Das Tuch hing bei einem fliegenden Händler in West-Berlin, und es gab in dem Winter nach dem Mauerfall tatsächlich ein paar gute Gründe, dafür hinzulegen, was vom Begrüßungsgeld noch übrig war. Zum Beispiel war so ein P-Tuch nicht teuer, vielleicht fünf Mark, und „P-Tuch“ sagten diejenigen, die auch „O-Straße“ sagten zur Oranienstraße in Kreuzberg, wo es besonders viele Leute um den Hals trugen und bei Demonstrationen auch vorm Gesicht: P-Tuch as in PLO-Tuch oder Palästinensertuch, kurz Pali, gesprochen Palli, das a so kurz wie das o in Molli…
Heute nennt die Kreuzberger Tageszeitung „Die Tageszeitung“ das P-Tuch ein „Problemtuch“, weil die Schulverwaltung von Berlin Direktoren freistellt, es in ihren Häusern zu verbieten, wenn der Schulfrieden gefährdet sei. Das hat vor allem unter arabischen Eltern in Neukölln für Protest gesorgt. Und das ist wirklich ein Unterschied zu damals, denn damals waren arabische Jugendliche so gut wie die einzigen, die man nie ein P-Tuch tragen sah - abgesehen von türkischen Jugendlichen, Poppern und der Jungen Union.
Für den westdeutschen Mittelschichtsnachwuchs links der Mitte schien das P-Tuch dagegen so zwingend zur Garderobe zu gehören wie Socken, Schlüpfer, Jeans. Nicht ohne Grund hängt ein Exemplar auch im „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ in Bonn, Abteilung 1974 bis heute. Jugendliche aus der DDR, die sich zumindest als links von Rechtsaußen markieren wollten, übernahmen das umgehend. Klassischer Fall von Ironie der Geschichte, dass die Milieus, die am wenigsten mit einer „Wiedervereinigung“ anfangen konnten, als erste äußerlich angeglichen waren.
Möglicherweise wurde so auch eine Mode noch einmal belebt, die sonst, wer weiß, schon am Auslaufen gewesen wäre. Die Ostdeutschen haben nach ihrem Beitritt die BRD der Achtziger politisch wie ästhetisch vielfach bestätigt und verlängert. Sie hielten nicht nur Kohl als Kanzler im Amt, sondern dank ihres Bündnis 90 auch die rausgewählten Grünen im Bundestag und am Leben. (Weil damals nachdenklich ins Gesicht hängende Pagenfrisuren beliebt waren, sah in manchen Oberschulen und Studentenclubs tatsächlich fast jede und jeder ein bisschen aus wie Antje Vollmer.) Wenn bei Demonstrationen im Westen P-Tücher getragen wurden, dann so nun auch im Osten. Es gab in Dresden, Leipzig oder Potsdam Kundgebungen, die an die Bilder von Wackers- wie Brokdorf, den Bonner Hofgarten und die Frankfurter Startbahn West denken ließen. Dabei ging es auch hier manchmal gegen Atomkraft, mitunter gegen Militärisches, oft um besetzte Häuser und sehr oft gegen den Rechtsextremismus. Nur um den Nahostkonflikt ging es eigentlich nie. Deshalb ließ sich das P-Tuch bei alldem überhaupt tragen.
Denn es gab zunächst auch ein paar gute Gründe, von dem Tuch die Finger zu lassen - gerade, wenn man aus dem Osten kam. Das hatte schon damit zu tun, dass sich die Optik so eng mit Erich Honecker verband. Das wiederum hatte damit zu tun, dass Jassir Arafat dermaßen häufig Bruderküsse mit dem Staatsratsvorsitzenden ausgetauscht hatte, dass irgendwann beide in den schwarzweiß gemusterten Stoff verwickelt schienen, den der Führer der „Palästinensischen Befreiungsorganisation“, PLO, auf dem Kopf trug. Arafat ist ab den Siebzigern dauernd in der DDR zu Gast gewesen, und zwar „dauernd“ im Sinn von: so oft, dass man den Eindruck hatte, er sei nie irgendwo anders. Ausweislich der Bilder schien es ihm hier ausgesprochen zu gefallen.
