gerade haben sie Yazan, Mohammed und den anderen erklärt, wie das hier läuft: Wenn sie die Flagge präsentieren, wird ihre Zusammenkunft zu einer Kundgebung. Die müssten sie anmelden, oder, verwaltungstechnisch präziser, vor Ort spontan "anzeigen". Dafür müsste einer aus der Gruppe seine Personalien angeben, der sei dann Versammlungsleiter und fürs Erste verantwortlich. Dazu konnte sich weder der Wortführer Mohammed, noch Yazan oder einer der anderen bislang durchringen.
Die Gruppe hockt und steht also ein bisschen verloren auf den Betoneinfassungen der Beete, Flagge zerknüllt in der Faust, und wartet. Hier muss doch was gehen, das ist doch Neukölln, Hermannplatz, Hotspot! Sie alle haben auf Social Media gesehen, was in der Nacht zuvor hier los war: eine palästinensische Jubelfeier, von, laut Polizei, "in der Spitze etwa 65 Personen", schnell aufgelöst, nachdem Parolen gerufen wurden, die Israel das Existenzrecht absprechen. Videoclips zeigen, wie Polizisten unter den "Allahu Akbar"-Rufen der Umstehenden rabiat einen Demonstranten zu Boden bringen – Action. "Und wir waren nicht dabei", sagt Yazan und guckt bedauernd.
Neukölln ist ein Symbol, auch für die Spandauer Yazan und Mohammed. Sie sehen in dem Stadtteil ein Versprechen, einen Ort des Anschlusses, vermuten hier Gleichgesinnte, neben denen sie zeigen können, was sie denken. Für viele andere, auch jenseits der Hauptstadt, ist Neukölln, Heimat von 300.000 Menschen, gerade vor allem wieder eins: die Problemzone Berlins.
Während Social-Media-Accounts am Samstag erste Videos der Hamas-Attacke verbreiteten, Clips, in denen zu sehen ist, wie die Terroristen Unbewaffnete entführen oder erschießen, wie sie leblose Körper bespucken, treten und unter Jubel über Sandpisten schleifen – während also die Bilder des Terrors ihren Schrecken zweiter Ordnung entfalteten, verteilte auf der Neuköllner Sonnenallee mindestens ein Mann mit Palästina-Flagge über den Schultern Baklava an Passanten. Ein Freudenritual.
Wie kann man sich darüber freuen, dass anderswo auf der Welt Menschen abgeschlachtet werden? Das würde man gern von Yazan und Mohammed wissen. "In Gaza sterben Tausende Kinder, da sagt niemand hier was", sagt Mohammed. "Eins für eins", Auge um Auge. Er trägt eine Kufiya über dem gelben Shirt, das schwarz-weiße Palästinensertuch.
"Eigentlich", sagt sein Kumpel Yazan, "soll niemand sterben. Aber wir wollen unser Land zurück." Er trägt dichte, schwarze Locken, einen kleinen Kinnbart und kramt nach seinem Ausweis. Unter Staatsangehörigkeit steht dort: XXX. Staatenlos. "Dabei habe ich doch ein Land!"
Die jungen Männer wirken fast noch wie Kinder. Sie albern und blödeln – und scheinen beeindruckt von den Polizisten in ihren gepanzerten Uniformen.
"Was haben Sie da?"
"Pfefferspray."
"Boah."
Yazan, Mohammed, freut ihr euch wirklich über die getöteten und gequälten Israelis? Mohammed zuckt die Schultern. Die Videos kenne er nicht, aber er habe in der Vergangenheit Videos von ermordeten Palästinensern gesehen, "tausendfach".
Was genau soll ihrer Meinung nach mit der jüdischen Bevölkerung Israels geschehen, wenn die Hamas ihren Willen bekäme?
"Die sollen in ihr Land gehen", sagt Yazan.
Wo genau liegt das denn?
Er denkt kurz nach. "Okay, die sollen bei uns bleiben", sagt er, "Hauptsache auf der Weltkarte steht Palästina."
Die Gruppe scheint nicht so recht zufrieden – weder mit dem Verlauf des Gesprächs noch mit dem des Ausflugs. Sie drängeln weiter. "Können wir die Flagge wenigstens kurz benutzen, um ein Foto zu machen?", fragt einer in Richtung des größten Polizisten. Der schüttelt den Kopf, guckt dann aber erst mal woanders hin. Die Jungs ergreifen die Chance und rollen die Fahne aus, "macht wer Foto? Schnell!". Ein älterer Mann, Kufiya um den Kopf gebunden, kommt dazu, hält sich an einer Ecke der Fahne fest. Sie posieren mit ausgestrecktem Zeigefinger. Der bedeutet im Islam die Einheit Gottes. Eine Überlegenheitsgeste, beliebt bei Dschihadisten und dem IS. Im Vorbeifahren hupt ihnen ein Autofahrer aufmunternd zu.
