Der Ausbruch

von Christoph Heinemann und Jens Meyer-Wellmann

Covid-19 fand seinen Weg auf die sensiblen Krebsstationen des UKE und tötete elf Menschen. Die Angehörigen suchen ein Leben nach dem Unglück und fordern Antworten. Was geschah in Hamburgs renommiertester Klinik? Die Rekonstruktion einer Tragödie.

Hamburger AB
Hamburger Abendblatt / Screenshot BDZV

Am Ende bleibt nichts, außer es zu akzeptieren und Frieden zu suchen. Nur wie das gehen soll, hat den Angehörigen niemand gesagt.

In Büsum legt der alte Krabbenkutter MS „Hauke“ ab und fährt hinaus auf die See. Die Enkel von Niels Boldt halten die Urne in einer Kabine an Deck gegen den Wellengang fest, seine Tochter ermahnt sich zu lächeln, wie sie später erzählt. Sie trägt eine gelbe Bluse unter der Jacke. Er hat ihnen verboten, traurig zu sein. Ganz sicher würde er jetzt einen Spruch reißen und seine Augen leuchten wie die eines Teddybären. Drei Seemeilen vor der Küste lassen sie die Reste seines Lebens zu Wasser. Die Urne versinkt schnell.

In Altona wählt die Tochter von Anne-Christa Falk hastig die Nummer des Bestatters, als der Leichnam ihrer Mutter bereits auf dem Weg in das Krematorium ist. „Ist Mama schon eingeäschert worden?“, fragt sie. „Wenn nein, müssen wir es stoppen.“ Sie hat Angst, dass die Staatsanwaltschaft den Körper noch nicht obduziert hat, dass Spuren eines Verbrechens verloren gehen. „Okay, wir warten“, sagt der Bestatter.  Die Tochter von Anne-Christa Falk glaubt, dass sie Gerechtigkeit wollen würde.

In Anderlingen im Kreis Rotenburg ist der Körper von Ines Brandtjen aufgebahrt. Dem Bestatter wurde „dringend empfohlen“, den Leichensack nicht zu öffnen, wegen der Ansteckungsgefahr. Für die Angehörigen fand er dennoch einen Weg.  Ihre Eltern beugen sich ein letztes Mal über den Körper ihrer Tochter, sie ist blass und trägt eine Jacke, um die Wunden der Behandlung zu verbergen. Eine Perücke sitzt da, wo ihre blonden Haare einst waren. Die Eltern fahren nach Hause, sie nehmen starke Tabletten, um einschlafen zu können. 

Für sie ist es nicht vorbei. Und es sollte nicht so enden.

Die Geschichte dieser drei Menschen sollte weitergehen. Niels Boldt, 74 Jahre alt, sollte lachend mit seiner Braut in einem Cadillac durch Las Vegas fahren. Anne-Christa Falk, 83 Jahre alt,  in ihrer großen Wohnung in Altona sitzen und lesen, kochen, den Abend ihres Lebens genießen. Ines Brandtjen, 21 Jahre alt, sollte weiter studieren, sich verlieben, ihren Träumen nachjagen. Es sollte keine Ermittlungen der Staatsanwaltschaft geben und keine Fragen. Vor allem keine Zweifel daran, dass es einen Ort gab, an dem alles getan wurde, diese Leben zu schützen: das renommierteste Krankenhaus Hamburgs, eines der besten der ganzen Republik.

Im UKE an der Martinistraße herrscht an einem heißen Augusttag so etwas wie der neue Normalbetrieb. Auf der Intensivstation liegen noch sechs Corona-Patienten. Ein Team aus erfahrenen Virologen testet einen Impfstoff, in der zweiten Phase, die Hoffnungen sind groß. Vor der Onkologie, dem siebenstöckigen Stolz des Klinikums, stehen Wachleute. Wer noch in die sensiblen Bereiche darf, muss durch eine Schleuse, sich mit Kittel und Maske verkleiden. Spezialfilter reinigen die Luft.

„Die haben uns gesagt, da drin könnte nicht einmal ein Brot verschimmeln“, sagt die Mutter von Ines Brandtjen. Eine Krankenschwester meint: „Wir müssen alle damit leben, dass es schrecklich schiefgegangen ist.“ Ein Mitarbeiter der Sozialbehörde sagt: „Mein Gott, man kann es einfach nicht begreifen.“

Der Erreger Sars-CoV-2 hat das UKE an seiner empfindlichsten Stelle getroffen. Er fraß sich im Frühjahr durch die Onkologie, infizierte 40 Mitarbeiter und 22 Patienten. Erst mit wochenlanger Verzögerung wurde der Ausbruch bekannt, das UKE beteuerte, die Lage sei unter Kontrolle. Es versprach Transparenz, aber betonte, alles richtig gemacht zu haben. Es verschickte knappe Pressemitteilungen, als das Sterben begann. Kaum vier Sätze pro Mensch, am Ende elf Verstorbene, keine Antworten. 

Wie konnte das bloß passieren?

Nach Recherchen des Hamburger Abendblatts waren die elf verstorbenen Krebspatienten keineswegs sicher dem Tod geweiht. Das Virus tötete sie, nicht der Krebs. Das ergab die Untersuchung der Rechtsmedizin. Einen der beiden Feinde hätten sie besiegen können. Und leben. Ein paar Monate, ein Jahr, fünf Jahre, zehn Jahre, vielleicht länger.

Es ist nicht klar, ob es einen Schuldigen gibt. Vielleicht keinen, außer dem Coronavirus. Darüber sagt diese Geschichte, die sich aus den Schilderungen von Hinterbliebenen und Mitarbeitern, aus WhatsApp-Verläufen, Dokumenten, Mails und Behandlungsverläufen ergibt, viel aus – genau wie über ein Krankenhaus, zu dessen Selbstbild die Geschehnisse nicht passen. Vielleicht hätte nichts davon geschehen müssen, wenn jemand achtsamer gewesen wäre. Eine Reinigungskraft, ein Arzt, ein Patient, Wissenschaftler in einem Institut, das Gesundheitsamt. Ein Klinikum in seiner wichtigsten Stunde.    

 

10. Januar 2020:

Ines Brandtjen ist daheim. Sie läuft durch das Haus am Rand des Dorfes und singt Lieder aus „Mary Poppins“, draußen deckt Frost die Felder. Schon im Krankenhaus hat sie ihr Zimmer zur „Fun Zone“ erklärt. Zu Hause gibt es für sie keinen nächsten Block der Chemotherapie, keine Leukozyten, keinen verdammten Krebs.

Sie war gerade nach Bonn gezogen, zum Studieren, als sie es feststellten. Ines Brandtjen fühlte sich erkältet. „Kein Wunder“, sagte ihre Mutter. Ines Brandtjen ist amtierende Jungschützenkönigin im Dorf, bei einer Feier kurz zuvor trug sie nur einen knappen Rock.

Dann brach sie plötzlich zusammen, an einer Bushaltestelle.

„Ich habe mich nur hinsetzen müssen“, sagte sie. Ihre Mutter, eine Frau von trockener Klugheit, sagt: „Sie sieht sich nie so krank, wie sie ist.“

Als die Diagnose kam, tippte Ines Brandtjen „aggressive lymphatische Leukämie“ in ihren Laptop. Eine Art von Kinderkrebs, sehr gut behandelbar, stand da. Schon klickte sie das Fenster weg. „Das stehe ich durch.“

Die Mutter und ihre Tochter reden noch oft über Tansania, da waren sie wenige Wochen vor der Diagnose, es war Ines’ Idee, die Mutter hat danach ein Savannenbild in das gelb gestrichene Wohnzimmer gehängt. Zu Hause reden sie plattdütsch miteinander.

Ines backt, große Torten, manchmal dauert es den ganzen Tag. Ihre Eltern essen und freuen sich, dass sie da ist. Wenn die Werte stimmen, muss sie wieder ins UKE. „Vollständige Heilung“, das hat der Arzt gesagt. Das ist das Ziel.

 

19. Januar:

Eigentlich passt ihm die Transplantation gerade gar nicht. Niels Boldt hat die Flüge gebucht, im Juni soll es losgehen, Las Vegas, ein Elvis-Imitator, noch einmal Ja sagen. Seine Frau hält es nun schon 50 Jahre mit ihm aus, zwei wie Feuer und Wasser, sie ruhig, er immer mit Hummeln im Hintern. Manchmal übertreibt er es, wie auf dem Foto neulich, als er so tat, als wolle er ihr an die Brust fassen, und dabei bübisch grinste. 

„Jeder Tag war schöner als der andere, wirklich“, sagt seine Frau später und reibt ihren Ehering. Seit sie damals, vor fast genau 50 Jahren, ihm bei einer Gartenparty die Erdnüsse reichte. „Er war so ein Typ, ne. Er hätte gleich überall mit mir hingehen können.“

Niels Boldt liegt in seinem Bett auf Station C6A, Stammzellentherapie. „Ja Mensch, das ist ja nicht so doll“, hat er gesagt, als die Diagnose kam. Aber er hat den Krebs schon einmal besiegt, vor 15 Jahren. Wenn die Schwestern kommen, begrüßt er sie mit einem Spruch. „Mensch, der hat immer so gute Laune“, sagt eine von ihnen.

 25. Januar:

Die Berichte aus China sind schlimm. Das neuartige Coronavirus breitet sich dort rasant aus, das UKE berät sich im Netzwerk internationaler Spitzenkliniken. Das Erbgut des Virus wird entschlüsselt. Die Suche nach möglichen Medikamenten und Impfstoffen beginnt. Ein offenes Feld.

 

30. Januar:

Ein Anruf kam, es war wieder ein Bett frei. Der nächste Block der Chemotherapie. Das Präparat bombardiert den Körper samt den Krebszellen, danach muss er sich erholen. Bei jungen Menschen geht das schnell. 

      Ines Brandtjen hat einen sogenannten 41-Wochen-Plan erhalten, für ihre gesamte Behandlung. Mehr als die Hälfte ist bereits geschafft.

 

8. Februar:

Anne-Christa Falk hat auf einmal Mühe, aus dem Stuhl zu kommen. Sie ist eine stolze Dame, lange Chefsekretärin gewesen bei der Dresdner Bank, zwei Kinder großgezogen. Sie hat einen Kleingarten an der Elbgaustraße, ist gern draußen, geht ins Theater, einkaufen in ihrem Altona und mit den Händlern schnacken. Doch jetzt geht es kaum noch. Alles schmerzt.

„Muttern, wir müssen das abklären lassen“, sagt ihre Tochter. Auch ihr Sohn ist häufig da, selbst ein gestandener Mann mit lederner Haut, aber sanft, wenn er mit ihr spricht. Anne-Christa Falk möchte nicht ständig zum Arzt. Sie war schon einmal schwer krank, Brustkrebs, eine Seite mussten sie amputieren. „Machen Sie das, mein Mann sucht sich eh keine Neue mehr“, hat sie gesagt.

