Ein graues Leben

von Patrick Bauer

Vor dreißig Jahren kam die Elefantenkuh Bibi aus Simbabwe in den Ost-Berliner Zoo. Ihr Schicksal ist einzigartig – und erzählt viel über die Fehler bei der Haltung dieser besonderen Tiere.

 

Mockup des nominierten Textes von Patrick Bauer von von der SZ-Magazin-Website
SZ-Magazin / BDZV

Simbabwe, 1986

Das Baby kämpfte gegen den Tod der Mutter. Es stieß seinen Kopf gegen den großen, leblosen Körper, immer heftiger, immer blinder. Es rüsselte nach ihrem Mund. Es stellte sich mit seinen Vorderläufen auf ihren Bauch. Schließlich versuchte es, unter ihre lehmverkrusteten Beine zu kriechen. Das Baby, ein Jahr alt, war nicht von seiner Mutter zu trennen. Die Mutter lag in einer Pfütze aus Blut, die durch das Savannengras sickerte. Das Baby schrie. Ein Schreien, das Buck de Vries nie vergessen sollte. Wie ein heiserer Vogel. Buck de Vries, hier im Gwayi Valley nur Sikwatula genannt, der mit den Fäusten spricht, zog dem Elefantenkalb einen Strick um den Fuß und träufelte ihm M99 ins Ohr, das Betäubungsmittel Etorphin. Er stülpte den Plastiksack über das Tier und hievte diesen auf einen der Trucks, mit denen sie die Herde umstellt hatten.

Ende der Sechzigerjahre hatte Buck de Vries, Südafrikaner, ein Abenteuer von einem Mann, nie ohne Hut und Gewehr, nahe der Stadt Bulawayo, am Rande des Hwange-Nationalparks, eine Safari-Lodge eröffnet. 15 000 Hektar Land, Büffel, Antilopen, Löwen, Giraffen, Zebras und sein Stolz, seine Liebe, Loxodonta africana: Elefanten. Die Könige der Steppe, schlau, stark, stur, wie er. Die Einheimischen bezahlte de Vries gut, sie pflegten dafür seinen Boden und sein Wild. Die Touristen ließ er Fotos schießen und die besonders zahlungswilligen auch Tiere.

Im nahen Hwange-Nationalpark dagegen, groß wie Schleswig-Holstein, in den Ausläufern der Kalahariwüste, war das Gleichgewicht bedroht, seit der Mensch begonnen hatte, das Gebiet und seine Bewohner zu schützen. Zuvor waren die Elefanten in der Trockenzeit, wenn die Wasserstellen versiegt waren, weitergezogen. Der Aufseher des Nationalparks, der Brite Ted Davison, wollte 1930 aber den Besuchern ganzjährig etwas Besonderes bieten, also ließ er Brunnen graben und die karge Fläche bewässern, und die Elefanten blieben. Es wurden zu viele. 1960 zählten die Behörden des damaligen Rhodesien im Park, in dem für etwa 14 000 Elefanten Platz ist, deutlich mehr Tiere. Sie trampelten und fraßen alles weg.

Seit 1966 wurden sogenannte Culling-Jagden durchgeführt. Ganze Herden wurden systematisch ausgerottet. Ein Hubschrauber trieb die Tiere zusammen. Die Leitkuh wurde aus der Luft mit einem Kopfschuss getötet, flatsch, direkt ins Gehirn. Die anderen Elefanten scharten sich dann in Panik um ihre Anführerin, das Navigationssystem, das Wissen einer Herde. Der Scharfschütze, der neben dem Piloten saß, nahm sich ein Tier nach dem anderen vor, fünfzig, sechzig, siebzig, manchmal hundert, flatsch, flatsch, flatsch. Am Boden kreisten Jäger das Chaos ein, Tausende Kilo nebeneinander, übereinander, ein grauer, zuckender Haufen. Noch lebende Tiere wurden aus der Nähe exekutiert.

Die wichtigste Regel beim Culling: Kein Elefant darf entkommen. Elefanten sind hochsozial. Trauernde, umherirrende, womöglich aggressive Tiere im Nationalpark wären ein unkalkulierbares Risiko gewesen. Elefanten sind außerdem hochkommunikativ. Sie verständigen sich nicht nur durch Trompeten, sondern vor allem durch Brummgeräusche im Infraschallbereich – für Menschen nicht wahrnehmbar –, die bis zu zehn Kilometer weit reichen. Überlebende, so die Befürchtung, würden andere Herden warnen, für Unruhe sorgen, die Artgenossen künftig vor Hubschraubern gemeinschaftlich davonrennen lassen. Flüchtende Tiere sollten verfolgt werden, notfalls tagelang, notfalls zu Fuß. 40 000 Elefanten starben bis 1987 in Simbabwe durch Culling. Zudem kamen Hunderte Jäger ums Leben, zertrampelt, durchbohrt, von Querschlägern erwischt, ehe die Praxis eingestellt wurde, weil das Land nach der Unabhängigkeit wenig Geld und viele andere Probleme hatte.

