Der Deal

von Fabian Federl

Der Nepalese Sujan Khanal möchte in Europa leben. Portugal macht ihm ein Angebot: Sieben Jahre lang Himbeeren pflücken – dann bekommt er den ersehnten Pass. Über ein Geschäft, bei dem nur eine Seite sicher gewinnt.

„Süddeutsche Zeitung Magazin“

An einem Spätsommerabend 2019 steigt Sujan Khanal, ein 27-Jähriger mit kindlichen Augen, aus einem Linienbus in Odemira. Sein Blick schwenkt durch die Ankunftshalle, darin Dutzende Menschen mit Turbanen und bunten Gewändern. Im Restaurant neben dem Busbahnhof sitzen Sikhs, am Nachbartisch muslimische Inder, an einem dritten Nepalesen. Sujan, ebenfalls Nepalese, setzt sich dazu. Er wartet. Wie es ihm sein Vermittler gesagt hatte. Einige Minuten später hält ein Kleinbus. Der Fahrer winkt Sujan zu sich. Er gibt Gas, die Hauptstraße hinab, vorbei an den weiß-blau gekachelten Häusern, vorbei an anderen Männern, die auf ihre Busse warten, um sich, wie Sujan, auf den Weg zu machen an den Ort, der ihre Heimat werden soll. Für rund sieben Jahre.

Sujan Khanal ist einer von Zehntausenden Nepalesen in Odemira, einer dünn besiedelten Region im Süden Portugals. Sie kommen wegen eines Angebots, das der Staat ihnen macht: sieben Jahre Arbeit im Tausch gegen einen europäischen Pass. Kein Asylverfahren, keine illegale Einwanderung. Ein Deal: Lebenszeit gegen Zukunft. Welcher Arbeit die Einwanderer während dieser Zeit nachgehen, spielt keine Rolle. Aller- dings stehen ihre Chancen, überhaupt Arbeit zu finden, auf den Feldern von Odemira besonders gut.

Der Deal ist ein Zugeständnis an die anderen Migranten hier: ausländische Agrarunternehmen. Der US-Konzern Driscoll’s entdeckte in Odemira vor einigen Jahren die perfekten Bedingungen für die Produktion bestimmter Früchte: Himbeeren, Brombeeren, Blaubeeren, Erdbeeren. Firmen aus Großbritannien und den Niederlanden folgten. Riesige Plantagen wurden gebaut, die Früchte aber verfaulten an den Sträuchern. Weil niemand da war, um sie zu pflücken. Feldarbeit ist für viele Portugiesen schambehaftet.

Im März 2018 wurde, ohne viel Aufsehen, das Einwanderungsgesetz in Portugal geändert. Artikel 88 – das »Himbeervisum« – trat in Kraft. Heute sind die Straßen voll. Und es gibt Kricketfelder, indische Supermärkte, Moneygram-Agenten. Aus den Fenstern der alten Bauernhäuser schallt indische Musik und weht der Geruch von frittiertem Puri.

Das reiche Europa trifft auf die armen Regionen Südasiens, Kapital auf Arbeitskraft. Doch die Konzerne kaufen die Arbeitskraft weniger mit Geld – die Bezahlung reicht kaum zum Leben. Sie bezahlen mit Hoffnung.

Am Nachmittag seines ersten Arbeitstages schreibt Sujan eine Nachricht. Er könne sich für den Abend nicht verabreden, er werde in eine andere Unterkunft gefahren. »Ich informiere euch,
 
wenn die Situation es erlaubt, uns zu treffen.« Am nächsten Nachmittag meldet er sich. Wir fragen, ob es in Ordnung sei, ihn an der Haltestelle zu treffen. »Ich bin mir nicht sicher«, schreibt er. Dann schickt er Bilder: eine Plantage, Himbeeren, Handschuhe, Eimer, die an seinem Gurt befestigt sind. Am nächsten Tag werde er um 5.45 Uhr wieder auf die Plantage gefahren.

