Generäle an die Macht

Von Issio Ehrich

Der westafrikanische Niger galt als verlässlicher Partner des Westens. Jetzt feiern die Menschen dort das Ende der Demokratie. Unterwegs in einem von der Volksherrschaft enttäuschten Land.

Putsch in Niger
Die Zeit

Auf der Stirn der Frau treten Schweißperlen hervor. Sie rinnen über das kleine Tattoo zwischen ihren Augenbrauen, ein A mit einem Punkt darunter, fließen weiter über ihr Gesicht, tropfen auf die staubige Straße.

»Raus mit den Franzosen!«, schreit die Frau. »Diese Verbrecher, diese Heuchler!« Ihre Stimme: ein Krächzen, sie hat sich heiser gebrüllt.

Die Frau, sie heißt Amina Abdoulwahid, steht ein paar Meter vor einer schulterhohen Mauer, hinter der riesige Sandsäcke und Stacheldraht zu sehen sind. Es ist der Schutzwall der französischen Militärbasis in Niamey, der Hauptstadt des Niger, Westafrika. Neben Abdoulwahid schreien etwa hundert weitere Frauen, sie haben Kochtöpfe mitgebracht und eiserne Kellen, mit denen sie auf die Topfböden schlagen. Metall knallt auf Metall, immer wieder.

»Wir waren nie unabhängig«, ruft Amina Abdoulwahid. »Unser Präsident ist ein Verräter!«

Es ist der 30. August, etwas mehr als ein Monat ist vergangen, seit Soldaten des Niger ihren eigenen Staatschef festsetzten. Mohamed Bazoum, der vom Volk gewählte Präsident, so wird es berichtet, saß am 26. Juli noch beim Frühstück, da hatten Angehörige seiner eigenen Garde bereits seine Residenz umstellt. Bazoum ist jetzt ein Gefangener des Militärs, und die Generäle sind die neuen Machthaber im Land.

Seit diesem Tag geschehen im Niger Dinge, die nicht leicht zu verstehen sind.

Bazoum, zwei Jahre im Amt, galt in Europa und den USA als Hoffnungsträger der Demokratie. Als verlässlicher Partner in einer Region, die von großer Bedeutung ist für die Energieversorgung Europas, für die Kontrolle der Migration und den Kampf gegen den islamistischen Terrorismus. Sogar als Feminist wurde Bazoum im Westen gepriesen.

Und jetzt? Jetzt schreit Amina Abdoulwahid: »Die einzige Frau, um die sich Bazoum je gekümmert hat, ist seine Ehefrau! Nieder mit Bazoum! Nieder mit Frankreich!«

Seit dem Putsch der Generäle gehen in Niamey die Menschen auf die Straße. Es sind Hunderte, Tausende, Zehntausende, die sich jeden Tag zusammenfinden. Doch sie protestieren nicht gegen den Tod der Demokratie. Sie bejubeln ihn. Sie feiern die Putschisten. Sie fordern, dass die Militärs nach dem Sturz des Präsidenten nun die Franzosen aus dem Land jagen. Die Angehörigen der Grande Nation, des Landes, das die Demokratie in Europa begründet hat.

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, die Herrschaft des Volkes – zählt all das im Niger nichts mehr? Zählt all das in Westafrika nichts mehr? Im Jahr 2020 haben bereits im benachbarten Mali die Militärs geputscht, 2021 in Guinea, 2022 in Burkina Faso. Eine Kettenreaktion scheint im Gange zu sein, deren Ende noch nicht abzusehen ist. Was geht da vor?

Niamey

Vom Kochtopf, den Amina Abdoulwahid in ein Objekt des politischen Protests verwandelt hat, ist wenig geblieben. Der Boden: ausgeschlagen. Der Rand: von Rissen durchzogen. »Es war wie eine Befreiung«, sagt sie über das Schreien und das Trommeln vor der französischen Militärbasis.

Amina Abdoulwahid sitzt im Schatten eines Baumes nicht weit von ihrem Haus, einem flachen Lehmbau in den Ausläufern der Millionenstadt Niamey. Eine Piste aus rotbraunem Sand führt hierher, am Straßenrand immer wieder Jungen, vielleicht 12 oder 13 Jahre alt. Sie tragen fleckige Kleider und verkaufen Benzin, das sie in alte Saftkanister gefüllt haben.

Der Niger ist eines der ärmsten Länder der Welt. Amina Abdoulwahid aber hatte das Glück, vor 40 Jahren in eine vergleichsweise wohlhabende Familie hineingeboren zu werden. Ihr Vater war Buchhalter, ihre Mutter Sekretärin bei der Nationalbank. Amina Abdoulwahid ging zur Schule, studierte Biologie, wurde die zweite Frau eines Offiziers der Nationalgarde, mit dem sie drei Kinder bekam. Heute arbeitet sie als Laborantin in einem der Krankenhäuser der Hauptstadt. Sie führt, für nigrische Verhältnisse, ein gutes Leben. Dennoch spricht sie, wie viele gebildete Menschen im Land, mit Wut und Enttäuschung von der nun gestürzten Regierung.