Jetzt ist der große Polizist wieder voll da mit seiner Aufmerksamkeit. Er sagt ein paar Worte auf Türkisch – und muss dann lachen: "Ich bin zwar kein Palästinenser, aber ihr haltet die Flagge falschrum." Sie knüllen die Fahne zusammen und schlurfen in Richtung U7, heim nach Spandau.
Wie verbreitet ist die Sicht von Yanaz und Mohammed in Neukölln? Es war keineswegs so, dass nach den Angriffen überall Freudenfeiern ausgebrochen wären. Süßigkeiten verteilten nur wenige. Martin Hikel, Neuköllns Bezirksbürgermeister von der SPD, sagt aber am Telefon: "Diese rechtfertigende Haltung dürften in der Community sehr viele teilen." Nur vielleicht eben im Stillen. Mit der Community meint er etwa 60.000 Menschen aus dem arabischen Sprachraum, die meisten davon wohnten demnach geballt in wenigen Straßenzügen im Norden Neuköllns. Das seien selbstverständlich nicht alles Palästinenser und unter ihnen gebe es sicher auch Einzelne, die die Gewalt verurteilten, sagt Hikel. Öffentlich zu hören seien die aber kaum.
Am Brandenburger Tor wehen Israel-Flaggen. Etwas abseits der proisraelischen Kundgebung stehen am Sonntagnachmittag zwei junge Männer in schwarzen Trainingsanzügen und weißen Sneakern. Gehört ihr zur Demo? "Nee, wir sind Palästinenser", sagt einer von ihnen. Er stellt sich als Ahmed vor, sein Kumpel heißt Khaled. "Traurig", sagt Ahmed. Was genau? "Alles fake hier." Er deutet auf die Demonstrierenden, die Israel-Fahnen. "Das sind bestimmt keine bösen Menschen", sagt er, "aber sie wissen nichts. Wir sehen es jeden Tag im Fernsehen." Er zeigt dann auf seinem Handy, was er meint: Videos von explodierenden Hochhäusern in Gaza, Palästinenser, die ihre toten Kinder im Arm halten.

Die Videos stammen vom palästinensischen Mediendienst qudsn und TRT Arabi, dem arabischen Ableger des unter Kontrolle der islamisch-rechtspopulistischen AKP stehenden türkischen Staatssenders. Aus der Ferne ist der Krieg in Israel vor allem ein Krieg um Bilder – und die Deutungshoheit darüber. Ob sie auch Videos von getöteten Israelis gesehen haben? Ahmed schüttelt den Kopf. Was hat er gefühlt, als er von den Angriffen der Hamas gehört habe? "Ich habe mich gefreut", sagt Ahmed. "Gefreut für mein Land." Aber, das ist ihm wichtig: "Nicht wegen toten Bürgern, nur wegen toten Soldaten." Sie müssen jetzt los. In Neukölln, haben sie gehört, solle später vielleicht noch was gehen, ein Zeichen für die Freiheit Palästinas.
Ein solches Zeichen, mutmaßt die Berliner Polizei auf X, könne die Säule auf dem Hermannplatz sein. Es gebe Hinweise, dass sie als "Ort der Glorifizierung des Angriffs auf Israel dienen" solle. Die Säule besteht aus einem etwa sechs Meter hohen, schmucklosen Sockel, obendrauf steht eine Bronze-Plastik, ein tanzendes Paar. Früher haben sich die Tanzenden zweimal in der Stunde gedreht, seit der Jahrtausendwende stehen sie still. Die Säule ist auf andere Art ein Ort des Ausdrucks geworden: Plakate, Graffitis.
Nach den Meldungen über die Hamas-Attacken bemalten Menschen die Vorderseite mit einer palästinensischen Flagge. Die Polizei strich mit weißer Farbe drüber. Jemand ergänzte wieder das palästinensische Schwarz-Rot-Grün, alles innerhalb weniger Stunden. An diesem Sonntagabend bewacht die Polizei die Säule der Tanzenden, das Flaggen-Graffiti ist notdürftig mit Plastikfolie verhängt. Ab und zu schleichen Grüppchen mit Palästinensertüchern vorbei.