Am dritten Tag sehen wir uns im Restaurant am Busbahnhof. Sujan trägt Arbeitskleidung, Windjacke und Kapuzenpulli, dazu dicke Jeans, wegen der Stacheln. Die Kellnerin bringt Bier.
»In Nepal«, sagt er, »habe ich keinen Schluck Alkohol getrunken.« In Europa aber trinke jeder. Dann nestelt er eine Packung Zigaretten aus seiner Hemdtasche. »Ich habe auch nie geraucht.«

Sein erster Arbeitstag sei schlimm gewesen. »Sobald eine Reihe von Sträuchern abgepflückt war, rief der Aufseher: Umdrehen und noch mal!« Sujan macht mit den Fingerspitzen Gehbewegungen auf dem Tisch. »Jedes Mal wenn ich durch eine Reihe gehe, gibt es weniger reife Himbeeren. Ich werde aber pro Kilo bezahlt.« In der ersten Stunde habe er vier Euro verdient, in der zweiten einen, in der dritten 20 Cent.

Am Nachmittag, sagt Sujan, habe er einen Anruf bekommen. Von einer Zeitarbeitsfirma. Sie boten ihm einen Vertrag, 5,50 Euro pro Stunde. Sujan legte seine Eimer ab und ging. »Ich habe nicht mal auf meine Bezahlung gewartet.« Am Abend bezog er eine Unterkunft, vermittelt von der Zeitarbeitsfirma. Drei Zimmer, mit fünf weiteren Pflückern, 150 Euro pro Person. »Ein Bett, gutes WLAN und eine Küche, was brauche ich mehr?«

Sujan wuchs in Kapilvastu auf, einem Dorf in Nepal, laut buddhistischer Überlieferung der Ort, an dem Siddharta Gautama aus seinem Palast floh. Sujan spricht mit glänzenden Augen von zu Hause: »Wir haben alles.« Wasser, fruchtbaren Boden, fleißige Menschen. Die Politik aber mache das Land krank. Nepal ist eines der ärmsten Länder der Welt, es überlebt wegen Geldsendungen der Auslandsnepalesen, sie machen 27 Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus.

Sujans Familie aber hat Land und Eigentum. Mittelschicht. Er ging auf eine gute Schule, begann ein Studium in Indien, in Bangalore, Asiens Silicon Valley: IT-Management. Er sagt, er hatte hervorragende Noten. Er wollte in Europa seinen Master in Business Management machen. Die renommierte Hochschule INSEEC in Chambéry, einer französischen Alpenstadt, nahm ihn an.

Sujans Eltern zahlten die Studiengebühren für das erste Jahr: 9600 Euro. Danach sollte er sich selbst finanzieren. Aber, was er nicht wusste, als Student bekam er keine Arbeitserlaubnis, konnte nicht jobben. Er musste die Uni verlassen. Und so wurde ein Mittelstandsleben zu einer Immigrationsgeschichte, eine Verwandlung, die hier in Odemira nicht selten ist. In seiner Not hatte Sujan von diesem Himbeervisum gehört.

Seit 2018 gibt es in Portugal – wie etwa auch in Tschechien und Malta – eine Arbeitserlaubnis für Menschen, die einen Arbeitsvertrag vorweisen. In Portugal aber darf die Erlaubnis unbestimmt oft verlängert werden. So lange, bis man einen portugiesischen Pass beantragen kann. Es ist für Menschen wie Sujan wohl der geradeste Weg, Europäer zu werden. Und das wollte Sujan fortan.
 
Am sechsten Tag holen wir ihn vor seiner Wohnung ab. Reinlassen möchte er uns nicht, er wisse nicht, ob sein Arbeitgeber das erlaubt. Er raucht zwei Zigaretten auf dem Weg zum Auto. Wir fahren über gewundene Straßen in Richtung Küste. Je näher wir ans Meer kommen, desto mehr weiße Flecken tauchen in der Ferne auf, Hunderte von wellenförmigen Planen. Die Tunnel, offene Gewächshäuser. Sujan dirigiert uns, scharf links, Feldweg rechts. Die Straßen sind von hohen Büschen begrenzt, die schützen die Plantagen vor Lärm, Dreck und Blicken.