 

21. Februar:

Über einen Venenzugang erhält Niels Boldt die Stammzellen, den Spender kennt er nicht. Die Familie ist dabei, als das neue Blut durch den Schlauch läuft. Die Tochter macht ein Selfie, und Niels Boldt reckt den Daumen nach oben, er lacht. Die nächsten zehn Tage, sagen die Ärzte, sind die kritischsten.

Seine Enkel wären zu gerne dabei, aber kleine Kinder sind auf der sensiblen Station verboten. Niels Boldt zieht sie an wie ein Magnet, weil er nicht wie die Erwachsenen ist, sondern wie sie selbst. Wenn sie ihn in der Firma besucht haben, ist er mit ihnen durch große Kartons gekrabbelt. Zu Weihnachten stand er auf einmal da mit einer täuschend echten weißen Eule, wie aus „Harry Potter“, der Rest war Gekreisch. Niels Boldt hat beruflich etwas zurückgeschaltet, er ging Golf spielen, aber hat es bald wieder sein lassen. „Ihm passten die alten Männer nicht“, sagt seine Frau.

Niels Boldt liegt auf der Station C6B, der Isolationsschutzstation, es ist der Hochsicherheitstrakt des UKE. Unterdruckschleuse, Schutzkleidung an, nichts geht unverpackt rein oder raus. Die neuen Stammzellen müssen anwachsen. Seine Enkel werden Niels Boldt nie mehr sehen.

 

24. Februar:

Bei einer Pressekonferenz warnt Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) deutlich davor, dass sich das Virus auch hierzulande ausbreiten könne. „Durch die Lage in Italien ändert sich auch unsere Einschätzung der Lage: Corona ist als Pandemie in Europa angekommen.“

 

26. Februar:

Ines Brandtjen hat noch ein paar Tage Pause vor dem nächsten großen Block. Sie hat angefangen, wieder ein Tagebuch zu führen. Auf zwei Seiten schreibt sie eine „Bucket List“, mit allem, was sie noch erleben will. „Mich verlieben“, steht da, „Kinder bekommen“, „ohne Aufregung vor Leuten sprechen können“, „Spanien auschecken“. Sie hat sich eine Sprach-App heruntergeladen und büffelt schon Vokabeln.

 

            27. Februar:

Niels Boldt wird auf die Intensivstation verlegt. Er hat eine Lungenentzündung, einen Keimbefall und eine Sepsis. „So etwas gehört leider zum Alltag, bei allen Vorsichtsmaßnahmen“, sagen Schwestern. Die Familie eilt zu ihm, sie sind sehr in Sorge. Bereits eine der Erkrankungen ist nach einer Stammzellentransplantation bedrohlich.

 

28. Februar:

In der Kinderklinik des UKE hat ein Arzt seinen Dienst abgebrochen, er fühlte sich krank. Kurz zuvor war er mit seiner Frau in Italien gewesen. Am Abend gibt die Gesundheitsbehörde bekannt, dass er der erste positive Corona-Fall in Hamburg ist. Das Klinikum gründet eine „Task Force“, darin auch die Leitung der Krankenhaushygiene.

Es wird ein Schlachtplan entworfen, für Schutzkleidung, neue Hygienemaßnahmen. Es gibt feste Verhaltensregeln für Mitarbeiter, auch für direkten Kontakt mit Infizierten, nach einem Kategoriensystem. 

 

1. März:

Es gibt seit dem Vortag einen zweiten Corona-Fall in Hamburg. Vor dem UKE-Haupteingang stehen Kamerateams. Das Klinikum ist erster Schauplatz und Speerspitze im Kampf gegen die Pandemie. Niels Boldt wurde wieder auf die Station C6B verlegt. Sein Zustand ist stabil, die neuen Stammzellen wachsen. Er schläft jedoch tief, tagelang durch.

 

2. März:

Ihre Eltern bringen Ines Brandtjen zur nächsten Behandlungsphase ins UKE. Sie müssen jetzt durchgängig Masken tragen, die Hände desinfizieren. Das geht nicht immer auf Anhieb. Einige Spender sind schon leer. Andere fehlen ganz, wurden von Dieben abgeschraubt.

 

3. März:

Die Blutwerte von Anne-Christa Falk sind schlecht. Ihre Kinder wollen sofort mit ihr ins Krankenhaus. Sie packen einen Koffer zusammen, darin ein Bild von ihrem Ehemann, der schon 2015 verstarb. Anne-Christa Falk trägt seitdem beide Eheringe am Finger.

In der Diele ihrer Wohnung in Altona bleibt sie stehen. „Wisst ihr, es kann sein, dass ich sehr krank bin. Dass ich es nicht schaffe.“ Sie hat keine Angst, aber hat im Leben gelernt, sich nichts vorzumachen. Ihrer Kinder wollen erst hören, was die Untersuchung ergibt.

 

7. März:

Bei der Tochter von Niels Boldt klingelt plötzlich das Handy. „Hallo, hier ist Papa!“, sagt ihr Vater. Wann kommen sie ihn wieder besuchen? Seine Tochter denkt: „Hui, da ist er wieder.“ Die Pflegerinnen freuen sich, wieder mit ihm flachsen zu können. Eine sagt zu seiner Tochter: „Da streitet man sich fast ein bisschen drum, wer ihn betreuen darf.“

 

8. März:

Anne-Christa Falk liegt in Zimmer 522 der Station C5B. Die Werte sind schon nach wenigen Tagen stark verbessert, Blutkrebs wurde ausgeschlossen. Aber die Lymphknoten sind befallen.

    Der Chefarzt nimmt ihren Kindern dennoch die größte Angst. „Sie wird daran nicht sterben“, sagt er. Und sie müsse nicht im Krankenhaus bleiben. Nach einer Operation und leichter Chemotherapie sei ambulante Therapie das Mittel der Wahl. Es spreche nichts dagegen, dass sie noch Jahre lebe.

 

9. März:

Zum letzten Mal für zwei Monate ist die Zahl der Corona-Neuinfektionen an einem Tag in Hamburg einstellig, es beginnt ein rasanter Anstieg. 

 

10. März:

Ein guter Freund von Niels Boldt meldet sich am Nachmittag zum Besuch auf der  Station C6B, passiert die Unterdruckschleuse und zieht seinen Schutzanzug über. Er setzt sich mit Abstand zu Niels Boldt auf einen Stuhl, sie schnacken.

Dann klopft es an der Tür, eine der Reinigungskräfte kommt herein. Sie wechsle nun auf eine andere Station, sagt sie. Ihre Dienstkleidung hat sie schon abgelegt, auch den Mundschutz und die Handschuhe. Niels Boldt kommt ihr zwei Schritte entgegen, dann umarmen sie sich. Der Freund ist verdutzt, Niels Boldt habe es lachend heruntergespielt, so erzählt er die Szene später. 

 

12. März:

Im Senatsgehege des Hamburger Rathauses fällt der erste folgenschwere Beschluss der Krise. Großveranstaltungen sind ab sofort verboten. Die Zahl der täglichen Neuinfektionen liegt mit 19 auf dem bisherigen Höchststand.

 

13. März:

Ines Brandtjen hat einen Tagesurlaub. Sie fährt mit ihrer Cousine an den Silbersee in Wehdel. Es geht ihr gut. Die Chemotherapie macht sie weniger müde.

Der Senat beschließt, Schulen und Kitas zu schließen. Die Zahl der Neuinfektionen liegt bei 43. „Es geht darum, jeden Kollateralschaden zu vermeiden“, sagt Bürgermeister Peter Tschentscher. 

Das UKE hat einen Corona-Newsletter an die Belegschaft aufgesetzt. Die Leitung appelliert, „weiterhin Ruhe zu bewahren“. Eine Testung aller Mitarbeiter sei „nicht sinnvoll“. Ein Abstrich werde nur bei starken Symptomen oder nach Reisen in Risikogebiete genommen. „Wenn Sie (...) nur leichte Kopf- oder Halsschmerzen haben, müssen die Kolleginnen und Kollegen in der Ambulanz leider eine Testung ablehnen.“ Zur Frage, ob alle Mitarbeiter eine Maske tragen sollten, lautete die Antwort schon zuvor: Nein, für die Wirksamkeit gebe es „keine hinreichenden Belege“.

Die Ärzte im UKE befürchten auch eine Überreaktion in der Bevölkerung. Wenn sie aus Sorge vor Corona nicht mehr zu dringend nötigen Behandlungen ins Krankenhaus kämen, wäre das fatal. 

 

15. März:

Die Tochter von Anne-Christa Falk ist zum letzten Mal zu Besuch auf Station C5B. „Was macht die Außenwelt?“, fragt ihre Mutter immer. Sie sprechen über den Wahnsinn, der sich draußen entfaltet. Anne-Christa Falk sagt: „Ich habe keine Angst vor Corona.“ Der Betrieb auf  der Station läuft nach dem Eindruck ihrer Tochter unverändert.

Auf der anderen Seite des Stockwerks, in C5A, schickt Ines Brandtjen einer Freundin eine Sprachnachricht per WhatsApp. Sie sagt, wenn sie sich anstecken würde, könnte sie wohl sterben. „Keine Ahnung, aber ich gehe nicht davon aus, dass wir jetzt Corona bekommen. Wenn du isoliert bist … Da kannst du auch darüber nachdenken, von einem Meteorit getroffen zu werden.“

Der Senat verbietet alle Versammlungen, lässt Kinos, Museen, Fitnessstudios und Schwimmbäder schließen.

 

16. März:

Im „Onkotower“ des UKE gibt es drei Aufzüge und auf jedem Stockwerk einen gemeinsamen Raum für die Mitarbeiter beider Stationen. Die Klinik hat dafür strenge Auflagen erlassen, mit Abstandsregeln und maximaler Personenzahl. Ob sich daran gehalten wurde, wird später kaum nachzuvollziehen sein.

In den Pausen reden die Schwestern über Corona, einige können nicht recht verstehen, warum weder Patienten noch Mitarbeiter regelhaft getestet werden. „Sollte man nicht meinen, wir sitzen direkt an der Quelle?“, sagt eine von ihnen. Sie sagt aber auch, das UKE sei ein „großer Tanker“. Viele der Chefärzte bekäme man als kleines Licht praktisch nicht zu Gesicht, genauso wie die Task Force. „Manchmal ist es dann Zufall, wann ein Problem das richtige Gremium erreicht.“

Fast der gesamte Einzelhandel wird geschlossen.

 

17. März:

In einem Zimmer im fünften Stock der Onkologie hustet ein junger Patient und hat Fieber. Das gehört zum Alltag auf der Krebsstation, zu empfindlich sind hier die Kranken. Aber in diesem Fall kommt schnell ein Verdacht auf. Der Mann ist erst vor Kurzem aufgenommen worden.  Auch sein Zimmergenosse zeigt Symptome. Es werden Abstriche genommen.

Der Sohn von Anne-Christa Falk besucht seine Mutter. Als er das Zimmer verlässt, um das Wasser für die Blumen auszutauschen, spricht ihn ein Pfleger an. „Bitte verlassen Sie umgehend die Station.“ Der Angehörige versteht nicht warum, aber mehr wird ihm nicht gesagt. Er sieht seine Mutter nie wieder.