Die Demokratie im Niger ist jung. Das Land erlangte 1960 die Unabhängigkeit, aber jahrzehntelang galt ein Einparteiensystem, das die Kolonialmacht Frankreich installiert hatte. Paris förderte und unterstützte einzelne Politiker und stellte dadurch sicher, dass auch der eigenständige Niger stets von einem Freund Frankreichs regiert wurde. Erst seit Anfang der Neunzigerjahre gibt es eine echte Opposition und demokratischen Wettstreit. Die Präsidenten wechselten, die Regierungsparteien auch, dennoch schafften es die Franzosen, weiterhin gute Beziehungen zum jeweiligen Amtsinhaber zu pflegen.

Klientelismus und Korruption prägten die Politik im Niger. Und vielleicht ist das der Grund, warum da in der Hauptstadt diese riesigen Gebäude am Ufer des Niger-Flusses stehen. Es sind drei Villen, von dicken Mauern nur teilweise verdeckt. Ausladende Terrassen, verzierte Säulen, weiße Kuppeln, die in der Sonne glänzen. Ein weiteres Anwesen ist noch im Entstehen, allein der Innenhof ist so groß wie mehrere Fußballfelder. Das Haupthaus hat zwei Flügel, der linke ist für die erste Ehefrau des Eigentümers gedacht, der rechte für die zweite. Das zumindest erzählen Arbeiter, die Ziegelsteine auf das Gelände geschleppt haben. Sie sagen auch, dass es in dem unfertigen Palast bereits so viele Zimmer gebe, dass sie es nicht geschafft hätten, sie zu zählen.

Der Mann, dem all das gehören soll, heißt Mahamadou Issoufou, Präsident des Niger von 2011 bis 2021. Ein Mann, der vor seinem Amtsantritt in Frankreich studiert und später im Niger ein vom französischen Staat kontrolliertes Bergbauunternehmen geleitet hat. Als Präsident zeigte er sich oft mit seinem französischen Amtskollegen, erst mit François Hollande, später mit dessen Nachfolger Emmanuel Macron. Es gibt Fotos, auf denen sich die First Ladys Lalla Malika Issoufou und Brigitte Macron in den Armen halten. Auf denen sie in Paris Hand in Hand eine Treppe im Élysée-Palast hinunterschreiten.

Vor zwei Jahren stellte sich Issoufou nach zwei Amtszeiten gemäß der Verfassung nicht erneut zur Wahl. Neuer Präsident wurde der nun gestürzte Mohamed Bazoum, der erst Außen-, dann Innenminister gewesen war. Allerdings wurden mehrere Oppositionspolitiker nicht zur Wahl zugelassen, unter ihnen der wichtigste Gegenkandidat, der wegen Kinderhandels zu einem Jahr Haft verurteilt worden war und nicht antreten durfte. Er bezeichnete das Urteil als politisch motiviert und verließ das Land. Nach Bazoums Sieg kam es zu Protesten mit zwei Toten und Verletzten.

Im vergangenen Jahr hielt Bazoum als neuer Staatschef eine Rede vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen in New York, in der er davon sprach, wie wichtig Rechtsstaatlichkeit und Demokratie seien. Doch als der Anführer eines nigrischen Protestbündnisses das Ende der engen Zusammenarbeit Bazoums mit der französischen Regierung forderte und zudem noch von Menschenrechtsverletzungen in seinem Land sprach, landete er im Gefängnis.

Am Rand von Niamey sagt Amina Abdoulwahid nun Sätze, die man in der Hauptstadt in diesen Tagen häufig hört: Demokratie sei etwas Großartiges. »Aber das, was wir hatten, war keine Demokratie.« Die Regierungen im Niger wechselten, aber die eigentlichen Machthaber seien doch stets dieselben geblieben: die Franzosen.

Den Hass auf die ehemalige Kolonialmacht machen sich nun, nach dem Staatsstreich, die Militärs zunutze. Der Putschführer gilt eigentlich als Vertrauter von Ex-Präsident Issoufou. Gerüchten zufolge wollte er mit der Machtübernahme lediglich seiner geplanten Absetzung zuvorkommen. Doch als sich auf den Straßen die antifranzösischen Ressentiments entluden, stimmten die Generäle in die Schmähtiraden ein – und brachten damit das Land auf ihre Seite.

Ein Land mit rund 25 Millionen Einwohnern, im Norden von der Sahara, im Süden von Savannen durchzogen. Ein Land, in dem sich auch nach mehr als sechs Jahrzehnten der politischen Unabhängigkeit an vielen Orten Belege dafür finden lassen, dass die Kolonialzeit nie wirklich überwunden wurde.

Arlit

Die Stadt liegt in der Ebene. Eigentlich. Nur hier und dort ein paar dornige Büsche und Bäume. Doch in den vergangenen Jahrzehnten ist am Rand von Arlit mit seinen 100.000 Einwohnern eine Hügelkette gewachsen, die sich schon von Weitem am Himmel abzeichnet. Entstanden ist sie aus dem radioaktiven Auswurf zweier Uranminen, die französische Konzerne am Rande der Stadt errichtet haben. »Ich wünschte, das Uran wäre niemals gefunden worden«, sagt Amoumoune Allassane, während er auf der Rückbank eines Geländewagens auf das künstliche Gebirge zurollt.