An einer Kreuzung zweier Feldwege halten wir. Sujan lugt in eine Öffnung zwischen den Büschen, den Eingang einer Erdbeerplantage. Darin Tunnel, acht Reihen tief und auf vier Kilometer Länge. »Heute arbeitet keiner«, sagt er und winkt uns herein. »Erdbeeren sind das Schlimmste!« Den ganzen Tag gebückt. »Himbeeren: das Beste.« Man lerne beim Machen. Erst, die Qualitäten zu erkennen: dunkle, reife Himbeeren für den lokalen Markt. Rosafarbene für den Export. Dann die Technik: mit drei Fingern in den Busch, an den Stacheln vorbei, zur Frucht und mit einer leichten Drehung herausziehen. »Der Rest ist Motivation.«

Meistens pflückt Sujan 50 Kilo am Tag. Dafür verdiene er zwischen 30 und 50 Euro. Sujan, der frühere Business-Student, rechnet: »In einem Jahr pflücke ich mehr als eine Tonne.« Multipliziert mit 10 000 Pflückern. »Eine 200-Gramm-Packung Himbeeren kostet im Supermarkt zwei Euro.« Er blickt uns an, als mache er gedanklich einen Strich unter die Rechnung. Dann läuft er weiter und sagt: »Ein iPhone kann man auch nicht mit amerikanischen Arbeitern herstellen.«

Einige Tage später fahren wir mit einem Pick-up-Truck durch eine der größten Himbeerfarmen der Region. Achtzig Hektar, Hunderte Tunnel. Der Wind weht wie durch einen Kanal. Ein Techniker führt uns durch die Reihen, er pflückt eine rosafarbene Himbeere, »Diamond Jubilee«, sagt er, »wird bei Lidl verkauft«, dann von einem anderen Strauch dunklere, feiner gepunktete.
»Sapphire. Wächst auch im Winter.« Beeren aus diesem Tunnel seien heute nach Deutschland gegangen.

Männer mit Mundschutz schieben Wagen mit Plastikschalen vor sich her. Einer hört indische Musik über einen Lautsprecher, pickt schnell und präzise Früchte heraus, legt sie in Plastikschalen, getrennt nach Reifegrad. Ist ein Wagen voll, wird er an den Tunnelrand geschoben, in einen Anhänger. Einmal pro Stunde kommt der Anhänger ins Kühlhaus, zweimal am Tag fährt der Laster nach Nordeuropa. In ein, zwei Tagen liegen diese Schälchen bei Edeka, Lidl, Rewe.

Die Plantage gehört Hall Hunter, mittlerweile aufgegangen in der neu gegründeten Summer Berry Company, einer britischen Firma, dort Marktführer für Beeren. Das Unternehmen expandierte vor zwei Jahren nach Odemira, gemeinsam mit weiteren Konzernen. Alle folgen sie Driscoll’s, dem größten Beerenproduzenten der Welt.

2016 hatte Driscoll’s in Odemira eine Filiale eröffnet. Das Wetter ähnelt dem Kaliforniens: heiße Sommer, abgekühlt durch Meeresluft, die Winter mild. In den USA sind Beeren schon lange im Winter er- hältlich. Europäische Himbeeren hingegen waren im Winter teuer. Driscoll’s fand in
 
Südportugal den Ort, in dem man sie das ganze Jahr über mit der gleichen Qualität anbauen kann.

Der Konzern betreibt die Plantagen nicht selbst, er vermietet Anbaurechte, Saatgut und Technik an Subunternehmer. Ihr Anbau landet unter dem Driscoll’s-Logo im Supermarkt. Gerade hat Driscoll’s ein Hauptquartier in Odemira gebaut, vor den Toren steht eine Schlange von Lastwagen aus Frankreich, Deutschland, den Niederlanden.

Das Beerengeschäft in Portugal wächst. Der EU-Strukturfonds fördert Produzenten, die sich hier niederlassen, mit bis zu 55 Prozent der Investitionskosten. Und so hat Sudoberry aus Großbritannien hierher expandiert, FrutaDivina aus den Niederlanden, Maravilha Farms aus den USA.

Auf der Anlage von The Summer Berry Company stehen vor den Plantagen Hunderte Bungalows, ein Fußballplatz, ein Kricketplatz. Die Pflücker leben auf dem Gelände, die Betriebskantine serviert indisches Essen. Sie haben Krankenversorgung, Leihautos und ein Fitnessstudio. The Summer Berry Company gilt als vorbildlich, als Ausnahme, Sujan sagt, er würde gern dort arbeiten. Es ist kein Zufall, dass wir alle 50 Beerenproduzenten besuchen wollten – aber nur Summer Berry uns hineinließ. Mit dem Zuzug der Firmen verwandelte sich das arme Odemira. In São Teotónio, der größten Gemeinde im Bezirk, gibt es einen Kindergarten, eine Turnhalle, einen Spielplatz, alles in den vergangenen drei Jahren gebaut. Das früher überalterte São Teotónio verjüngt sich. In der Grundschule sind 50 Prozent der Kinder indisch oder nepalesisch, im Kindergarten 80 Prozent. Einige setzen sich zu uns. Ein Junge sagt, er wolle Fußballspieler bei Bayern München werden. Die anderen: Model, Informatiker, Rennfahrer.