Im Hamburger Rathaus sagt Bürgermeister Tschentscher, es sei „notwendig“, viele Corona-Erkrankungsfälle zu haben. So könnte sich das Immunsystem der Hamburger „gegen das Virus aufstellen“. Der studierte Labormediziner arbeitete einst selbst im UKE.

 

18. März:

Ines Brandtjen hat eine neue Freundin gefunden: Babette Grosch, eine elegante Dame Anfang 60, durch ihren Weinladen ist sie in Hamburg-Ottensen eine kleine Berühmtheit. Sie kommen auf dem langen Flur der Station C5A ins Gespräch, den die Patienten als Laufstrecke nehmen, um in Bewegung zu bleiben. „Ines hat eine Art, einem zu helfen, sie plaudert da einfach drauflos und verbreitet gute Laune“, sagt Grosch später. Es ist das, was man am dringendsten brauche, als Patient auf einer Krebsstation.

Als beide am Abend in ihren Zimmern sind, kommen noch Schwestern herein. Sie nehmen einen Corona-Abstrich. Und einen zweiten. Ob es einen konkreten Anlass gebe, sagen sie nicht.  Dass der Befund bei den beiden Männern im selben Stockwerk positiv war, auch nicht.

 

19. März:

Lockdown. Besuch ist nach städtischer Verfügung ab sofort verboten. In der Onkologie klingelt das Telefon ständig, die Angehörigen haben viele Fragen. Die Tochter von Niels Boldt sagt, sie verstehe das nicht, Handwerker, Postboten und ein Haufen anderer Leute würden doch noch aus- und eingehen. Sie würde sich auch testen lassen. Sie kommt nach ihrem Vater, der ihr seit Kindestagen immer sagt: „Kann ich nicht gibt es nicht – und will ich nicht will ich nicht hören.“

Auf der Station C5A herrscht Aufregung. Auch bei zwei Mitarbeitern der Onkologie ist der Test positiv ausgefallen. Das UKE teilt die Fälle dem Gesundheitsamt mit, jeweils einzeln und nach dem Wohnort des Patienten. Das Gesundheitsamt Nord, im Falle eines Ausbruchs zuständig, erfährt nichts.

Ein Teil der Belegschaft wird ausgetauscht. „Die machen einen ängstlichen Eindruck“, notiert Babette Grosch. Ines Brandtjen schreibt in ihr Tagebuch: „Wenig schöner Tag heute. Alle sind super sensibel wegen – ich mag es kaum aussprechen – Corona. Dessen Name man nicht aussprechen darf.“ Es hat sich herumgesprochen, dass es positive Tests gab.

 

20. März:

Ein krebskranker Patient liegt auf der Station für Privatpatienten und schläft mit einem Schal vor dem Gesicht. Am Tage läuft er mit seinem Infusionstropf so viel es geht über die Station, er will keine Sekunde länger im Zimmer liegen als nötig. Er hat Sorge, dass sein ständig hustender Nachbar –  oder jemand anderes auf der Station – Corona hat. Er hat die Schwestern gefragt, ob er nicht getestet werde. „Wenn Sie Symptome zeigen, werden wir schon einen Abstrich nehmen“, hätten sie ihn abgekanzelt, berichtet der Mann später. 

Das Robert-Koch-Institut (RKI) schreibt an diesem Tag auf seiner Website, die Inkubationszeit des neuartigen Coronavirus liege „im Mittel bei 5–6 Tagen“. Eine Ansteckung erfolge „im Allgemeinen“ erst nach Auftreten der Symptome. Das stimmt nicht. Schon Anfang März war in einer Studie von früherer Übertragung die Rede. „Der Fakt, dass asymptomatische Personen potenzielle Quellen für 2019-nCov-Infektionen sind, könnte eine Neubewertung der Übertragungsdynamik rechtfertigen“, schreiben deutsche Wissenschaftler im „New England Journal of Medicine“. Zu den Autoren gehört auch der Berliner Virologe Christian Drosten.

Das UKE meldet der zuständigen Wissenschaftsbehörde die Infektionsfälle in der Onkologie. Von einem möglichen Ausbruch ist nicht die Rede. Es gibt auch keine weiteren Rückfragen dazu.

 

21. März:

Die Tochter von Anne-Christa Falk ruft mehrfach im Schwesternzimmer an. Sie erreicht ihre Mutter nicht mehr. Diese wurde verlegt, in das Bett am Fenster ihres Zimmers. Die Pflegerin bringt das Diensttelefon hinüber. „Wir können dich leider nicht mehr besuchen, Mama“, sagt die Tochter. „Das ist schade“, sagt Anne-Christa Falk und schweigt einen Moment. Das Gespräch ist kurz.

Die leichte Chemotherapie habe sie gut überstanden, sagt die Schwester noch. „Heute morgen hat sie nicht so gut gegessen“, das werde man im Blick behalten. Von Coronafällen sagt sie nichts.

 

 

 

22. März:

Ines Brandtjen sagt ihren Eltern am Telefon, die Lage sei ruhig. In ihr Notizbuch schreibt sie: „Hallo Tagebuch, wie geht’s? Mir geht’s ok. Ich fange nicht instantly an zu weinen. Heute X-Faktor angucken, eventuell mit Mirko skypen, Harry Potter gucken, singen. Nicht vergessen: We are all equal! LG, Ines.“

Auch private Feierlichkeiten sind jetzt verboten.

 

23. März:

Das UKE veranlasst, dass alle Patienten bei der Aufnahme in der Onkologie auf Covid-19 getestet werden. Dabei sind Test-Kits in der ganzen Stadt spärlich. Allein bei der Hotline 116 117 gehen pro Tag bis zu 20.000 Anrufe ein. Es wird zwei Tage dauern, bis die regelhafte Testung im UKE funktioniert. Die Mitarbeiter werden nicht routinemäßig getestet. Die Kosten dafür will der Staat auch nicht übernehmen. Alle Mitarbeiter müssen jetzt doch einen Mund-Nase-Schutz in klinischen Bereichen tragen.

 

24. März:

Mariam S.* sorgt für Sauberkeit in der Onkologie, aber ist offiziell beim Subunternehmen KSE angestellt. Die Reinigungskräfte werden dort nach gesetzlichem Mindestlohn bezahlt, aber Pfleger meinen, sie seien trotzdem arm dran. Einer sagt: „Und abends müssen zwei kleine Damen allein alles durchfeudeln.“ Eine Kollegin meint: „Die wechseln oft täglich die Stationen.“ Weder das UKE noch der Senat dementieren das später. „Die Wechselintervalle des Reinigungspersonals sind abhängig vom jeweiligen Einsatzort“, heißt es.

Alle Gesichter könne man sich im UKE ohnehin nicht merken, sagen Mitarbeiter. Da sind Ärzte, Pfleger, Psychologen, Physiotherapeuten, Handwerker, Freiwillige. Manchmal trifft man sich im Fahrstuhl oder den Pausenräumen.

Mit 248 Neuinfektionen meldet Hamburg die bis heute höchste Zahl von Neuinfektionen an einem Tag. Die Stadt ist ein bundesweiter Corona-Hotspot.

26. März:

Niels Boldt macht sich fit, die Angeschlagenheit stört ihn. Mit dem Gehwagen startet er kleine Ausflüge über den Flur der Station C6B. Er will nach Hause, so schnell es geht. Seine Tochter ist zurückhaltend. Zuletzt wurden 207 neue Infektionen in Hamburg an einem einzigen Tag gemeldet. „Wenn du irgendwo sicher bist, dann im UKE“, sagt sie. Später am Tag wird ein Corona-Test gemacht. Er ist negativ. Von dem Geschehen auf der Station im Stockwerk unter ihm wissen Boldt und seine Familie nichts.

Die Schulschließungen werden bis 19. April verlängert. Bürgermeister Tschentscher entwickelt sich zu einem der vorsichtigsten Ministerpräsidenten.

Der enorme Verbrauch an Masken bereitet der UKE-Klinikleitung Sorge. Die Mitarbeiter werden ermahnt, sie nur „in den klinischen Bereichen zu tragen, nicht darüber hinaus“.

 

27. März:

Jeden Tag um 14 Uhr haben Ines Brandtjen und Babette Grosch ein Date. Sie treffen sich im Gemeinschaftsraum, dann spielen sie Schach und reden dabei, mehr über das Leben als die Krankheit. Manchmal gehen sie auch in die Sport- und Musikräume am Eingang der Station, strampeln auf einem Ergometer und singen, etwa „Bohemian Rhapsody“ von Queen.

    Einmal kommt eine Schwester; sie denkt, es ist etwas Schlimmes passiert, und die Frauen lachen Tränen.

 

28. März:

Die Kinder von Anne-Christa Falk haben  eine Arbeitsteilung. Der Sohn ruft sie täglich an, redet mit den Schwestern, die Tochter sucht einen Platz in der Kurzzeitpflege am Telefon. „Wir haben Aufnahmestopp“, hört sie von mehreren Einrichtungen. Dann findet sie doch in einer schönen Einrichtung an der Elbchaussee einen Platz für ihre Mutter. Es wird ein negativer Corona-Test bei der Aufnahme verlangt. Aber in gut einer Woche, am 6. April, soll es so weit sein.

 

30. März:

Niels Boldt macht Fortschritte. Er ruft die PR-Agentin seiner Kosmetikfirma in Schenefeld an, sagt: „Du, ich habe schon 100 Meter mit dem Rolli geschafft! Mich ärgert das ja, aber es läuft.“ Die Familie hat ausgedruckte Bilder von sich beim UKE abgegeben, die Pfleger sie dann liebevoll im Zimmer von Niels Boldt auf einer Leine aufgehängt. Seine Enkeltöchter fragen ständig nach ihm.  

 

31. März:

Babette Grosch hat schon seit Tagen starken Husten. Das könne an der Chemotherapie liegen, sagen die Pfleger. Sie macht sich keine Sorgen, aber die tägliche Schachrunde fällt aus. Als eine Freundin am Telefon sagt, dass sie doch hoffentlich kein Corona habe, sagt Babette Grosch im Scherz: „Du alte Hunke, nun mach mir mal keine Angst.“

 

1. April:

Der Ältere der beiden Zimmergenossen, die am 18. März positiv getestet worden sind, ist verstorben. Der Todesfall wird erst vier Monate später auf Anfrage des Abendblatts bekannt. Es habe damals und heute keinen Beleg für ein Zusammenhang zum späteren Geschehen gegeben, wird es dann heißen.

 

2. April:

Um 11.02 Uhr ruft eine Gesundheitsschwester die Tochter von Niels Boldt an und hinterlässt eine Nachricht. „Es geht ein bisschen schon um die Entlassungsplanung und die Frage, ob Sie Hilfsmittel benötigen, beispielsweise einen Rollator. Da würde ich gern mit Ihnen sprechen.“ Der Patient wurde für die Nachsorge schon auf Station C6A verlegt.