Allassane hat die Geschichte des nigrischen Urans am eigenen Leib erfahren. Er ist ein alter Mann mit gekrümmtem Rücken, um dessen Pupillen ein grauer Schleier liegt. Ein Sohn von Nomaden, die mit ihren Kamelen und Ziegen durch karge Landstriche zogen. Schon als Kind, erzählt er, habe er gelernt, sich in der Wüste zu orientieren, ohne Karte, nur mithilfe der Sterne und der spärlichen Vegetation. Der junge Allassane konnte laufen, stundenlang, ohne Pause und unter sengender Sonne. Eine Fähigkeit, die für die Franzosen wertvoll war, als ihre Geologen Ende der Fünfzigerjahre im Niger erste Uranvorkommen entdeckten. Brennstoff für die Atomkraftwerke, die Frankreich damals gerade zu bauen begann.

»Als die Weißen kamen, baten sie den Sultan, ihnen junge Männer zu geben«, sagt Amoumoune Allassane. Männer wie ihn. Die Franzosen, erzählt er, schnallten ihm einen Apparat auf den Rücken und sagten ihm, er solle damit durch die Wüste laufen.

Allassane wusste nicht, dass es sich um einen Geigerzähler handelte, der radioaktive Strahlung erfasste. Jeden Morgen brach er auf und war den halben Tag lang unterwegs. Manchmal fing der Apparat an zu knacken und zu knarzen. Wenn die Geräusche besonders stark waren, malte er mit Farbe ein großes X auf einen der Steine am Boden. So hatten es ihm die Geologen aufgetragen.

Fast vier Jahre lang suchte Amoumoune Allassane nach Uran, ohne wirklich zu wissen, was Uran ist. Dann hatten die Franzosen genug gefunden. Allassane fing an, in einer der in Arlit neu eröffneten Minen zu arbeiten. Er, der das Leben unter freiem Himmel gewohnt war, fuhr jeden Tag in die Erde hinab, in ein kilometerlanges Geflecht aus Tunneln. Bei einem Unfall verletzte er sich am Bein, seitdem hinkt er.

Bis heute wurde Uran im Wert von mehreren Milliarden Euro aus dem Boden des Niger gewonnen. Uran, das Atomkraftwerke in der ganzen Welt speist, vor allem aber in Frankreich. Die heutigen Eigentümer der beiden Minen, die beiden Unternehmen Somaïr und Cominak, sind nigrische Unternehmen. Allerdings hält der französische Staatskonzern Orano, früher Areva, rund zwei Drittel der Anteile und kann somit alle wichtigen Entscheidungen treffen.

Auf Anfrage der ZEIT gibt Orano an, viel Geld in die Entwicklung und Infrastruktur der Stadt Arlit investiert zu haben, allein 60 Millionen Euro in den Ausbau der Straße nach Niamey. Nur ist davon wenig zu sehen. In Arlit gibt es vielerorts keinen Strom, oft nicht einmal fließend Wasser. Und die mehr als 1000 Kilometer lange Straße nach Niamey ist nur zu einem kleinen Teil asphaltiert, danach geht sie wieder in eine Staubpiste über, durchsetzt von Schlaglöchern und tiefen Kratern, weshalb viele Fahrer es vorziehen, durch den losen Sand neben der Straße zu fahren.

Der Niger ist reich an Uran, aber reich geworden ist er damit nicht.

Von den beiden Uranminen in Arlit ist eine noch in Betrieb, die andere inzwischen zur Gänze ausgebeutet, dort sind die Arbeiter jetzt damit beschäftigt, den radioaktiven Schutt zu versiegeln, damit keine Strahlung mehr entweichen kann.

»Die werden uns nicht reinlassen«, sagt Amoumoune Allassane, der alte Mann, als er vor dem Eingang zu der geschlossenen Mine aus dem Wagen steigt. Hier hat er früher gearbeitet. Das Gelände ist abgeriegelt wie ein Hochsicherheitstrakt. Stacheldraht, Metallschleusen, Schranken.

Ein Sprecher des französischen Staatskonzerns Orano hatte der ZEIT bereits eine Woche zuvor mitgeteilt: »Ich befürchte, wir werden Sie aus Sicherheitsgründen auf unseren Anlagen nicht empfangen können.«

Doch die Zeiten, in denen in Frankreich entschieden wurde, wer sich die Uranförderung im Niger näher ansehen darf, sind offenbar vorbei. Die Putschisten in Niamey haben einen neuen Minister für das Minenwesen ernannt. Einige Stunden nach Ankunft vor der Mine ordnet er an, den Journalisten aus Deutschland auf das Gelände zu lassen.

Allassane humpelt mit seinem Gehstock durch die Schleusen. Auf dem Werksgelände angekommen, sagt er: »Hier sieht noch alles aus wie früher.« Nur dass der Zugang zur Mine inzwischen verschlossen ist. Gleich dahinter erheben sich die Schuttberge aus radioaktivem Geröll.