Das Jüdische Museum Berlin zeigt gerade eine Ausstellung über den Alltag von Juden in der DDR, und selbst dort lacht von zwei Fotos Arafat. Im Sommer 1974 steht er da, das P-Tuch um den Kopf drapiert, in der Pionierrepublik am Werbellinsee, einem Ferienlager für besonders verdiente Kinder, und lauscht der Ansprache, die ein Thälmannpionier vom Zettel abliest. Es handelt sich dabei um Marion Brasch, heute berühmt als Radiomoderator und Bestsellerautor. Auf dem zweiten Bild zieht er so begeistert mit beiden Händen das Gesicht der damals 13jährigen an sich heran, als wolle er ihr einen Kuss auf die Stirn drücken. „Aus heutiger Sicht wirkt die Szene grotesk, trotzdem gehören die Fotos zu meinen Lieblingskinderbildern“, wird Brasch zitiert.
Die heiteren Bilder von Arafat zwischen steif lächelnden DDR-Funktionären wirken schon angesichts der Datierung grotesk. Denn Anfang der Siebziger waren terroristische Anschläge und Flugzeugentführungen im Kampf palästinensischer Gruppen gegen Israel fest etabliert, und Arafats PLO beanspruchte, als Dachorganisation fast alle davon zu kontrollieren. 1971 war er zum ersten Mal nach Ost-Berlin gekommen, eingeladen von einem „Afro-Asiatischen Solidaritätskomitee“ und empfangen von Politbüromitglied Hermann Axen, immerhin einem Überlebenden des Holocaust. Nun widmet sich die Ausstellung zum jüdischen Leben in der DDR leider kaum der Staatsspitze, also auch nicht der Frage, was die von den Terroranschlägen auf israelische Zivilisten gehalten, vorab gewusst oder logistisch gar unterstützt haben mag.
Aber dafür liegt im Museumsshop das Buch des amerikanischen Historikers Jeffrey Herf über „Unerklärte Kriege gegen Israel“, das diese Beziehungen anhand von Stasi-Akten ausleuchtet. Untertitel: „Die DDR und die westdeutsche radikale Linke 1967-1989“. Auf dem Cover, natürlich, lachend Arafat, wie er Honecker herzlich an sich zieht. 1967, das Jahr des Sechstagekriegs, erscheint aber vor allem für die westdeutschen Linksaußen als Wendepunkt in der Einstellung zu Israel. Dessen Sieg gegen die Übermacht der Nachbarn hatte das kleine Land hier die Sympathie derer gekostet, die aus Prinzip zum Schwächeren halten, alttestamentlich gesprochen: nur so lange für David sein können, bis er tatsächlich gewinnt und für sie dann zum Goliath wird.
Die Kader der SED waren da erstens weniger sentimental, zweitens lange zuvor schon auf den Kurswechsel eingeschworen, den Stalin mit seinen „antikosmopolitischen Säuberungen“ eingeleitet hatte. Die kurze Unterstützung Israels durch das sowjetische Lager war Anfang der Fünfziger schon vorbei, Zionismus wurde im Osten zum Schmähwort in Nachbarschaft zum Imperialismus. Der Antizionismus, von dem es auch damals immer schon hieß, dass er mit Antisemitismus nichts zu tun habe, viel hingegen mit Antikolonialismus, war Teil des Antiimperialismus… In Worten, die generell meist auf -ismus endeten, wurde in der DDR praktisch von Anfang an schon gelehrt, was der Iran unter den Mullahs später auf die Formel „Israel = kleiner Satan, USA = großer Satan“ gebracht hat. Auch viele Denk- und Sprachfiguren, die jetzt wieder im Umlauf sind, finden sich schon unter Ulbricht und Honecker, nicht zuletzt das manichäische Lagerdenken zwischen einem Westen als bösem Camp des Kapitals und allem anderen, durch schieres Nicht-Westen-Sein automatisch angeblich Besseren.