Anton B.* leistet wie jeden Tag engagiert seinen Freiwilligendienst, hilft den Schwestern beim Bettenmachen und der Essensausgabe. Die Corona-Pandemie macht ihm Sorgen, er versucht sich so vernünftig zu verhalten, wie es geht. Er trifft keine Freunde mehr und besucht nicht seine Eltern. Es geht ihm gut an diesem Tag, zumindest fällt niemandem etwas anderes auf.

Babette Grosch hat Mühe, Luft zu bekommen, ihre Lunge rasselt. Sie hofft, dass es sich bald wieder legt.      

 

3. April:

Der Block ist geschafft, Ines Brandtjen wird entlassen. Es soll eine kurze Verschnaufpause geben vor der Zielgeraden, die Krebszellen in ihrem Blut sind bereits seit Längerem unter der Nachweisbarkeitsgrenze. In sechs Wochen, so der Plan, wird die Chemotherapie beendet sein. Noch anderthalb Jahre wird Ines Brandtjen dann Medikamente nehmen müssen, zur Kontrolle gehen, aber sie wird geheilt sein. Am späten Vormittag kommt sie zu Hause an. Es ist, als wäre sie nie weg gewesen.

Der Freiwillige Anton B. ist nicht zur Arbeit erschienen. Ihm geht es elend.  Er ruft an, schildert seine Symptome, die Vorahnung ist sofort da. Er soll umgehend auf Corona getestet werden.  

 

4. April:

In der ARD-„Tagesschau“ sprechen sich renommierte Virologen dafür aus, mehr Corona-Infektionen zuzulassen. Sie propagieren das Ziel einer Herdenimmunität. Der UKE-Professor Ansgar Lohse, Leiter des Instituts für Innere Medizin und der Infektiologie, fordert eine schnelle Öffnung der Kitas. „Wir können es nicht vermeiden, dass Kinder und Jugendliche das Virus sehen werden.“

 

5. April:

Anton B. hat Corona, das haben zwei Tests bestätigt. An diesem Sonntag schaltet das UKE in den Krisenmodus. Zunächst werden alle Patienten und Mitarbeiter auf den Stationen C5A und C5B getestet und die Abstriche analysiert.

Bei Anne-Christa Falk ist das Ergebnis „schwammig“, wie ein Arzt ihrer Tochter am Nachmittag sagt.

Babette Grosch wartet in ihrem Zimmer, bis um 23 Uhr die Pfleger reinkommen. Der Test war positiv, sagen sie.  Sie setzen der Frau eine Schutzmaske auf, wickeln einen Plastiküberzug über das Bett und schieben es samt der Frau aus dem Zimmer. Die Station 4A ist das Ziel. Dort wurde eilig eine spezielle Quarantänestation eingerichtet. Auch bei sechs weiteren Patienten hat sich der Verdacht bereits bestätigt.

Noch bei ihrer Aufnahme sagt Babette Grosch den Ärzten, dass Ines Brandtjen so schnell wie möglich benachrichtigt und getestet werden müsse. Das sei Sache des Gesundheitsamtes, ist die Antwort.  

 

6. April:

Das UKE informiert das Gesundheitsamt Nord per Fax über die bestätigten Fälle. Alle Schritte nach Protokoll seien eingeleitet worden, betont das UKE später. Auch im sechsten Stock der Onkologie, wo Niels Boldt liegt, wird getestet.

Die Tochter von Anne-Christa Falk ruft das Heim an der Elbchaussee an, in das ihre Mutter ursprünglich an diesem Tag verlegt werden sollte. „Wir müssen alles erst mal verschieben.“ Ihr Sohn versucht, einen Arzt an das Telefon zu kriegen. Es dauert bis zum Nachmittag. Dann erfährt er das Ergebnis, sie ist infiziert. „Einen Ausbruch haben die aber nicht erwähnt, gar nichts“, sagt er später.

Das Gesundheitsamt erhält eine knappe tabellarische Übersicht der Betroffenen. Die Faxe mit den Einzeldaten müssen gescannt und in das IT-System eingespielt werden. Die Mitarbeiter sind selbst am Limit, vieles wird handschriftlich notiert. Die nächsten Tage werden sie beschäftigt sein, immer weitere Abfragen an das UKE zu stellen, um ein vollständiges Bild der Lage zu gewinnen.    

Unter den Infizierten ist auch Mariam S. – sie war einem Arzt aufgefallen, weil sie schweißnass und mit glasigen Augen noch auf Station geputzt hatte. Sie soll befürchtet haben, sonst ihren Job zu verlieren. Später wird gegen sie eine Strafanzeige erstattet –  wegen versuchten Mordes. Das UKE wird erklären, alle Mitarbeiter mit ausreichend Schutzkleidung versorgt und sie geschult zu haben. Beim Reinigungspersonal habe die Tochterfirma KSE auch sprachlichen Defiziten „durch zusätzliche Maßnahmen“ Rechnung getragen.

 

7. April:

Die Tochter von Niels Boldt will mit einem Arzt über das allgemeine Befinden ihres Vaters sprechen. Sie wird von einer Schwester vertröstet.

        Am Mittag erreicht sie eine gestresste Ärztin. Diese windet sich, sagt schließlich, es habe sich „ein neuer Sachverhalt ergeben“. Niels Boldt sei an Covid-19 erkrankt. „Wie bitte?“, fragt die Tochter von Niels Boldt zurück. Sie ist sofort besorgt, vor allem wütend. Wie kann das sein? Das könne man nicht sagen, meint die Medizinerin, aber ihr Vater zeige keinerlei Symptome.

„Corona, sag mal, was bedeutet das denn jetzt?“, sagt Niels Boldt zu seiner Tochter, als sie kurz darauf telefonieren. „Gar nichts“, sagt seine Tochter. Das stehen wir jetzt auch noch durch.“

Es werden weitere Patienten auf die Covid-Isolierstation verlegt. Anne-Christa Falk zeigt keine Symptome, sagen die Ärzte ihren Kindern. Es gehe ihr gut.

Erreichen können sie sich nicht. Das Telefon an ihrem Bett funktioniert nicht.

 

8. April:

In Form mehrerer Listen teilt das UKE dem Gesundheitsamt die wachsende Zahl von Betroffenen mit. Es müssen Kontaktpersonen ermittelt, benachrichtigt und getestet sowie mögliche weitere Infektionsketten gekappt werden. Aber das Gesundheitsamt Nord benötigt weitere Daten und Unterlagen. Es hat weder die Gesundheitsbehörde noch den Senat bislang informiert.

Die Deutsche Post bringt einen Brief für Anne-Christa Falk zu ihrer Wohnung. Das Gesundheitsamt Altona teilt mit, dass sie positiv auf Corona getestet worden ist – und sich in häusliche Quarantäne zu begeben habe. Ihre Tochter ist irritiert, als sie das Schreiben findet. Ihre Mutter ist weiter nicht erreichbar.

Babette Grosch hat immer größere Probleme beim Atmen, die Werte sinken. Ines Brandtjen hat niemand Bescheid gegeben. Sie fährt zur Kontrolle beim Hausarzt und genießt das Wetter, es sind 22 Grad.

Im UKE treten am Nachmittag die Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank und die Virologin Marylyn Addo vor die Presse. Addo sagt, die Lage im UKE sei „stabil, kontrolliert und ruhig“. Fegebank lobt das Klinikum als herausragend im Kampf gegen die Pandemie. Institutsleiter Lohse hat erneut die Öffnung von Schulen und Kitas gefordert.   

 

9. April:

Anne-Christa Falk zeigt weiter keine Symptome, aber ihr steckt die Chemotherapie in den Knochen. Ihre Kinder glauben, dass es ihr besser gehen würde, könnten sie bei ihr sein.

Die Tochter von Niels Boldt sagt ihrem Vater am Telefon: „Du hast da ja ein echtes Ferrari-Team um dich rum, das wird schon wieder.“ Er antwortet: „Ich stecke doch jetzt nicht den Kopf in den Sand.“ Er fühlt sich gut und vertreibt sich die Zeit mit seinem iPad.

Weil noch eine Kontrolle für den Leberwert Antithrombin-III fehlt, fährt Ines Brandtjen mit ihren Eltern in die UKE-Krebsambulanz. Ein Arzt erwähnt nebenbei etwas von Coronafällen in der Onkologie, aber er wisse nichts Genaues.

 

10. April:

Karfreitag. Unangekündigt erscheint ein Mitarbeiter des Gesundheitsamtes zur Kontrolle im UKE. Alle Standards werden eingehalten, die Patienten sind isoliert, die betroffenen Mitarbeiter in häuslicher Quarantäne. 

Ines Brandtjen malt mit einer Freundin zu Hause Ostereier an, sie tragen beide einen Mundschutz und sitzen weit auseinander. Zwischendurch greift die 21-Jährige zum Handy. Per Whats­App fragt sie Babette Grosch, ob sie mehr zu den Corona-Infektionen wisse.

Babette Grosch: „Das stimmt, ich liege auf der Intensiv mit 2 Herren.“ Aber es ginge ihr besser, bald habe sie es geschafft. Ob man sie nicht informiert habe. Ines Brandtjen verneint. 

„Das ist nicht in Ordnung, ich hatte hier bei der Einlieferung gefragt, sie wollten sich um alles kümmern. Frag gleich nach. Wg. Schachspielen, wir haben ja dicht beieinander gehockt.“

Auf Nachfrage beim UKE wird Ines Brandtjen erfahren, dass man sie schon testen werde, am Dienstag nach Ostern. 

 

11. April:

Das UKE hat der Tochter von Niels Boldt angekündigt, ihren Vater zu entlassen, sobald das Virus nicht mehr nachweisbar sei. Ein Gehwagen steht schon am Haus des Nachbarn bereit. Er wird es hassen, denken seine Frau und seine Tochter, aber es ist ja nur für die erste Zeit. Und der Traum von Las Vegas lebt.  

 

13. April:

Ostermontag. Es ist ein mühsamer Tag für Niels Boldt, das Atmen fällt ihm schwer. Er solle ordentlich essen und sich so gut es geht bewegen, sagt seine Tochter. „Will ich ja, will ich ja“, sagt Niels Boldt. Anne-Christa Falk ist weiter nicht für ihre Familie zu erreichen.  

 

 

14. April:

Ines Brandtjen meldet sich zurück beim UKE, zu ihrem vorletzten stationären Aufenthalt. Es wird ein Abstrich genommen. Diesmal bekommt sie ein Zimmer auf Station C5B und richtet sich ein.

Niels Boldt bekommt noch schlechter Luft. Auf Nachfrage sagen die Ärzte seiner Familie, dass sie ihn auf die Intensivstation verlegen wollen, vor allem vorsichtshalber. Er könne dort sanft beim Atmen unterstützt werden. Von einer Intubation ist keine Rede.