Sujan zieht einen Ausweis aus seiner Hosentasche. Die »Residência«. Sujan kennt die Regeln, die Paragrafen, Zahlen, Fristen, Fälligkeiten. Der Deal ist simpel: legal einreisen als Student oder Tourist. Mit einer Arbeitsbestätigung eine Aufenthaltsgenehmigung beantragen. Sozialabgaben zahlen. Nach einem Jahr fällt die erste Verlängerung an. Dann nach zwei Jahren, dann noch mal nach zwei. Danach kann man sich um den portugiesischen Pass bewerben. Nachweise, die dafür nötig sind: mehr als 50 Prozent der Zeit beschäftigt gewesen zu sein. Und jeden Monat die Steuern abgeführt zu haben. Nach einer kurzen Bearbeitungszeit ist man Portugiese und damit EU-Bürger.

Der mühsamste Schritt ist der erste. »Wer neu ist, kann nur über einen Agenten Arbeit finden«, sagt Sujan. Der stellt eine Arbeits- bestätigung aus, mit der man die Arbeitserlaubnis bekommt. Während der Bearbeitungszeit arbeiten die Pflücker über den Agenten. Sujan verdiente 3,50 Euro pro Stunde, das heißt, der Agent behielt rund 40 Prozent »Gebühr«. Sobald sie die Residência haben, die temporäre Aufenthaltsgenehmigung, wechseln die meisten zu einer Zeitarbeitsfirma, für Stundenlöhne von fünf oder sechs Euro. Ziel ist, irgendwann direkt angestellt zu sein, wie bei Summer Berry, Monatsgehalt 700 Euro plus Über- stunden und Boni.

»Ich halte mich an die Regeln«, sagt Sujan. Er zahle die Steuern, reiche seine Nachweise ein, verlängere rechtzeitig. Er zählt auf seinen Händen, murmelt Zahlen auf Nepali vor sich hin.
»Noch fünf Jahre«, sagt er, »höchstens sechs.«
 
Am Abend fahren wir mit Sujan an den Strand. Er war noch nie dort, obwohl es nur zwölf Kilometer Entfernung sind. Für die Arbeit wird er um 5.30 Uhr morgens von einem Transporter abgeholt, um 16 Uhr sei Schluss, aber die Heimfahrt dauert manchmal zwei Stunden.

Wir baden und reden. Wenn Sujan spricht, wechselt er oft die Perspektive. Er redet über die Pflücker, als wäre er keiner. Er spricht analytisch und gern über das ganz Große: die Kolonialherrschaft in Indien, den Brexit. Je weiter wir uns von den Plantagen entfernen, desto mehr finden unsere Gespräche auf Augenhöhe statt, unter Gleichaltrigen, Gleichgebildeten.

»Es ist ein Deal. Kein guter, aber ein Deal«, sagt Sujan. »Unternehmen wollen Arbeiter. Der Staat will Steuern. Und wir wollen eine bessere Zukunft.« Das Pflücken selbst langweilt ihn als Gesprächsthema. Es gehe um mehr. »Das hier ist einfach ein großer ein Kreislauf«, erklärt er. Und er brauche den Pass, um daraus auszubrechen. »Um was zu bekommen, muss man eben erst arbeiten«, sagt er. Wie im Business ja auch.

Ob er ahnt, wie viel ihn dieser Deal am Ende kosten könnte?

2018 besuchten wir Odemira zum ersten Mal. In einer Altstadtgasse, die vom Marktplatz São Teotónios abgeht, trafen wir Bharat Kumar, einen nachdenklichen, aufgeschlossenen Familienvater, 32 Jahre alt. Er war ein Jahr zuvor nach Odemira gekommen, als einer der ersten Himbeerpflücker. Er hatte die gleichen Hoffnungen wie Sujan, die gleichen Pläne.