Herf legt in seinem Buch nun dar, wie sehr die DDR dann den Nahostkonflikt für ihre Bemühungen um diplomatische Anerkennung nutzte. Die nach Adenauers Staatssekretär Hallstein benannte Doktrin, wonach sich Drittstaaten zwischen den beiden Deutschlands entscheiden müssten, erwies sich unter den Bedingungen der Lagerbildung als sportliche Herausforderung. Erst die Aufnahme in die Vereinten Nationen und dort dann sofort Unterstützung von Arafat, der ein paar Monate, nachdem er am Werbellinsee weilte, mit P-Tuch auf dem Kopf und Pistolenhalfter an der Hüfte gegen die Stimmen des Westens eine Resolution zur Verurteilung des Zionismus durchsetzte: eine Serie von Punktsiegen. Vor den Fernsehprogrammen der DDR floss das Engagement für die sogenannten antiimperialistischen Befreiungsbewegungen der Dritten Welt tatsächlich irgendwann mit den Medaillenspiegeln bei den Olympischen Spielen zusammen. Je spürbarer war, wie sehr es dabei der DDR um sich selbst ging, desto ferner rückten nicht nur der Sport, sondern auch der Nahe Osten. Am Ende schien selbst Arafats P-Tuch mehr mit Honeckers Drang nach Weltniveau zu tun zu haben als mit der PLO. Die Wahrheit war: Die Konzentration auf die deutschen Aspekte der Sache entlastete auch von der entsetzlichen Komplexität des Konflikts im Nahen Osten.
Bemerkenswert, dass es dem Tuch im Westen ähnlich erging. Wolfgang Kraushaar zufolge waren es die Abgesandten des Palästinakomitees des SDS, die es Ende der Sechziger mitbrachten. Oft ist beschrieben worden, wie da eine traditionelle Kopfbedeckung arabischer Männer, die vor allem auf dem Land vor Sonne, Wind und Sand schützen sollte, in der Bundesrepublik allmählich zum wärmenden Schal im Nieselregen bei den Protesten gegen Atommeiler und die Räumung besetzter Häuser wurde. Wie das P-Tuch also schleichend eingedeutscht wurde. Denn das Tuch war wirklich warm, und bei Bedarf konnte man sich damit vermummen. Das Vermummungsverbot, das Mitte der Achtziger erlassen worden war, umfasste auch das Mitführen von „Vermummungsutensilien“, Motorradmasken etwa, Hassmasken genannt, wie sie bei den frühen Autonomen beliebt waren. Gegen palästinensische Schals konnten deutsche Behörden schlecht vorgehen. Die damit zur Schau gestellte Solidarität mit der Sache der PLO wirkte dadurch aber nur noch taktischer, noch scheinbarer. Die Intifada-Ästhetik wurde für eher deutsche Zusammenhänge bemüht.
Auch wer sich 1989ff. Rechtsradikalen physisch entgegenstellte, tat das in kleineren Städten, wo sie die jugendkulturelle Hegemonie hatten, oft lieber vermummt. Die Baseballschlägerjahre, wie man sie heute nennt, waren grundsätzlich auch P-Tuch-Jahre, und mit Gaza hatte das „Pali“ hier exakt so viel zu tun wie der „Bäsie“ mit dem, wozu die New York Yankees ihn gebrauchten. Aber die Arbeitsschutzschuhe von Dr. Martens wurden auch eher von Gymnasiasten getragen. Leute gingen in Camouflage-Hosen aus dem Army-Store gegen den Irak-Krieg von Bush sr. demonstrieren, Trenchcoats standen schon lange nicht mehr für Erfahrung im Grabenkampf, und Bomberjacken trugen irgendwann fast alle, die noch nie in einem Bomber saßen. Es wurde ja fortwährend umkodiert, was die Leute anhatten. Mitte der Nullerjahre entsprechend großes Hallöchen in den Moderedaktionen, als das Label Lala Berlin plötzlich Kaschmir-Schals mit Palästinensertuchmuster anbot, für mehr als 300 Euro das Stück. Die Designerin Layla Piedayesh gab zu Protokoll, das Tuch sei „entpolitisiert“ und könne von nun an „als modisches Utensil weiterlaufen“.