Im Rathaus spricht Bürgermeister Peter Tschentscher über eine „Exit-Strategie“ aus dem Lockdown, er ist vorsichtig optimistisch. Die Infektionszahlen gehen zurück.

Am frühen Abend macht der „Spiegel“ den Ausbruch öffentlich. 20 Mitarbeiter und 20 Patienten seien betroffen. Eine Flut von Anfragen geht beim UKE ein und bei den Pressesprechern der Behörden. Sie haben den Artikel selbst erst per Mail geschickt bekommen und an den Bürgermeister weitergeleitet. 

 

15. April:

Pressekonferenz im UKE. Der Chef der Onkologie, Carsten Bokemeyer, wirkt alles andere als besorgt. Sondern sagt, es gebe eine ganze Reihe von „positiven Nachrichten“. Nur drei Betroffene des Ausbruchs lägen noch auf der Intensivstation, die meisten seien schon wieder so stabil, dass man mit der Krebsbehandlung fortfahren könne. Er sieht das Geschehen als eine Art Testlauf. „Die Kombination aus Krebs und Covid-19 werden wir häufig sehen in der nächsten Zeit.“ Daher sei es wichtig, „die Behandlungswege dafür jetzt schon vernünftig zu erproben“.

Der Chef der Krankenhaushygiene betont, man habe sich strikt an die Empfehlungen des RKI gehalten. Und der Leiter des Pflegemanagements, Joachim Prölß, verkündet: „Aus unserer Sicht haben wir die Situation sehr, sehr gut gemanagt.“ Dass es schon vor fast einem Monat die ersten Fälle und auch bereits einen Todesfall gab, erwähnen sie nicht. 

 

16. April:

Die Tochter von Niels Boldt sieht die Aufzeichnung nachträglich an. „Was würden die wohl sagen, wenn es ihr Vater wäre?“, sagt sie zu ihrer Mutter. Die Ärzte haben ihren Vater verlegt und gesagt, er sei weiter sehr stabil. Es gehöre aber zum Wesen einer Intensivstation, dass sich das manchmal schnell ändere.

Anne-Christa Falk zeigt weiter keine Symptome, aber kann kaum reden. Am Telefon spricht ihr der Sohn Mut zu; dass sie Corona hat, weiß sie nicht.

Ines Brandtjen steckt wieder in der Chemotherapie. Es zieht ihr die Kraft aus den Muskeln, sie ist müde, aber erleichtert über den negativen Corona-Test. Sorge, dass das Virus weiter auf der Station kursieren könnte, hat sie nicht.

 

17. April:

Die Ehefrau von Niels Boldt ist mit den Hunden unterwegs, sie will ihren Mann erreichen, ihm zeigen, was draußen auf ihn wartet. Per FaceTime ruft sie ihn auf dem iPad an. Das Bild ist krisselig, sie versuchen zu sprechen, aber der Empfang ist zu schlecht. Sie sieht das Gesicht des Pflegers, er guckt entschuldigend, dann bricht die Verbindung ab. Sie kann nicht wissen, dass es die letzte Chance war, ihn wach und lebendig zu sehen.       Ines Brandtjen organisiert ein „Krimi Dinner“ aus der Quarantänestation,  über Skype, mit ihren Freunden: „Das 13. Testament des Herrn Buchholz“. Für diese Stunden ist Covid-19 weit weg.  

 

18. April:

Die Ärzte wollen Anne-Christa Falk einer zweiten Chemotherapie unterziehen. Wenn nichts geschehe, werde der Krebs wuchern. Und die Covid-19-Erkrankung sei unauffällig, die Inkubationszeit bei Risikogruppen bis zu sechs Wochen lang. Ihre Tochter ist skeptisch. 

 

 

19. April:

Die Sauerstoffwerte von Niels Boldt sind auf ein kritisches Niveau gesunken. Sie wollen ihn intubieren. Am Telefon klingen die Ärzte positiv. Es soll Druck von der Lunge des Mannes nehmen. Für seine Angehörigen ist das einleuchtend. Die Ärzte sedieren ihren Vater mit Propofol.

Am letzten Tag ihrer Chemotherapie wacht Ines Brandtjen mit einer Reihe von Beschwerden auf. Sie hat Fieber und atmet schwer.

Das UKE gibt in einer Pressemitteilung erstmals den Tod eines betroffenen Krebspatienten bekannt. Er habe an einer „fortgeschrittenen, bösartigen Blutkrebserkrankung und einem Covid-19-Infekt“ gelitten. „Unser Mitgefühl gilt den Hinterbliebenen.“

 

20. April:

Vertreter der Behörden und des UKE treffen sich zum Krisengespräch. Der Senat ist verärgert darüber, dass das UKE nicht schon nach den ersten vier Fällen im März einen Ausbruch gemeldet hat. Dass die Politik nun selbst in der Kritik steht, den Vorgang nicht öffentlich gemacht zu haben.

Die Klinik argumentiert streng formal. Man habe die Richtlinien des RKI befolgt. Tatsächlich waren die ersten vier Fälle im März danach nicht zwingend als Ausbruch einzustufen. Inzwischen sind die Regeln geändert worden.

Die Ärzte seien sehr sachlich und hervorragend vorbereitet in dem Gespräch aufgetreten, sagt ein Teilnehmer später. „Nur diese Vogel-Strauß-Mentalität, die hat man nicht verstanden.“

Ines Brandtjen ruft ihre Eltern an, ein erneuter Test war positiv, sie liegt bereits auf der Quarantänestation. „Ich hab Corona“, sagt sie, als wäre es keine große Nachricht. Ihrer Freundin Babette gehe es inzwischen auch wieder gut.

Ines Brandtjen verbringt die Tage mit Kochsendungen und schreibt mit Freundinnen. „Ich denk, dass es vom Personal kommt oder so. Ich verstehe das alles nicht.“ Eine Krankenschwester habe gesagt, der erste Test sei vielleicht fehlerhaft gewesen. Das ist bei jedem fünften Abstrich so, sagen Studien.  

 

21. April:

Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks übt im Rathaus erstmals Kritik am Krisenmanagement des UKE. Das zentrale Versäumnis der Klinik sei gewesen, die Fälle von infizierten Patienten und Mitarbeitern „nicht zusammengedacht“ zu haben. Im UKE werden die Worte verschnupft zur Kenntnis genommen. Eigentlich hatte man sich auf eine gemeinsame Sprachregelung geeinigt. Auf seiner Website schreibt das Klinikum, das Gespräch mit der Behörde habe ergeben, dass alle Betroffenen richtig isoliert und alle Fälle richtig gemeldet worden seien.

Ines Brandtjen macht sich auf ihrem Laptop schlau über Covid-19. Nach acht bis zehn Tagen könne es einen Krankheitsschub geben, steht da. Dasselbe lesen ihre Eltern daheim. Sie haben Angst, ihre Tochter ist – zumindest am Telefon – fröhlich wie immer. 

Bei Anne-Christa Falk hat die erneute Chemotherapie begonnen.

 

22. April:

Bei der Visite habe der Klinikdirektor der Onkologie von einem „erfreulichen klinischen Verlauf“ bei Niels Boldt gesprochen, sagen sie der Tochter am Telefon.     Die Eltern von Ines Brandtjen stehen zum Wäschewechsel vor dem UKE. Sie müssen an einem kleinen Häuschen warten, dann kommen die Schwestern mit dem großen Wagen. Namen werden aufgerufen, dann gehen die Angehörigen zwei Schritte vor, nehmen einen Sack mit dreckiger Wäsche mit und legen frische hinein. Es ist alles, was sie für ihre Tochter tun können. 

Pressekonferenz im UKE. Zunächst sprechen der Vorstandsvorsitzende Burkhard Göke und der Institutsdirektor Ansgar Lohse noch einmal über die Geschehnisse auf der Onkologie, versprechen Transparenz und eine wissenschaftliche Aufklärung. Später gehen sie zur Debatte um die Lockerungen der Corona-Verbote über.

Je länger die Pressekonferenz dauert, desto mehr geraten beide in Plauderlaune. Im letzten Drittel machen sie auch Witze über Fußball. Für Schalke 04 sei eine verpflichtende Abstandsregelung bestimmt gut, die seien doch eh immer weit weg vom Gegenspieler.

 

23. April:

Die Ärzte reduzieren die Sedierung von Niels Boldt, aber er kehrt nicht so nah an das Bewusstsein zurück wie erwartet. Sie führen eine Computertomografie seines Gehirns durch. Am Abend steigt sein Sauerstoffbedarf wieder deutlich. 

Ines Brandtjen geht es gut, sagt sie ihren Eltern, nur der Husten plagt sie. Aber der Sauerstoffgehalt in ihrem Blut sinkt – immer weiter in Richtung eines kritischen Niveaus.

 

24. April:

Das UKE meldet den Tod einer zweiten betroffenen Krebspatientin nach dem Ausbruch, einer 59 Jahre alten Frau.

 

25. April:

Ihre Freundin Babette Grosch hat gehört, dass Ines Brandtjen selbst auf der Quarantänestation liegt. Wie könne das sein? Die junge Frau reagiert nicht. „Ines?“, schreibt Babette Grosch hinterher, mit einem roten Herz dahinter. Wieder keine Reaktion.

Hamburg meldet 15 Corona-Tote, die höchste Zahl an einem einzigen Tag.

Die Zahl der Mitarbeiter aus der Onkologie mit Covid-19-Infektion hat sich auf 40 verdoppelt. Seit dem 6. April hat es aber keine Ansteckung mehr gegeben.

 

26. April:

Niels Boldt kann Arme und Beine bewegen, er öffnet die Augen und ist ansprechbar, sagen die Ärzte. Seine Tochter fragt, wie lange eine Covid-19-Infektion dauere, wann es spätestens überstanden sei. Sie wissen es nicht. Die Unterschiede zwischen den Patienten sind zu groß. Und vieles noch unbekannt.

Um 16.35 Uhr schickt Ines Brandtjen ihrer Mutter eine SMS: „Das UKE ruft dich gleich an. Mach dir keine Sorgen.“ Nur Minuten später ist ein Oberarzt dran. Ihre Tochter wurde auf die Intensivstation verlegt, der Sauerstoffwert reichte nicht mehr aus. Über eine Nasensonde soll das Blut nun angereichert werden.

18.22 Uhr. Ines Brandtjen ist bereits an die Geräte angeschlossen, als sie ihre Mutter anruft. Sie hustet ständig, ihre Mutter versucht die Tränen zu unterdrücken.

Um 20.11 Uhr ist Ines Brandtjen das letzte Mal bei WhatsApp online. Sie antwortet auf die Nachricht ihrer Freundin Palina. Zuerst schreibt sie: „Hey ich bin leider seit heute Mittag auf der Intensivstation, wegen der Atemprobleme. Das Fieber ist dafür morgens merkwürdigerweise ausgeblieben.“

„Wird aber alles wieder“, schreibt sie eine Minute später. Ihr letztes bewusstes Lebenszeichen ist ein zwinkernder Kuss-Smiley.  