Inzwischen ist auch der Direktor der Mine aufgetaucht, ein grimmig dreinblickender Nigrer im Blaumann. Als es darum geht, auf einen der Hügel zu fahren, mustert er Allassane skeptisch. »Der kann nicht mitkommen«, sagt er. »Alle unsere früheren Mitarbeiter sind heute unsere Feinde.«

Wenig später wühlt sich der Geländewagen durch das Geröll den Hang hinauf. Ein Geigerzähler lärmt. Die Anzeige steigt auf 2 Mikrosievert pro Stunde, dann auf 4, am Ende sind es mehr als 7. Normal sind in etwa 0,2 Mikrosievert pro Stunde. Die Arbeiter der Mine dürfen sich hier immer nur kurze Zeit aufhalten, dann müssen sie wieder nach unten. Auf dem Grat des Schuttbergs haben sie an einigen Stellen bereits eine dicke Tonschicht über den radioaktiven Müll gezogen. Bagger stehen bereit, um Sandsteinbrocken darüberzuschieben und so die Schutzschicht vor der Witterung zu schützen.

Bis zum Jahr 2030 soll die komplette Anlage versiegelt sein. In der anderen, noch aktiven Mine aber wird der Müllberg weiter wachsen. Orano besitzt Schürfrechte bis 2040.

Amoumoune Allassane lebt in Arlit in einem dunklen Raum eines Lehmbaus. Für einen richtigen Fußboden hat er trotz Jahrzehnten im Bergbau nicht genug Geld. Der Kühlschrank, der Stuhl, die Pritsche stehen auf Sand. Er sagt, das Uran hätte dem Niger viel Wohlstand bringen können. Er stehe auf der Seite der Putschisten. »Das sind die Ersten, die sagen: Genug ist genug.«

Niamey

Am Nachmittag des 2. September stehen wieder Demonstranten vor der französischen Militärbasis, aber jetzt sind es nicht ein paar Hundert mit Kellen und Kochtöpfen. Jetzt sind es viele Tausend. Sie schlachten Emmanuel Macron und seine Frau Brigitte.

Emmanuel ist eine Ziege. Die Demonstranten haben ihr den Namen des französischen Präsidenten gegeben und das Tier mit den Farben der Trikolore getüncht. Brigitte ist ein Huhn, auch sie ist blau-weiß-rot bemalt. Und als wäre diese Symbolik nicht plakativ genug, haben die Menschen noch einen Sarg mitgebracht, gehüllt in eine Frankreich-Flagge. Es dauert nicht lange, dann fließt das Blut der beiden Tiere über die Straße.

Kurz nach dem Staatsstreich hatten die Generäle die Militärkooperation mit Frankreich aufgekündigt. Sie gaben Paris 30 Tage Zeit, seine 1500 Soldaten aus Niamey abzuziehen. Heute, an diesem 2. September, endet das Ultimatum. Die Soldaten aber sind immer noch da. Auch der französische Botschafter verschanzt sich weiter in seinem Amtssitz ein paar Kilometer entfernt.

Schon am Morgen haben Demonstranten versucht, die Militärbasis zu stürmen. Jetzt, Stunden später, stehen nigrische Polizisten mit Schlagstöcken und Sturmgewehren zwischen den Massen und dem Stützpunkt der Franzosen. Zwar schüren die Putschisten die Wut auf die ehemalige Kolonialmacht. Gleichzeitig aber müssen sie eine blutige Eskalation verhindern. Ein Kampf um die Militärbasis hätte unkalkulierbare Folgen.

Der französische Präsident Emmanuel Macron weigert sich weiterhin, das Militär als legitimen Machthaber im Niger anzuerkennen. Er fordert die Freilassung des Präsidenten Mohamed Bazoum und die Rückkehr zur verfassungsgemäßen Ordnung. Für die wütenden Massen vor der Militärbasis klingt das so, als solle alles wieder so werden, wie es früher war, vor dem Putsch.

Irgendwo unter den Demonstranten steht auch Amina Abdoulwahid. Unmöglich, in dem Gewühl an sie heranzukommen. Ein Anruf auf dem Handy, sie geht ran, plötzlich ist das Schreien der Masse doppelt zu hören. »Hier sind noch viel mehr Menschen, als ich erwartet habe!«, ruft sie.

Abdoulwahid ist heute gemeinsam mit ihrem ältesten Sohn gekommen. Vor zwei Jahren hat er sein Studium abgeschlossen. Er hat einen Bachelor in Unternehmenskommunikation. Aber er findet keine Stelle.

Nach offiziellen Angaben liegt die Arbeitslosenquote im Niger bei 0,5 Prozent. Vollbeschäftigung. Die Realität sieht anders aus. Dem Land fehlen Unternehmen, fehlt Industrie. In den Dörfern leben die Menschen von der Viehzucht und dem, was die Äcker hergeben. In den Städten schlagen sich auch Universitätsabsolventen mit Gelegenheitsjobs durch. Es ist kein Zufall, dass die meisten Demonstranten, die nun vor der französischen Militärbasis stehen und schreien, junge Erwachsene sind.