Das sahen jedoch nicht alle so: Die Hamburger Neonazi-Größe Christian Worch trug jetzt auf einmal demonstrativ P-Tuch. Seine Gesinnungsfreunde taten es ihm nach. Jetzt sahen speziell Aufmärsche der „Autonomen Nationalisten“ aus wie früher die Demos gegen das Atommüllendlager bei Gorleben. Aber das hieß auch, dass alte Konnotationen wieder aktualisiert wurden: das P-Tuch nicht nur als Banner von Arabern, die gegen Besatzung protestieren - sondern auch solchen, die Israel von der Karte haben wollen… Wer diese eingewebte Drohung bis dahin nonchalant unter dem Rubrum „Radical Chic“ verbucht hatte, hatte spätestens jetzt Grund, sich zu fragen, was er wem gegenüber eigentlich zum Ausdruck bringen will, und das Tuch diskret in den persönlichen Altkleiderbeständen zu versenken.
Man verwendete dann auch auf Deutsch wieder streng den arabischen Name Kufiya dafür. Dem wurden manchmal Kufiyas mit Mustern aus Davidsternen, Hammer und Sichel oder auch Viagra-Pillen entgegengehalten. Die „Antideutschen“, eine ausdrücklich israelfreundliche Strömung bei den Linksradikalen, traten dem P-Tuch mit aufwendigen Awareness-Kampagnen entgegen: „Ist Dir kalt oder hast Du was gegen Juden?“ Antiimperialisten alten Schlags, kurz „Antiimps“, liefern sich mit den „AntiDs“ deswegen Auseinandersetzungen, die Ältere an die Kämpfe zwischen Trotzkisten und Maoisten in den 70ern erinnern. Im Mittelpunkt fast immer Nahost, symbolisiert durch das P-Tuch. Die Fronten sind verhärtet und verlaufend verwirrend. Ein aus Israel gebürtiger, jedoch anti-antideutscher Publizist lobte in der Zeitschrift „analyse und kritik“ (hervorgegangen aus dem „Arbeiterkampf“, der Zeitschrift des Kommunistischen Bundes), vor nicht allzu langer Zeit die „berühmte Flugzeugentführerin Leila Khaled, die die Kufiya zum Kopftuch umfunktionierte“ weil sie es so als „kämpferisches feministisches Zeichen“ popularisiert habe. Die antideutsche Warnung vor dem Symbolgehalt des Tuches als „Selbstmörderschal“ politisiere es erst wieder: „Sie rettet die Kufiya und ihre Bedeutung als Zeichen des Widerstands gegen Besatzung und Ausbeutung.“
Worauf man sich vielleicht einigen kann: Das eingedeutschte Tuch ist repatriiert und heimgekehrt in den Nahostkonflikt. Wer es sich hier einst umhing, weil es vage links und grün und ein bisschen in Mode war, kann froh sein, dass damals der Tatbestand der kulturellen Appropriation noch nicht so genannt und als verurteilungswürdig bewertet wurde. Man sieht es jetzt wieder um die Köpfe von Palästinensern, die ihre Sicht der Dinge kundgeben. Man sieht es um Greta Thunberg, die selbst wissen muss, was das zum Klima beiträgt. Nur wenn sich ausgerechnet Deutsche das Tuch heute um den Hals wickeln, um darin „From the River to the Sea“ oder „Free Palestine“ zu rufen, und zwar nicht etwa „from Hamas“, sondern „from German guilt“: Dann sollten die sich schon unter identitätspolitischen Gesichtspunkten vielleicht selbstkritisch fragen, ob es für sie nicht kulturell korrekter wäre, stattdessen ein braunes Hemd anzuziehen. Und falls sie das so dann auch wieder nicht gemeint haben wollen: Es gibt genug weniger Schwarzweißes, das man in dieser Lage sowohl tragen als auch sagen könnte.