Eineinhalb Jahre später klopfen wir an Bharats Tür, ein Eckhaus in São Teotónios historischem Kern. Aus den Fenstern hängen Hemden, Hosen, Unterwäsche, die Holztür schließt nicht. Bharat lächelt zurückhaltend, ist seit unserem vorigen Treffen äußerlich stark gealtert. Die Tür stößt an eine Matratze am Boden, daneben lie- gen weitere im Gang. Im nächsten Zimmer schlafen zwei Männer in einem Bett. Die Wände sind schimmelig, die Decke schwarz vor Ruß. Wir steigen über die Matratzen, durch ein weiteres Zimmer, in dem zwei Stockbetten, drei Feldbetten und eine weitere Matratze liegen, und überall junge Männer, Headsets im Ohr, im Videochat nach Indien.

Bharat lässt sich auf einen Stuhl fallen, er ist, wie er sagt, »permanent erschöpft«. Ein Mitbewohner serviert Tee mit Milch, typisch in ihrer Heimatregion Haryana, im Norden Indiens. Ein älterer Mann, von allen Chacha genannt, Hindi für »Onkel«, rollt Teig für Chapati aus, der Raum ist vollgestellt mit Säcken von Reis und Mehl, Netzen mit Zwiebeln und Knoblauch, Paprika und Peperoni. Es raucht und zischt aus der Kochecke. Hinter uns duscht einer. Ein anderer kontrolliert seine Augenringe in einem an der Wand befestigten Motorradspiegel. Zwölf Menschen auf 40 Quadratmetern. Pro Person 120 Euro. Macht 1440 Euro Monatsmiete. Früher kostete eine Wohnung hier 200 Euro. Artikel 88 verändert auch das Leben der Vermieter.

Bereits vor eineinhalb Jahren hat Bharat hier gewohnt, er sah es als Übergangslösung. Seither musste er immer mehr Menschen hier einquartieren, um die Miete zahlen zu können. Auch Bharat kommt nicht aus einer armen Familie, er hat Frau und Kinder in Haryana, einen Master in IT-Management. Während wir Tee und gesalzenen Orangensaft trinken, klingelt sein Telefon,
 
seine Frau ist dran. Kurz leuchtet sein Gesicht auf. Morgens um fünf Uhr, sagt er uns, geht er zur Arbeit, und wenn er zurück ist, um 19 Uhr, ist es nach Mitternacht in Indien. Bharat dreht uns lächelnd, aber mit traurigen Augen das Display zu, eine Frau und ein Kind darauf, winkend,
»Hello!« Bharat verlässt das Zimmer, auf die Straße. Wo es mehr Privatsphäre gibt.

Nach einer halben Stunde kommt er zurück. Chacha hat uns angeboten, gemeinsam zu Abend zu essen. Bharat aber bittet uns zu gehen. Er führt uns zur Tür, zeigt auf die Matratzen mit den Schlafenden, blickt uns entschuldigend an.

Am nächsten Abend treffen wir ihn auf dem Marktplatz. Er setzt sich auf einen Plastikstuhl in einem Café, bestellt nichts und will nichts haben, entschuldigt sich für den Vorabend. Er habe gern Gäste »aber nicht in diesen ...«, er sucht nach dem Wort, »... Bedingungen.«

Mit zwei Telefonen sitzt er da, eines für Indien. 13-Stunden-Schichten, sagt er. Ein Pausentag pro Monat. Er verdient 800 Euro, vor Steuern. Bharat zuckt mit den Schultern: Das Geld sei ja nicht mal das Problem. »Mein Leben ist so langweilig geworden«, sagt er, »Arbeiten, schlafen, arbeiten.« Noch vier Jahre, sagt er. Er werde immer älter, für jedes Jahr hier altere er zwei. Als wir uns von Bharat verabschieden, versprechen wir, wiederzukommen. Er sagt: Wenn die sieben Jahre voll sind, ist er für alles zu haben. »Das Leben beginnt nach dem Pass.«

Am letzten Abend in Odemira verabreden wir uns mit Sujan in einem Restaurant. Er könne sich vorstellen, Koch zu werden, wenn er einmal Europäer ist: in einem Sternerestaurant. Wir bestellen Salat mit Stockfischeiern, Käse und Oliven. Sujan isst wenig. Er habe sich noch nicht an das Essen hier gewöhnt. Zu wenig Salz, zu wenig Pfeffer, keine Schärfe. »Ich versuche, Europäer zu sein«, sagt er. Beim Essen falle ihm das am schwersten.