Agadez

Ahmed Mohammed wirft einen hastigen Blick auf das Haus, das einmal ihm gehörte. Die Eingangspforte, türkisblau und mit Schnörkeln verziert. Die große Satellitenschüssel auf dem Dach, auch sie ist türkisblau. Mohammed traut sich kaum, mit dem Finger auf das zehn Meter entfernte Gebäude zu zeigen. Bloß nicht näher kommen. Anklopfen? Auf keinen Fall. »Ich will keine Probleme mit den neuen Besitzern.«

Der 56-jährige Ahmed Mohammed, der eigentlich anders heißt, musste sein Haus verkaufen, um an Geld zu kommen. Denn Europa, so sieht er es, hat sein Geschäft kaputt gemacht. Das einzige wirklich lukrative Geschäft, das es gibt, hier in der Stadt Agadez, die auch »Tor zur Wüste« genannt wird: den Transport von Menschen.

In der Mitte des vergangenen Jahrzehnts erlebte Europa die größte Migrationsbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg. Kriegsflüchtlinge aus Syrien und Afghanistan drängten über die Türkei und die Ägäis auf den Kontinent, Menschen aus den Ländern südlich der Sahara kamen über Libyen und das zentrale Mittelmeer. Während die Bundesrepublik noch Debatten über die deutsche Willkommenskultur und Angela Merkels Satz »Wir schaffen das!« führte, setzten andere europäische Staaten frühzeitig auf Abschottung. Auch Frankreich. Das Land steckte in einer Wirtschaftskrise, die Terroranschläge von Paris und Nizza wirkten nach, der rechtsextreme Front National – der heute Rassemblement National heißt – machte Stimmung gegen Flüchtlinge.

Von 2015 an praktizierte die EU etwas, das Experten heute als »Externalisierung der Außengrenzen« bezeichnen. Eine Methode, die Frankreich zuvor schon mit afrikanischen Staaten erprobt hatte. Künftig sollten Länder wie der Niger die Menschen davon abhalten, das Mittelmeer überhaupt zu erreichen. Damals zogen jedes Jahr Hunderttausende nach Agadez und weiter nach Norden.

Der damalige Präsident Mahamadou Issoufou stimmte zu.

Noch im selben Jahr führte seine Regierung ein Gesetz mit der Kennzahl 2015-036 ein. Der damalige Innenminister, der nun entmachtete Präsident Mohamed Bazoum, setzte es um. Gegen den Widerstand der eigenen Bevölkerung. Denn das Gesetz stellte unter Strafe, was über Jahrhunderte im Sahel alltäglich war: Menschen durch die Wüste zu führen. Es stellte unter Strafe, was für Tausende Nigrer der einzige Ausweg aus der Armut war. Auch für Ahmed Mohammed.

Als er jung war, erzählt Mohammed, wollte er Lehrer werden. Doch er schaffte die Prüfungen nicht. Also nahm er Gelegenheitsjobs an, er arbeitete als Koch, heuerte als Tagelöhner in Libyen und Algerien an, verdiente aber nie genug, um seine Familie anständig versorgen zu können. Dann, im Jahr 2010, beschloss er, sein Glück in einem anderen Bereich zu suchen, der Migration.

Vor der Kolonisierung Afrikas gab es auf dem Kontinent keine Grenzen. Die Menschen passten ihr Leben an Regen- und Trockenphasen an, zogen weiter, wenn es für ihre Tiere nichts mehr zu fressen gab, blieben, wenn es Zeit für die Ernte war. Handelsrouten durchzogen Wüsten und Savannen. Ohne diese Freizügigkeit war ein Leben in vielen Teilen der Sahelzone nicht denkbar.

Als Ahmed Mohammed in das Transportwesen einstieg, machten sich von Agadez aus jeden Tag lange Auto-Karawanen mit Migrantinnen und Migranten auf den Weg in die Wüste. Oft seien es mehr als 100 Pick-ups gewesen, die da hintereinander losrollten, jeder mit bis zu 25 Menschen beladen, erinnert sich Mohammed. »Die Karawanen wurden von der nigrischen Armee eskortiert«, sagt er. Ein Schutz vor Räuberbanden. Jeder Passagier zahlte 150.000 Franc für die Fahrt nach Libyen, ungefähr 230 Euro.

Erst vermittelte Mohammed nur Passagiere an Transportunternehmer mit Autos. Doch bald konnte er sich einen Wagen anschaffen. Dann einen zweiten. Er konnte Fahrer engagieren und musste sich nicht mehr selbst ans Steuer setzen. Er konnte das Haus mit der türkisblauen Pforte kaufen.

»Ich habe Tausende Menschen transportiert«, sagt er. »Ich bin ein reicher Mann geworden.«

Dann kam das Gesetz 2015-036.

»Die Sicherheitskräfte haben uns regelrecht gejagt«, sagt Ahmed Mohammed. Nach zwei Jahren erwischten sie ihn. »Sie haben meine Autos konfisziert und mich eingesperrt«, sagt er. »Ich musste mir die Zelle mit 300 anderen Insassen teilen.« Für sie alle habe es nur eine einzige Toilette gegeben. Sechs Monate verbrachte er im Gefängnis. Dann wurde er freigelassen. Und stand vor dem Nichts. Als ihm die Ersparnisse ausgingen, fing er an, sein Hab und Gut loszuschlagen, auch das geliebte Haus. Wovon er leben soll, wenn das Geld aufgebraucht ist, weiß er nicht.