 

27. April:

Um 5.02 Uhr am Morgen rufen die Intensivärzte bei der Familie Brandtjen an. Es ging nicht anders, als die 21-Jährige ins künstliche Koma zu verlegen. Sie drehen Ines Brandtjen auf den Bauch, damit Sekret abfließen kann.

Auf den Computerbildern können die Ärzte die Virenherde in der Lunge von Niels Boldt sehen. Sie stellen auch eine Pilzinfektion fest. Sein Körper ist ein Haus, in dem die Tür offen steht. „Die Gesamtsituation der Lunge ist kritisch, aber nicht hoffnungslos“, sagen sie seiner Tochter. Sie gibt die Details nicht mehr an ihre Mutter weiter.

Das UKE meldet einen weiteren Todesfall eines Krebspatienten, eines 47 Jahre alten Mannes.

Hamburg führt nach anfänglicher Ablehnung nun doch eine Maskenpflicht in ÖPNV und Einzelhandel ein. 

 

28. April:

Im Frühstücksfernsehen wird der grüne Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer  gefragt, ob die harten Auflagen noch angemessen seien. „Ich sage es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten gerade möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären.“ Später entschuldigt er sich für die Aussage.

Gegen 13 Uhr melden die Ärzte, dass Ines Brandtjen kaum noch Sauerstoff aufnehmen kann. Sie wird an eine Lungenmaschine angeschlossen, in die ihr Blut geleitet, mit Sauerstoff angereichert und zurück in ihren Körper gepumpt wird. Am Abend beraten die Ärzte über das weitere Vorgehen. Sie wollen es auch mit Blutplasma probieren, von Corona-Patienten, die die Infektion bereits überstanden haben.

Der Zustand von Anne-Christa Falk verschlechtert sich plötzlich und rapide. Sie wird auf die Intensivstation verlegt und hat keine Reserven gegen das Virus. Der Bedarf der Sauerstoffzufuhr ist von 60 auf 80 Prozent gestiegen. Die Ärzte deuten an, dass sie es nicht schaffen könnte. Neben ihrem Bett steht ein Bild ihres Ehemannes.  

 

29. April:

Die Eltern von Ines Brandtjen stimmen der Blutplasma-Therapie zu. Die Erfahrung damit beschränkt sich auf 30 Fälle, die Ergebnisse waren wenig hoffnungsvoll, aber noch nicht aussagekräftig. „Bei den nächsten 30 könnte es gut anschlagen“, sagt eine Ärztin.

Der Zustand von Niels Boldt bessert sich. Die Ärzte planen, die Narkosetiefe zu verringern.

 

30. April: Anne-Christa Falk liegt im Sterben, die Möglichkeiten der Medizin sind ausgeschöpft. Die Ärzte bieten ihren Kindern an, nun doch ins UKE zu kommen. Um Abschied zu nehmen.     Ihre Tochter und ihr Sohn sprechen darüber, sie sind wütend, dass sie vor die Wahl gestellt werden. „Mama mit den Schläuchen überall, den Anblick vergessen wir unser Leben lang nicht.“ Ihre Tochter denkt, dass es vieles gibt, was sie sagen wollte, aber ihre Mutter sie nicht hören würde. Sie fahren nicht zum UKE.

    Nach einem Telefonat mit der Ärztin hat die Mutter von Ines Brandtjen geschrien. Mit ihrem Mann geht sie zum Hausarzt. Er verschreibt ihnen Bromazepam, ein Beruhigungsmittel. Zu Hause wählen sie die Nummer ihrer Tochter und sprechen auf die Mailbox. Die Nachricht wird ihr im künstlichen Koma vorgespielt. Ihr Zustand ist kritisch.

 

1. Mai:

Der Sohn fürchtet den Anruf schon den ganzen Tag, er kommt um 23.30 Uhr. „Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass ihre Mutter verstorben ist.“ Sie habe nicht leiden müssen. Ihr Sohn wartet noch bis zum Morgen, ehe er es seiner Schwester erzählt. Eine genauere Erklärung der Ärzte gibt es nicht.

    Das UKE meldet den Tod einer weiteren Betroffenen: eine 71 Jahre alte Frau.

 

3. Mai:

Der Oberarzt hat gute Nachrichten für die Familie Brandtjen. Die Beatmung konnte auf 75 Prozent zurückgefahren werden, im Schnelltest waren keine Viren mehr nachweisbar. „Ihre Tochter ist noch nicht über den Berg, aber die Kuppe ist in Sicht“, sagt er. 

 

 

4. Mai:

Eine Ermittlerin des LKA meldet sich bei Anne-Christa Falks Tochter: „Wir ordnen die Obduktion Ihrer Mutter an.“ Sie ist einverstanden. Ein, zwei Tage brauchte sie, um die Nachricht zu verarbeiten. „Dann kommen natürlich die Fragen wieder hoch, alle auf einmal“, sagt sie.

Sie holt an der Pforte des UKE die Sachen ab, die ihre Mutter im Krankenhaus hatte. Ihre Eheringe, das Bild ihres Mannes und 20 Euro in bar fehlen.  

 

5. Mai:

Der zweite Anlauf, Niels Boldt aus dem Koma zu holen, nimmt Formen an. Die Ärzte sprechen über einen Luftröhrenschnitt. Er bekommt ein neues Antibiotikum. Seine Tochter hat ihren Kindern gesagt, dass sie Opa wiedersehen. Sie spielen zu Hause ständig Krankenhaus, hören sich gegenseitig ab und geben sich unsichtbare Spritzen.

 

6. Mai:

Bei Niels Boldt wird ein Brust-Bauch-CT durchgeführt. Er hat große Mengen von Wasser im Bauch, sein ganzer Körper ist aufgeschwemmt. Sie müssen ihn punktieren, damit es abfließen kann.

       Bei Ines Brandtjen geht es weder auf- noch abwärts. Ihr Zustand ist „auf niedrigem Niveau stabil“.  

 

7. Mai:

Als eine weitere LKA-Mitarbeiterin sagt, die Obduktion sei noch nicht erfolgt, ruft Anne-Christa Falks Tochter beim Bestatter an. Sie fragt auch, ob er nachschauen kann, ob ihre Mutter die Eheringe noch trägt. Das darf er nicht. Die Corona-Auflagen. „Aber wenn es sein muss, bringe ich den Leichnam selbst ins UKE zurück“, sagt er. 

 

8. Mai:

Ihre Eltern dürfen zu Ines Brandtjen, gegen 14 Uhr sind sie am UKE. Sie müssen warten, weil noch eine Membran an der Lungenmaschine ausgetauscht wird. Sie vermummen sich, sprechen mit der Oberärztin. Anderthalb Stunden lang sitzen sie am Bett ihrer Tochter.

     Die Tochter von Anne-Christa Falk hört, dass ihre Mutter obduziert wurde. Sie bittet in der Rechtsmedizin um Rückruf. Es gibt keine Antwort. 

 

9. Mai:

Sonnabend. Die Tochter von Niels Boldt hat schon eine böse Vorahnung. „Immer am Wochenende ist es schlechter geworden.“ Sie müssen ihren Vater erneut punktieren, der Körper des Mannes ist aufgeschwemmt, von 70 auf mehr als 110 Kilogramm.

Das UKE meldet den Tod eines weiteren infizierten Krebspatienten, eines 62 Jahre alten Mannes. 

 

10. Mai:

Muttertag. Wieder sitzen die Eltern von Ines Brandtjen bei ihr. Über Spotify spielen sie ihre Musik, „Mary Poppins“ und eine Disney-Playlist. Hoffnung erfüllt ihre Mutter. „Es wird noch ein langer, schwieriger Weg, aber sie wird wieder gesund!“, sagt sie sich.

Die Tochter von Niels Boldt ist mit ihrer Mutter und den Kindern zu Hause, als eine UKE-Nummer auf ihrem Handy aufleuchtet. Sie geht auf die Terrasse. Es ist kritisch, sagt der Oberarzt. Man sei medikamentös und instrumentell am Limit. „Wir unterstützen die Heilung auf allen Wegen, aber mehr können wir nicht machen.“ Das Wasser drückt auf sein Herz und seine Lunge.

Es sei alles okay, sagt die Tochter ihrer Mutter, als sie fragt. Aber die sieht ihr das Gegenteil an. „Du verheimlichst doch etwas.“ Die Frauen ziehen sich zurück und reden. Sie glauben, er berappelt sich wieder. Das hat er immer getan.  

 

11. Mai:

Keine Rückmeldung aus der Rechtsmedizin. Die Tochter von Anne-Christa Falk fragt nach. „Sie brauchen hier gar nicht so oft anzurufen“, fährt sie eine Mitarbeiterin an. Man werde sich melden.

Am Abend beraten die Ärzte über den Zustand von Niels Boldt. Alle Hinweise deuten auf Leberversagen.

Um 19.30 Uhr ruft der Rechtsmediziner Klaus Püschel bei der Tochter von Anne-Christa Falk an, nachdem sie es noch einmal über seine Assistentin probiert hat. Die Rückrufnummer war falsch notiert worden. Er nimmt sich Zeit, fast eine Dreiviertelstunde reden sie. „Ihre Mutter war sehr krank“, sagt er. Aber nicht so sehr, dass ohne Corona jederzeit mit dem Ableben zu rechnen gewesen wäre. Am Ende bittet er sie, ihre Fragen aufzuschreiben und ihm zuzusenden. Er werde sie an die Klinik weiterleiten. Und er verspricht, auch nach den verlorenen Eheringen zu suchen.  

 

12. Mai:

Die Angehörigen dürfen Niels Boldt jetzt sehen. Um Abschied zu nehmen. „Es ist wirklich sehr, sehr ernst.“ Die Tochter gibt zurück: „Es war schon ein paarmal sehr, sehr ernst.“ Sie werden es sich überlegen. Mutter und Tochter gehen noch mal alles durch, von den letzten Fotos aus dem Krankenhaus im März bis zu diesem Tag. Sie erinnern sich an das Leuchten in seinen Augen, wie es nachgelassen zu haben schien, wenn man genau hinsah. Schon auf der Onkologie war es ihm unangenehm, so gesehen zu werden, schwach und hilfsbedürftig.

„Er hat mich immer beschützt“, sagt seine Ehefrau. Seine Tochter ist sicher, was der Wunsch ihres Vaters wäre. Sie fahren nicht ins UKE. Als die Kinder im Bett sind, geht die Tochter von Niels Boldt auf die Terrasse, schenkt sich ein Glas Rotwein ein und schaut in die Sterne. „Es soll so enden, wie es für ihn am besten ist“, sagt sie sich.