Am Wochenende telefoniere er oft mit den Eltern. Seit er nach Europa gekommen sei, habe er sie nicht gesehen. »Nächstes Jahr wollen sie mich vielleicht besuchen kommen«, sagt er. »Ich habe denen gesagt, ich arbeite in einem Büro. Wenn die wüssten, dass ihr Sohn auf dem Feld
arbeitet ... sie würden weinen.«

Am selben Abend im Spätsommer 2019 machen Kristin, die Fotografin, und ich mit Sujan ein Selfie. Wir schicken es ihm einen Tag später. Er antwortet, er freue sich, wenn wir in Kontakt blieben. »Wir sehen uns in elf Monaten. Ich komme euch besuchen.« Mit der Residência dürfe er reisen.

Aber bald werden seine Nachrichten zaghafter, er wirkt einsam. Und macht sich selbst Mut: Er komme ja erst an, es dauere alles seine Zeit, schreibt er. Im Dezember kippt die Stimmung: »Ich fühle mich wie in der Hölle«, schreibt er. »Ich habe gerade keinen Job. Ich weiß nicht, wieso alles so kompliziert ist für mich!« Am Telefon erzählt er dann von seiner Sorge, im Winter als Zeitarbeiter nicht gebucht zu werden. Arbeitslosigkeit würde seinen Traum von Europa zunichtemachen.
 
Doch dazu kommt es nicht. Sujan arbeitet einige Wochen lang auf einer Süßkartoffel-Farm. Dann pflückt er Heidelbeeren. Er beginnt, portugiesische Weihnachtslieder zu hören – um die Sprache zu lernen, auch wenn er sie nicht unbedingt braucht. Auf den Feldern sprechen alle Englisch, und in Portugal bleiben will er ja nicht, sobald er den portugiesischen Pass hat.

Im März 2020, als an vielen Orten der Welt Lockdowns verhängt werden, gibt es in der ganzen Region um Odemira nur eine zweistellige Zahl an registrierten Corona-Fällen. Im Mai verlängert Sujan seine Residência.

Wir hören einige Monate lang nichts von Sujan. Wir fürchten, dass er inzwischen Bharat Kumars Schicksal teilt. Dass die Arbeit ihn abstumpft und er die Tage zählt, bis er endlich gehen kann.
Dass sein Leben erst nach dem Pass beginnen kann.

Aber dann, im November, ein Telefonat – und es ist ganz anders. Sujan ist aufgeregt, glücklich, sprüht vor Energie. Er sei umgezogen, nach São Teotónio. Er mag das Dorf und seine Wohnung. Er hat einen neuen Job, Himbeeren pflücken bei Maravilha Farms, einem seiner Wunscharbeitgeber. Jede Überstunde, sagt er, wird bezahlt. Die feste Stelle, der renommierte Arbeitgeber, das klare Ziel – das gibt ihm Selbstvertrauen. Sujan lebt nur wenige Minuten von Bharat entfernt, sie arbeiten auf demselben Feld. Sie kennen einander immer noch nicht. Ihre Leben sind, trotz aller Gemeinsamkeiten, grundverschieden. Sujan wartet nicht mehr darauf, dass es endlich vorbei ist – er scheint sich mit dem Weg, über den Bharat sich so quälen muss, tatsächlich angefreundet zu haben.

Wir möchten wissen, was aus dem Besuch seiner Eltern geworden ist. Sujan sagt, Corona habe ihr Kommen verhindert. Das sei gut, weil er sich nicht erklären musste. Aber es gebe jetzt sowieso Dringenderes: Sie hätten eine Frau für ihn gefunden. Aus Nepal. Nächstes Jahr wolle er nach Kapilvastu fliegen. »Bist du denn bereit, deine künftige Frau zu treffen?«, fragen wir.
»Nein«, sagt er.

Er muss los, zur Arbeit. Wir fragen noch, ob sonst alles in Ordnung sei. »Ich bin jetzt ein Himbeermann«, sagt er. Ihm gehe es richtig gut. Es laufe alles wie geplant.