Den europäischen Regierungen war bewusst, dass die Menschen im Niger für das Migrationsabkommen einen hohen Preis bezahlten. Brüssel sicherte Ausgleichszahlungen in Millionenhöhe zu, man sprach von einer Partnerschaft. Die Transportunternehmer, die plötzlich Schlepper genannt wurden, sollten entschädigt werden, von Job-Alternativen war die Rede.

Jetzt, Jahre später, sitzt der Bürgermeister von Agadez im Halbdunkel vor seinem Büro. Der Strom ist ausgefallen, wie so oft in Agadez. Er sagt: »Unsere Partner haben nicht genug getan.« Ja, es sei Geld aus Europa in den Niger geflossen. Bei den Menschen, die es wirklich brauchen, sei es aber nicht angekommen. In der Stadt erzählen die Leute, auf den Empfängerlisten seien Brüder und Cousins von Beamten gelandet. Männer wie Ahmed Mohammed, für die die Unterstützung gedacht war, bekamen nichts.

Niamey

Der Putsch hat im Niger inzwischen einen eigenen Soundtrack. Seit Wochen sind im Staatsfernsehen und im Radio neue und alte Hymnen zu hören. Lobgesänge auf die »Stärke, Weisheit und Intelligenz« der nigrischen Armee. Hip-Hop. Afrobeat. Die Popkultur hilft dabei, das Volk hinter den Generälen zu vereinen. Jetzt, am 10. September, treten die populärsten Musiker des Landes auf. Nicht irgendwo, sondern auf dem Platz vor der französischen Militärbasis. Die Franzosen sollen hören, wie die Menschen in Niamey ihre neue Stärke feiern. Das Motto: »Konzert des Widerstands, der Würde und des Sieges des Volkes«.

Als das Konzert längst vorbei ist, verharren Hunderte vor der Militärbasis. Die 1500 französischen Soldaten sind noch immer im Land. Die Putschisten haben eine Erklärung veröffentlicht, in der sie behaupten, Paris verlege heimlich militärisches Gerät an die Elfenbeinküste, in den Senegal und nach Benin. Womöglich, um einen Einmarsch vorzubereiten. Womöglich, um die Befreiung des inhaftierten Präsidenten mit Gewalt zu erzwingen. So zumindest die Behauptung.

Die französische Regierung äußert sich dazu nicht. Die Wirtschaftsgemeinschaft Ecowas aber, der 15 westafrikanische Staaten angehören, droht schon seit Wochen offen damit, den Niger anzugreifen. Die Ecowas versteht sich als Ordnungsmacht in der Region und will verhindern, dass in weiteren Ländern die Armee die Macht übernimmt.

Jede Nacht versammeln sich deshalb nun Tausende Freiwillige an den Kreuzungen rund um den Präsidentenpalast, wo die Putschisten Mohamed Bazoum gefangen halten. Sollten tatsächlich ausländische Truppen in den Niger einmarschieren, wollen sie sich den Angreifern unbewaffnet entgegenstellen. Wer den verhassten Präsidenten befreien will, so die Botschaft, muss bereit sein, Zivilisten zu töten.

Amina Abdoulwahid ist diesmal nicht auf der Straße. Sie muss an diesem Wochenende arbeiten. Im Labor des Krankenhauses wertet sie Blut- und Urinproben aus. Am Tag nach dem Konzert steht sie während einer kurzen Pause im weißen Kittel auf dem Klinikflur. »Ich fürchte, der Krieg ist unausweichlich«, sagt sie. »Aber wir werden hier Tag und Nacht die Verwundeten versorgen.«

Tillabéri

Das Funkgerät knarzt und rauscht. Mouhamadou Ibrahim tippt eine sechsstellige Zahl ein. »Eine Frequenz von Nusrat«, sagt er. Hinter dem Kürzel verbirgt sich ein der islamistischen Terrororganisation Al-Kaida nahestehendes Bündnis, das in der Sahelzone operiert. Wieder Knarzen, wieder Rauschen. Dann Stille.

»Wenn sie jetzt funken würden, könnten wir sie hören«, sagt Ibrahim. Natürlich würden sie in Codes sprechen. Würden zum Beispiel sagen, man treffe sich an der Impfstation. »Damit meinen sie einen Platz mit Bäumen, der viel Schatten spendet.« Er habe schon mitgehört, wie die Terroristen Morde und Hinrichtungen geplant hätten.

Mouhamadou Ibrahim steht auf dem Balkon eines Gebäudes in Niamey und versucht, dem Reporter aus Deutschland Zugang zu einer Gegend zu verschaffen, in der er lange Zeit zu Hause war. Die er jetzt aber nicht mehr bereisen kann, ohne sein Leben zu riskieren. Es ist die Provinz Tillabéri, in deren nordwestlichem Winkel, im Dreiländereck von Niger, Burkina Faso und Mali, haben die islamistischen Terroristen im Sahel ihr Machtzentrum. Bis vor wenigen Monaten war Mouhamadou Ibrahim einer von ihnen.