 

13. Mai:

Der Arzt der Frühschicht sieht die Daten von Niels Boldt, sagt am Telefon: „Es tut mir leid, aber es wird nicht mehr lange gut gehen.“ Um 13.03 Uhr verstirbt Niels Boldt. Kurz darauf ruft ein weiterer Arzt an, kondoliert aufrichtig, er sei friedlich eingeschlafen. Zwei Stunden später meldet sich auch der Chef der Stammzellentransplantation im UKE, ein hochdekorierter, sachlicher Mann. „Wie Sie sicherlich schon gehört haben, ist Ihr Vater ja heute verstorben.“ Der Tochter von Niels Boldt fällt vor Wut fast der Hörer aus der Hand, sagt sie später. Der Chefarzt will nur ausrichten, dass eine Obduktion keine Pflicht ist, weil Niels Boldt in Schenefeld gemeldet war.

„Er soll auf jeden Fall obduziert werden, auf jeden Fall“, sagt die Tochter.       An diesem Tag dürfen Gaststätten und auch große Geschäfte in Hamburg wieder öffnen. Auch Sport im Freien ist wieder erlaubt.

 

14. Mai:

Ines Brandtjen steckt in einem Teufelskreis, sagen die Ärzte. Ihre Lungen sind an den Spitzen eingefallen und verwundet. Um die Blutung zu stoppen, wurde der Gerinnungshemmer abgesetzt; dadurch wiederum droht die Lungenmaschine zu verstopfen. „Und wenn die Lungenmaschine versagt, ist es das Ende“, schreibt sich die Mutter von Ines Brandtjen auf.

Ein Pathologe meldet sich bei der Tochter von Niels Boldt. „Ist ja jetzt auch fast egal, ob er an oder mit Corona gestorben ist“, sagt sie. Er antwortet: „Nein, er ist definitiv an den Folgen von Covid-19 verstorben.“ Posthum könne man sehen, wie sich das Virus vom Hals durch den Körper gearbeitet habe, über Lunge und Niere bis in die Leber. Niels Boldt wird Teil einer Studie, in der dieser häufige Verlauf deutlich belegt wird.

 

15. Mai:

Die Ärzte haben eine Lösung gefunden, die Lungenmaschine am Bett von Ines Brandtjen funktioniert wieder. „Aber sie wandelt auf einem schmalen Grat“, sagt eine Ärztin. Eine Verschlechterung würde den Tod bedeuten.

 

17. Mai:

Die Kulturminister der Länder einigen sich auf die baldige Wiederöffnung von Theatern und anderen Kulturstätten unter besonderen Hygienebedingungen.

18. Mai:

Die Tochter von Niels Boldt versucht, alle Ärzte und Pfleger zu erreichen, mit denen sie im Lauf der Monate oft gesprochen hat. „Ich kannte Ihren Vater noch aus besseren Tagen“, sagt einer. Ein leitender Mediziner sagt, es werde ganz schwer, festzustellen, was nun der Grund war, wer verantwortlich ist. „Aber wenn Sie sich beraten lassen, lassen Sie sich gut beraten.“

Bei Ines Brandtjen ist die Prognose wieder besser. Der Familie wird der weitere Ablauf erklärt. Ihr Körper solle stetig entwässert und sie langsam aus dem Koma geholt werden. Das könne zwischen drei Wochen und drei Monaten dauern. Ihre Familie spielt ihr Lieder des „Eurovision Song Contest“ vor, ist so lange bei ihr, wie es irgendwie geht.

Die Ermittler des LKA tragen in einem Hochhaus am Überseering die bisherigen Erkenntnisse über den Ausbruch zusammen. Bei der Polizei sagen sie, es seien oft grundverschiedene Dinge, was menschlich empörend und was strafrechtlich relevant ist. Solche Fälle seien „ein dickes Brett“.

Das UKE meldet einen weiteren Todesfall: eine 57 Jahre alte Frau.

19. Mai:

Erstmals seit Beginn der Pandemie verzeichnet Hamburg keine einzige neue Corona-Infektion.

Im Briefkasten von Niels Boldt liegen Rechnungen, sie sind an ihn selbst adressiert. 6600 Euro fordert die Firma Unimed allein in einem Brief für privatärztliche Leistungen. Auch der Corona-Test am 7. April wird abgerechnet. Seine Frau hat keine Kraft, sie durchzusehen.  

20. Mai:

Den Eltern von Ines Brandtjen wurde gesagt, dass sie nicht mehr jeden Tag nach Eppendorf zu fahren brauchen. Die Eltern bleiben an diesem Tag zu Hause. Sie haben es als gutes Zeichen gewertet.

Nach dem Abendbrot meldet sich der Oberarzt. Ihre Tochter hatte Blutungen an der Einstichstelle des Katheters. Sie brauchte viele Blutkonserven. Später meldet sich eine Schwester. Die Entwicklung sei nicht gut.

Tochter und Sohn beginnen, die Wohnung von Anne-Christa Falk an der Museumstraße auszuräumen. Die Bilder der Familie lassen sie bis zuletzt an der Wand. Vom UKE gab es keine Rückmeldung.

21. Mai:

Am Mittag ist die Familie wieder im UKE. Ines Brandtjen hat unklare innere Verletzungen, die Ärztin kann den Angehörigen kaum Hoffnung machen. Abends fahren Ines’ Eltern kurz nach Hause.

Als sie gerade im Bett liegen, klingelt wieder das Telefon. Der Zustand hat sich dramatisch verschlechtert. Sie werde die Nacht kaum überleben. Sofort fahren die Eltern die 80 Kilometer zurück. 22. Mai:

Die Leber von Ines Brandtjen versagt. Da ist Blut im Urin, Blut in den Schläuchen. Sie bekommt weiterhin Blutplasma. Auch pumpen sie Noradrenalin in ihren Körper, aber es ist das Einzige, das ihren Kreislauf noch aufrechterhält.

Die Schwester Nathalie ist die ganze Zeit dabei, auch der Arzt kommt, der Ines Brandtjen ins Koma gelegt hatte. „Sie war sehr entspannt“, sagt er. Und habe noch gescherzt: „Aber ich werd nicht sterben, ne?“ Dann habe sie noch in ihren Terminkalender geguckt, ob sie Geburtstage von Freundinnen verpasse, solange sie im Koma ist.

Die Ärzte sagen, es sei an diesem Punkt der übliche Weg, die Patientin von der Zufuhr abzutrennen. Die Familie stellt sich an ihr Bett, spricht letzte Worte. Der Blutdruck sinkt. Die Familie hört, wie der Arzt hinter ihnen die Infusion abschaltet. Eine Minute lang ist es still, dann schrillt der Alarm des EKG. Um 11.49 Uhr hört ihr Herz auf zu schlagen.       Das UKE meldet den Tod von Ines Brandtjen und eines weiteren Betroffenen, eines 49 Jahre alten Mannes. 

26. Mai:

Die Rechtsmediziner wollen den Leichnam von Ines Brandtjen unbedingt obduzieren. Sie gehört zu den jüngsten Corona-Toten deutschlandweit. Er wolle aus ihrem Tod für die Lebenden lernen, sagt der Gerichtsmediziner Klaus Püschel der Familie am Telefon. Sie stimmen erst zu, aber widerrufen die Erlaubnis. Schon die Vorstellung, dass Ines im Leichensack beerdigt werden könnte, ist für sie unerträglich.

27. Mai:

Die Tochter von Niels Boldt sitzt mit ihrer Mutter im Konferenzraum ihrer Firma, auf allen Ablagen liegen Muster für Kosmetikprodukte, sie sprechen über ihre Ohnmacht und Niels Boldt. „Medizinisch war alles top, da kann man dem UKE keinen Vorwurf machen“, sagt die Tochter. „Aber die Infektion hätte gar nicht und niemals, niemals dort passieren dürfen. Dazu diese unfassbare Arroganz. Man fühlt sich verhöhnt.“

Ihre Mutter sagt, sie hat es vielleicht noch gar nicht realisiert, weil sie das Ding, das ihren Mann getötet hat, nie gesehen hat. „Man steht jetzt eben da, und es soll vorbei sein.“ Es fühlt sich an, als sei der Zug, in dem sie ihr ganzes Leben saß, auf einmal stehen geblieben. 

28. Mai:

Tochter und Sohn von Anne-Christa Falk haben die Stühle für das Gespräch sehr weit auseinander gestellt, ihre Stimmen hallen im ausgeräumten Wohnzimmer ihrer Mutter. „Das ist das, was sie uns geantwortet haben“, sagt sie und wirft den Brief hinüber, als wäre er das Papier nicht wert. Man bedaure den Tod ihrer Mutter, hat das UKE nach Wochen geschrieben. Auf keine einzige Frage der Frau sind sie eingegangen.

Sie haben Anwälte eingeschaltet. Es war das ganze Wesen ihrer Mutter, Ungerechtigkeiten nicht einfach zuzusehen. „Wenn sich jemand nicht anständig verhalten hat, war sie nicht mehr warm, sondern ganz deutlich“, sagt ihre Tochter. Diesem Vorbild wollen sie folgen.

28. Mai:

Bei der Aufbahrung müssen sie zwei Meter Abstand halten. Die Viruslast des Körpers sei noch extrem groß gewesen, haben die Rechtsmediziner gesagt. Ihre Mutter hat keine Kraft mehr zu schreien, kaum zu weinen, sie stehen einfach da.

29. Mai:

Trauerfeier für Ines Brandtjen in der Friedhofskapelle von Anderlingen. Der Pastor sagt, Ines Brandtjen sei wohl der Mensch „mit den geografisch am weitest entfernten Kochkursen“ gewesen, auf Bali und in Tansania. „Zumindest aus Anderlingen.“ Ihre Mutter lächelt mit Tränen in den Augen.

Eine Organistin spielt das Lied „Halleluja“. Babette Grosch, die wieder zu Hause ist, schaut auf ihrem iPad zu und ist ergriffen.

2. Juni:

Die Freibäder öffnen wieder. Die Online-tickets sind vielerorts schnell ausgebucht.

5. Juni:

Die Seebestattung von Niels Boldt. Seine Tochter spielt Lieder von ihrem Handy, die Playlist „Papas Tag“. Er mochte kraftvolle Musik, AC/DC, Queen, keinen Weichspülkram.

      Aber am besten passt für seine Tochter in diesem Moment „Das Leben ist schön“ von Sarah Connor. „Und wenn ihr schon weint / dann bitte vor Glück“, heißt es darin. „Dann bin ich da oben / und sing für euch mit“.

       Als auf dem Weg zur letzten Ruhestätte ihres Vaters die Sonne durch die Wolken bricht, ist das für seine Tochter ein Zeichen. Sie geht später erleichtert von Bord des Krabbenkutters.

13. Juni:

Sohn und Tochter von Anne-Christa Falk haben einen Anwalt eingeschaltet. Er macht ihnen aber keine Hoffnungen auf einen schnellen Erfolg.

17. Juni:

Der Vater von Ines Brandtjen geht wieder zur Arbeit. Er musste die Beruhigungsmittel länger nehmen als seine Frau. Aber der Alltag tut ihm gut. Das Ehepaar Brandtjen wundert sich, warum die Staatsanwaltschaft sich noch nicht gemeldet hat.