Unter anderem drei junge, hip gekleidete Frauen. Hallo, würdet ihr mit ZEIT ONLINE sprechen? Gegenfrage: "Seid ihr pro Palästina?" Und bevor man selbst so richtig beginnen kann, über diese nicht ganz triviale Frage nachzudenken, geben sie selbst eine Antwort: "La". Arabisch für nein. Sie drehen sich weg.
Es ist inzwischen dunkel geworden. Ahmed schreibt über Instagram, sie seien nach Hause gegangen, Zeit mit der Familie verbringen. Ging doch nichts mehr in Neukölln. Aber jetzt hier vor der Säule am Hermannplatz ergibt sich die Möglichkeit, mit der Frau zu telefonieren, die am Tag zuvor die propalästinensische Kundgebung angemeldet hat, bei der israelfeindliche Parolen gerufen wurden.
Die Frau heißt Aitak Barani, stammt aus dem Iran und lebt in Frankfurt. Sie ist Teil eines umstrittenen Palästina-Vereins, fiel als BDS-Unterstützerin auf und war laut ihrem Rednerinnen-Profil der Rosa-Luxemburg-Konferenz 2017 Mitglied der DKP. Sie sei zufällig in Berlin gewesen und habe sich bei der palästinensischen Zusammenkunft am Samstag spontan bereit erklärt, die Kundgebung anzuzeigen. Sie sei, das betont sie als Erstes, Antifaschistin. Ihr Blick auf Israel, das wird sofort klar, ist der einer Radikalen. "Die zionistische Entität Israel hat kein Existenzrecht", sagt sie. Das sei sie bereit, auch dann zu wiederholen, wenn es ihr irgendwann gerichtlich verboten werden sollte.
Ob wirklich sie die Demo angemeldet hat, will die Polizei nicht bestätigen. Die Versammlungsleiterin sei eine Privatperson gewesen, deshalb gelte besonderer Datenschutz.
Live ins Internet übertrug die Kundgebung die Organisation Samidoun, ein Netzwerk, dessen offizielles Anliegen die Freilassung palästinensischer Gefangener ist. Aber Samidoun gilt als Vorfeldorganisation der Volksfront zur Befreiung Palästinas, einer von der EU und den USA als Terrororganisation eingestuften Gruppe, deren Ziel ein sozialistisch-palästinensischer Staat auf dem Gebiet Israels ist.
Martin Hikel, der Bezirksbürgermeister, stört sich schon länger an den Aktionen von Samidoun in seinem Stadtteil. "Sie hängen Plakate, huldigen vermeintlichen Märtyrern, die als Terroristen in Israel inhaftiert sind. Das ist geistige Brandstiftung." Er würde sich wünschen, "dass man die angespannte Situation nutzt, um so einer Organisation die Legitimität zu entziehen".
Sie selbst sei kein Samidoun-Mitglied, sagt Barani, die mutmaßliche Anmelderin der Demo. "Aber ich unterstütze, was die machen." Man muss jetzt ein paar Dinge klären mit ihr: Ob sie – als Antifaschistin, als Linke – nicht erschreckt sei von der Gewalt der Hamas? "Ich wünsche mir auch eine rosarote Welt. Aber die wahren Opfer sind hier diejenigen, die sich wehren." Ob es sie nicht irritiere, dass Menschen in Berlin Süßigkeiten verteilen, als würden sie sich über Morde freuen? "Nein. Ich kenne diese Tradition und ich finde sie ganz toll. Man verteilt Baklava, wenn der Widerstand Fortschritte macht." In den nächsten Tagen wolle sie selbst Baklava verteilen, bei sich zu Hause in Frankfurt.
Ob sie sich wirklich freuen könne, dass in Israel Zivilisten starben? "Ich finde es schwierig, im Rahmen einer Besatzung von Zivilisten zu sprechen." Den Gedanken, dass auch Palästinenser Fehler machen könnten, scheint sie partout nicht zulassen zu wollen.
Es ist jetzt Nacht auf dem Hermannplatz. Nur noch wenige Menschen sind unterwegs. Die Polizisten bewachen die Säule mittlerweile aus dem warmen Mannschaftswagen heraus, sie haben sie inzwischen wieder weiß übermalt. Auf den Betoneinfassungen der Beete sitzen ein Vater und seine Tochter. Sie trägt Kopftuch, er spricht kein Deutsch. Sie seien Palästinenser, sagt sie. Was ihr Vater über Israel zu erzählen hat, möchte sie aber lieber nicht übersetzen, alles Gute, schönen Abend. Die zwei bleiben schweigend sitzen und betrachten die Säule, wo durch die weiße Farbe noch ein bisschen Schwarz-Rot-Grün schimmert.