In seiner ersten Fernsehansprache nach der Entmachtung von Präsident Bazoum nannte der Anführer der Putschisten die prekäre Sicherheitslage im Land als Grund für den Staatsstreich. Er erklärte die Politik der Regierung für gescheitert und mithin auch den Kampf gegen den Terror, den Frankreich seit Jahren in der Region führt.

Die Beschreibung dieses Kampfes beginnt oft im Jahr 2012. Damals forderten die Tuareg im Norden Malis Unabhängigkeit für ihr Volk. Ihre Kämpfer griffen Stellungen der malischen Armee an. Doch bald erstarkten die Dschihadisten in ihren Reihen. Sie übernahmen die Kontrolle und trugen die Kämpfe von Mali aus in die Nachbarländer Burkina Faso und Niger.

Paris kam den dortigen Regierungen zu Hilfe und entsandte 5000 Soldaten für eine Anti-Terror-Offensive, die bis heute anhält. Und die es bis heute nicht geschafft hat, den Terror zu beenden. Präsident Emmanuel Macron jedoch sagt regelmäßig, ohne die Intervention würde es die westafrikanischen Staaten gar nicht mehr geben.

Diese Darstellung lässt ein wichtiges Ereignis aus. In Wahrheit beginnt die Geschichte des Terrorismus im Sahel schon ein Jahr früher, 2011, und nicht in Mali, sondern in Libyen. Der dortige Machthaber Muammar al-Gaddafi sah sich einem Aufstand gegenüber und suchte nach Söldnern, um ihn niederzuschlagen. Er warb vor allem Tuareg an. Junge Männer wie Mouhamadou Ibrahim.

Der heute 43-Jährige war im Niger an der Grenze zu Mali und Burkina Faso aufgewachsen. Seine Eltern, erzählt er, seien Bauern und Viehhirten gewesen. Dürren suchten die Region heim, die Ernten wurden von Jahr zu Jahr karger, der junge Mouhamadou träumte davon, Soldat statt Bauer zu werden. Die Geschichten von ruhmreichen Tuareg-Kämpfern, die für ein besseres Leben ihres Volkes in die Schlacht zogen, imponierten ihm. Schon mit 14, sagt er, habe er sich einer Rebellengruppe angeschlossen. Zunächst habe er nur Tiere geschlachtet und Essen gekocht. Bis man ihm irgendwann zeigte, wie man ein Gewehr bedient. »Ich bin nie zur Schule gegangen«, sagt Mouhamadou Ibrahim und fügt hinzu: »Aber ich kann mit verbundenen Augen jede Waffe und jedes Satellitentelefon zusammensetzen.« Er war der richtige Mann für Muammar al-Gaddafi.

Einer von dessen Unterhändlern habe ihm damals drei Millionen Franc in die Hand gedrückt, sagt Ibrahim. Für die Familie, die er zurücklassen würde, wenn er für Gaddafi in den Kampf zog. Umgerechnet rund 4500 Euro, ein Vermögen. Gaddafi habe auch Flugzeuge nach Niamey geschickt, die Hunderte von Männern nach Libyen brachten.

Monatelang kämpfte Ibrahim gegen die Aufständischen. Doch die Nato schlug sich auf deren Seite. Französische Kampfflugzeuge warfen die ersten Bomben auf Gaddafis Stellungen. Die Aufständischen rückten vor, Gaddafi wurde ermordet, sein Söldnerheer löste sich auf. Kampfgestählte Männer mit schweren Waffen kehrten in ihre Heimatländer im Sahel zurück und setzten sich an die Spitze des Tuareg-Aufstandes. In ihren Reihen gab es nicht nur Männer, die sich nach Unabhängigkeit für ihr Volk sehnten, sondern auch solche, die sich die Scharia herbeiwünschten, das islamische Recht, einen Gottesstaat. Sie, die Dschihadisten, entfachten das Chaos, das sich von Mali aus in der ganzen Region verbreitete.

Ibrahim sagt, er habe erst versucht, sich herauszuhalten. Er sei in sein altes Dorf in Tillabéri zurückgekehrt. Doch es dauerte nicht lange, bis die Dschihadisten auch seine Heimat erreichten. Er schloss sich einer der bewaffneten Gruppen an. Das sei, sagt er, die einzige Möglichkeit gewesen, seine Familie vor der Gewalt zu schützen. Er war jetzt wieder ein Soldat, schoss mit Maschinengewehren, die Patronenbänder hatte er um den Körper gelegt. »Ich weiß nicht mehr, wie viele Menschen ich getötet habe«, sagt er. »Wenn ich Allahu Akbar geschrien habe, war mein Kopf völlig leer.«

Ibrahim stieg zum Kommandeur auf. Er, der Hirtensohn, verfügte jetzt über Status, Geld und Macht. Bald befehligte er hundert Männer auf Motorrädern. Er war es, der entschied, wer überlebte und wer sterben musste. Er sah, wie Frankreichs Kampf gegen den Terror immer wieder neue Terroristen hervorbrachte. Männer, die sich seiner Gruppe anschlossen, weil Bauern wegen der Kämpfe nicht mehr auf die Felder konnten oder weil Bomben auch Zivilisten getötet hatten. Die ehemalige Kolonialmacht, die sich in Afrika einmischt, war das perfekte Feindbild, um neue Kämpfer zu rekrutieren.