26. Juni:

Die Frau von Niels Boldt hat sich etwas gefangen. Aber sie steht noch immer jeden Tag um 5.30 Uhr auf. „Dann läuft erst mal der Fernseher“, sagt sie. Sie frühstückt, bringt die Zeit rum und sehnt sich, dass der Arbeitstag beginnt. Um 9.30 Uhr ist sie im Büro und lässt sich wenig anmerken. Neulich war sie im Baumarkt, hat Pflanzen gekauft, zum Einbuddeln im Garten. Sie vergammeln.

28. Juni:

Anne-Christa Falk wird auf dem Friedhof in Groß Flottbek beigesetzt. Ihr Urenkel Jasper trägt die Urne und hält die Trauerrede: „Wir vermissen dich sehr.“ Der Anwalt der Familie hat das UKE aufgefordert, die Patientenakte der Verstorbenen zur Verfügung zu stellen. 

Die Familie Brandtjen hat einen Ausflug in den Wildpark Lüneburger Heide unternommen, mal rauskommen, versuchen abzuschalten. Es funktioniert nicht. Am Abend fühlen sie sich schlecht, völlig erschöpft. Sie sind froh, wenigstens wieder zu Hause zu sein.

 

1. Juli:

Noch weitergehende Lockerungen treten in Hamburg in Kraft. Veranstaltungen mit bis zu 1000 Personen sind wieder erlaubt. Der Senat ist stolz darauf, wie gut Hamburg bislang durch die Pandemie gekommen ist.

 

           3. Juli:

Das UKE hat den Ermittlern eine „Timeline“ übermittelt, mit den wichtigsten Daten. Mitarbeiter und Patienten wurden bislang nicht befragt. Die Vorermittlungen richten sich gegen „unbekannt“.

 

8. Juli:

Die Familie von Niels Boldt lässt sich nun auch anwaltlich beraten. „Ein so großes Krankenhaus wie das UKE hat einen sehr großen Teppich“, sagt die Tochter. „Unter den will man eigentlich nicht gucken.“ Aber dieses Versagen  auf höchster Ebene müsse aufgeklärt werden.

 

12. Juli:

100 Tage sind seit dem Ausbruch im UKE vergangen. Die versprochenen Ergebnisse der Aufklärung hat das UKE nicht veröffentlicht. Die Behörden ihre Erkenntnisse ebenfalls nicht. Man verweist auf die  Ermittlungen.

 

14. Juli:

In der Post finden Tochter und Sohn von Anne-Christa Falk einen Brief, er ist an ihre verstorbene Mutter adressiert. Der Unterzeichner ist Prof. Johannes Knob­loch, Chef der Krankenhaushygiene im UKE. Er nimmt Bezug darauf, dass Anne-Christa Falk im UKE auf das neuartige Coronavirus getestet worden ist.

Man würde sich freuen, wenn sie dazu an einer Online-Umfrage teilnehme. Einen Zugangscode schickt das UKE gleich mit. „Wir danken Ihnen für Ihre Unterstützung!“, heißt es am Ende, mit freundlichen Grüßen.

 

           19. Juli:

Das Ehepaar Brandtjen versucht, sich jedes Wochenende zu verabreden. Mit den Eltern der Freundinnen ihrer Tochter. „Wir kannten sie kaum, aber sie waren zuerst für uns da“, sagt die Mutter der Verstorbenen. Es sind die besten Abende seit Monaten. Endlich entsteht etwas, statt nur zu vergehen. Aber zu einigen Nachbarn und Freunden gebe es viel weniger Kontakt, sagt die Mutter von Ines Brandtjen. Sie grüßen, wenn man sich trifft, aber mehr ist da nicht. „Das Telefon klingelt ja fast gar nicht mehr.“

 

23. Juli:

Mit 24 Fällen steigt die Zahl der Neuinfektionen in Hamburg plötzlich wieder stark an. Im UKE sind die ersten Ergebnisse des Impfstofftests sehr ermutigend. Man rechnet im besten Fall zu Jahresbeginn 2021 mit einem wirksamen Präparat.

 

30. Juli:

Noch immer gehen Kondolenzbriefe in der Kosmetikfirma von Niels Boldt ein. „Er war der netteste Mann, den wir je kennenlernen durften“, schreiben Geschäftspartner aus den USA. „Er ließ seine Lust auf das Leben so mühelos wirken.“ Seine Tochter und seine Frau führen den Betrieb mit Stolz fort.

Für die Rechnungen haben sie einen dicken Ordner angelegt, der beinahe aus allen Nähten platzt. Weit mehr als 100.000 Euro sind für die Behandlung von Niels Boldt an privaten Zusatzleistungen angefallen, sie müssen das mit der Versicherung klären. Das UKE hat mitgeteilt, sie könnten die Patientenakte des Mannes gern zur Verfügung stellen, ausgedruckt. Die Kosten müssen die Angehörigen tragen, 672 Euro plus Porto für rund 2200 Seiten.

 

1. August:

In Berlin gehen rund 20.000 sogenannte Corona-Leugner auf die Straße. Sie halten die Auflagen für übertrieben und das Virus für eine Erfindung der Eliten.

 

7. August:

Mit 80 Neuinfektionen an einem Tag wird in Hamburg der höchste Stand seit Mitte April erreicht. Bundesweit wird über die Urlaubsrückkehrer diskutiert.

 

8. August:

Das Ehepaar Brandtjen hat eine Trauerbegleiterin eingeschaltet. Eigentlich mache sie nicht viel, höre zu. Und sie müssen sich auch daran erst gewöhnen. „Es ging ja immer nur um die Zukunft, was aus Ines wird, was sie studiert, was sie macht. Das war unser Leben.“ Diese Zukunft sei ihnen genommen worden. „Und jetzt soll man sich auf einmal wieder um sich selbst kümmern.“

 

14. August:

Die große Wohnung von Anne-Christa Falk im Herzen von Altona ist neu vermietet. Sie wurde als Immobilie in Top-Lage angeboten, es gab mehr als 100 Interessenten.

Ihre Kinder sagen, sie hätten nicht viel für ihre Mutter verlangt, nur einen Abschied, wenn es wirklich Zeit ist. „Der Schmerz darüber bleibt, wie das Gefühl, dass dieser Ausbruch unnötig war.“ Die Eheringe ihrer Mutter bleiben verschwunden.  Auch die Patientenakte haben sie noch nicht erhalten.

         

         17. August:

Seine Enkeltöchter können abends noch immer oft nicht einschlafen, sagt die Tochter von Niels Boldt. „Dann weinen sie und vermissen ihren Opa.“ Sie haben aber auch gesagt, immerhin habe er ein „verdammt cooles Leben“ hinter sich.

Sie denke noch immer darüber nach, was das andere Ende seiner Geschichte gewesen wäre, wie es ihm gehen würde, wenn er Corona überlebt hätte. „Ein schwacher alter Mann zu sein und an einer normalen Krankheit zu sterben hätte nicht zu ihm gepasst.“ Wenn er jetzt im Himmel sei, werde er bestimmt im Scherz mit seinem Abgang angeben.

 

19. August:

Die Infektionszahlen sind seit Tagen so hoch wie im Mai.

Babette Grosch gibt ihren Weinladen in Ottensen auf. Sie will sich mit ihrem Mann zurückziehen, Zeit für sich haben, ihre Krebsbehandlung abschließen. Von der Corona-Infektion ist wenig geblieben. „Nur mein Geruchssinn ist leicht geschwächt, nicht das Beste als Weinliebhaberin“, sagt sie. Sie denkt noch immer viel über Ines Brandtjen nach, aber wenig darüber, wer die Schuld am Ausbruch trägt. „Das war einfach ein riesiger Tsunami“ glaubt sie. „Der hat selbst das UKE überrollt.“

 

20. August: Die Staatsanwaltschaft erwartet ein erstes Gutachten zum Ausbruch in der Onkologie. Es soll die genauen Infektionswege bestimmen. Ob die Daten ausreichen, um über ein weiteres Verfahren zu entscheiden, ist unklar. In Polizeikreisen wird nicht davon ausgegangen, dass es jemals zu einer Anklage kommt. „Höchstens gegen einzelne Mitarbeiter“, sagt ein Beamter. „Dann hat man ein armes Schwein in einem Gerichtssaal, aber immer noch keine Antworten.“    

Das UKE hat alle Gesprächsanfragen des Abendblatts zu den Geschehnissen abgelehnt, mit Verweis auf die laufenden Ermittlungen. Man stehe aber den Angehörigen „jederzeit für ein Gespräch zur Verfügung“, ihnen gelte das Mitgefühl des Klinikums. Schließlich gibt es doch eine schriftliche Antwort auf einen ausführlichen Fragenkatalog. „Die tragischen Geschehnisse im Zentrum für Onkologie haben uns zutiefst betroffen gemacht“, schreibt die Klinik.     

Die Leitung betont weiterhin, alle Standards erfüllt zu haben – von der Vorbereitung auf die Pandemie bis zum Umgang mit dem Ausbruch. Die Maßnahmen seien „zielgerichtet und effektiv“ gewesen. „Ohne konsequentes Handeln“, glaubt das UKE, wären „weitaus mehr Betroffene zu erwarten“ gewesen. „Bis heute hat es im Zentrum für Onkologie kein Ausbruchsgeschehen mit Sars-CoV-2 mehr gegeben.“     

Die Sequenzanalyse hat jedoch ergeben, dass sich 30 der betroffenen Mitarbeiter „hoch wahrscheinlich“ im Klinikum infiziert hätten, viel mehr stehe noch nicht fest.  Es ist möglich, dass nie klar wird, wer die Quelle des Ausbruchs war. Keiner der Beteiligten wollte einem anderen Menschen schaden. Aber alle müssen vorerst mit der Ungewissheit leben. 

24. August:

Der Friedhof von Anderlingen, der Regen prasselt aufs Grab von Ines Brandtjen. Da steht ein Gesteck mit einer Engelsfigur und Blumen, die nicht alle von ihrer Familie stammen. Es waren wohl die Nachbarn aus dem Dorf. Jeden Tag kommt ihre Mutter her. Abends schafft es das Paar inzwischen wieder, auch mal einen „Tatort“ im Fernsehen anzusehen. 

„Es gibt schlimme und nicht ganz so schlimme Tage“, sagt die Mutter von Ines Brandtjen. Neulich hat sie Bilder in den Nachrichten gesehen,  Hunderte feiernde Menschen dicht beieinander, sie pfiffen auf den Abstand und das Virus. Es war ein schlimmer Tag. „Ich würde ihnen gern Ines vorstellen, jedem Einzelnen von ihnen“, sagt sie. Ihre Stimme bricht. „Aber das kann ich nicht.“ 

Sie selbst hat es geschafft, ihr Leid ein paar Tage zurückzudrängen, sie sind dafür auf die Nordseeinsel Wangerooge gefahren. Sie dachten nicht daran, was Ines jetzt sagen oder machen würde, außer einmal.

„Das Wasser war wirklich kalt, da braucht man Überwindung“, sagt sie. Aber Ines, glaubt sie, wäre sofort hineingesprungen. 

                                                 (*Name geändert)