»Man kann den Terror nicht mit Waffen besiegen«, sagt Ibrahim jetzt, in Niamey. Man könne ihn nur eindämmen, indem man den Menschen eine Zukunft gebe.

Am Ende entschied sich Ibrahim auszusteigen. »Was ist all das Geld wert, wenn ich es nicht genießen kann«, sagt er. Als Terrorist sei man permanent auf der Hut, müsse sich immer verstecken.

Ende Januar dieses Jahres schickte Ibrahim seine Männer auf Patrouille. Als sie weg waren, griff er sich sein Gewehr, seine Pistole, seine beiden Funkgeräte und eine Wasserflasche. Er floh. Ibrahim lieferte sich selbst den nigrischen Sicherheitskräften aus, er gab seine Waffen ab und erhielt als Gegenleistung Straffreiheit, ein offizielles Schreiben, das er bei sich trägt, belegt dies. Die Regierung hatte spezielle Programme aufgelegt, um die Reintegration ehemaliger Terroristen in die Gesellschaft zu fördern, ihnen Arbeit zu geben, eine Alternative zum Kampf. Nun hofft er darauf, dass die Putschisten diese Programme fortführen.

Niamey

Ein Morgen im September nach einer langen Schicht im Krankenhaus. Amina Abdoulwahid hat keine Sekunde Schlaf bekommen. Jetzt sitzt sie, wie so oft, wieder im Schatten des Baumes in der Nähe ihres Hauses. Es ist der Moment, in dem sie anfängt, von ihrem Schwager, dem Bruder ihres Mannes, zu erzählen, Oumarou Djibo, der Soldat war in der nigrischen Armee.

»Er war auch mein Bruder«, sagt sie, so nahe hätten sie sich gestanden, Djibo habe ihr immer Rat gegeben, ihr immer geholfen. Auch als sie sich, es ist zehn Jahre her, von ihrem Mann trennen wollte, war Djibo da. Er habe ihr damals gesagt, sie solle keine voreiligen Entscheidungen treffen. »Warte, bis ich von meinem Einsatz zurück bin, dann sprechen wir über alles.«

Am 3. Oktober 2014 machte sich Djibos Einheit auf den Weg in Richtung Osten. Ein Konvoi von Militärfahrzeugen. Plötzlich eine Explosion. Ein Angriff. Aber keine Sprengfalle von Terroristen, sondern ein Luftschlag. Unter den Toten: Oumarou Djibo.

Es waren überlebende Soldaten, die Amina Abdoulwahid und ihrem Mann dies erzählten. Hatten die Franzosen den Konvoi attackiert? Vielleicht eine Verwechslung, ein Missverständnis? Genaues wurde nie bekannt. Ermittlungen zu dem Vorfall gab es nicht, und wenn doch, wurden die Ergebnisse nicht veröffentlicht. »Die Soldaten, die den Angriff überlebten, wurden eingesperrt«, sagt Amina Abdoulwahid.

Es ist eine Behauptung, die sich nicht überprüfen lässt. Eine Anfrage der ZEIT bei französischen Diplomaten blieb unbeantwortet.

Amina Abdoulwahid hat sich nach dem Tod ihres Schwagers nicht von ihrem Mann getrennt. Auf ihrem Nachttisch aber steht nun ein goldgerahmtes Bild eines Soldaten in weißer Uniform. Abdoulwahid schläft jede Nacht neben dem Bild Oumarou Djibos ein.

Am 19. September, dem Redaktionsschluss dieser Ausgabe, sind die französischen Soldaten noch immer in Niamey. Randalierer haben die Scheiben der französischen Botschaft eingeschlagen, aber auch die Diplomaten sind noch da. Inzwischen haben die Putschisten angeordnet, keine Lebensmittellieferungen mehr durchzulassen. Es kursieren bereits Videos von Kisten mit Croissants, die auf der Straße statt in der Botschaft landeten. Präsident Macron warf den Generälen Ende vergangener Woche vor, die Diplomaten zu Geiseln zu machen. Richtig ist, dass sie, wie auch die Soldaten, jederzeit das Land verlassen könnten.

Macron aber sagt, über einen möglichen Abzug werde er nur mit einem Menschen sprechen, mit Präsident Mohamed Bazoum. »Er ist der rechtmäßige Machthaber.« Der letzte Demokrat im Niger.

***

HINTER DER GESCHICHTE

Der Staatsstreich im Niger hat weltweit für Schlagzeilen gesorgt. Dabei kommen kaum internationale Journalisten ins Land. Kurz nach dem Sturz des Präsidenten haben die Militärs den Luftraum geschlossen. In den meisten Nachbarstaaten ist die Sicherheitslage derart prekär, dass eine Einreise auf dem Landweg lebensgefährlich sein kann. Einige wenige Airlines dürfen mit Sondergenehmigung der Putschisten trotzdem landen. Der Reporter der ZEIT bekam als erster deutscher Journalist einen Platz auf einem der seltenen Flüge. Er recherchierte zwei Wochen im Niger.