De Vries beteiligte sich bis zuletzt am Culling. Die Behörden brauchten ihn und seine Männer. Und de Vries brauchte Geld für sein Paradies. Er ließ sich vertraglich zusichern, dass er Jungtiere, die nicht von den Müttern zerquetscht wurden, fangen und verkaufen durfte, Europa, Asien, USA. Sie sprangen vom Truck, Gewehr in der Hand, Gift und Plastiksack am Gürtel, und stürmten, wenn die Großen gefallen waren, in die Wolke aus Staub und Tod, um die Kleinen zu holen. Die Geier kreisten. Die Babys schrien.

Aber keines wie dieses. Ein Weibchen, so zierlich. Hinten auf der Ladefläche gab de Vries ihm das Gegenmittel in das spitze, fleischige Maul, Naloxon. Es wachte auf. Und schrie weiter.

Er glaubte, er schenke ihm das Leben.

Gronau, 1987

Der Auftrag kam aus dem Ministerium für Außenhandel der DDR, Unter den Linden 50. Drei afrikanische Elefanten für den Tierpark Berlin. Es war ein Wettrüsten mit dem Zoologischen Garten auf der anderen Seite der Mauer. Bode hatte gehofft, dass die sich melden würden, im Westen gab’s neue Dickhäuter. Die Ossis brauchten Bode. Die kannten niemanden. Bode kannte alle. Hatte seine Leute bei den Frachtfluglinien, auf den Tierbörsen, in jedem Winkel Afrikas. Wenn irgendwer irgendwo irgendwas Wildes loswerden wollte, hörte im tiefen Nordrhein-Westfalen Bode davon. Seine Stallungen am Stadtrand hießen »Gronauer Tier- und Vogelpark«, aber das klang popliger, als es war, da standen auch regelmäßig Giraffen. Später, in den Neunzigern, als die Tierschützer ihn nervten und die Justiz, hieß der Tierhändler Werner Bode, mit dem so viele deutsche Zoos Handel trieben, in der Presse »der dubiose Tierhändler Werner Bode«. Aber vor der Wende konnte er in Ruhe arbeiten.

Er rief de Vries an. Wer de Vries nicht kannte, war kein Tierhändler, de Vries saß an der Elefanten-Quelle. Buck, ich brauche drei. Ich hätte vier. Drei. Ich verkaufe die nur zusammen. Also wieder im Ministerium angerufen. Ich hätte jetzt vier. Wir können nur drei bezahlen.

Das vierte Tier ließ sich Bode mit einigen Greifvögeln und Antilopen aus dem Tierpark entgelten. Die drei anderen Elefanten kosteten 10 000 D-Mark das Stück. An de Vries überwies Bode je 4000. Mit seinem Laster holte er die Tiere vom Flughafen Frankfurt, ein Bulle und drei Kühe, ganz platt. Es dauerte Wochen, bis alle Papiere da waren und die Elefanten rübermachen konnten. Was die wegfressen am Tag, glaubt man gar nicht. Was sollte Bode den ganzen Tag tun mit denen in Gronau? Manchmal waren die richtig ausgelassen, dann stritten sie sich wieder, rammten sich, wie von Sinnen.

Die Süße, deren Stoßzahnstummel so schön symmetrisch waren, stand meistens allein in ihrer Box und malte, egal, was Bode unternahm, mit Kopf und Rüssel eine Acht nach der anderen in die Luft.

Ost-Berlin, 1989

Der Bulle bekam den Namen Tembo, Suaheli für Elefant. Eine der drei neuen Kühe wurde Umtali genannt, wie die Stadt in Simbabwe. Die zweite Sabah.
Einzig ihr Name klang nicht nach weiter Welt, sondern nach Berlin-Lichtenberg. Bibi. War wohl dem Direktor eingefallen. Klingt vertraut, niedlich. War sie beides nicht, fanden die Pfleger, eher bockig, rätselhaft.

Bibi war der kleinste der vier neuen Elefanten, der gierigste, ungeduldigste. Sobald es nichts zu fressen oder kein Training gab, begann sie mit dem Weben. Diese Stereotypie tritt nur bei Elefanten in Gefangenschaft auf, der immergleiche Bewegungsablauf, bis zu dreißig Mal in der Minute: ein Schritt vor, einer zurück, der Körper schaukelt, Kopf und Rüssel werden geschwenkt. Mensch, Bibi, hör doch auf, riefen die Pfleger mit den Elefantenhaken in der Hand.

Der Bau des neuen Dickhäuterhauses hatte bereits begonnen. Ein Denkmal, das sich der Tierparkdirektor Heinrich Dathe, der Grzimek der DDR, setzen wollte. Die Elefanten lebten bis dahin in einem kleinen Stall, stets die Kette am Fuß. Dashi, eine 1969 aus Simbabwe importierte Kuh, war vor der Ankunft von Tembo, Umtali, Sabah und Bibi der einzige afrikanische Elefant im Zoo gewesen.

Als Mario Hammerschmidt als kleiner Junge mit seinen Eltern endlich die Elefanten in ihrem neuen Zuhause besuchte, über das so viel in der Zeitung gestanden hatte, war er enttäuscht. Die Elefanten standen in engen Käfigen. Die Menschen verloren sich im braun gefliesten Weit des Hauses. 2800 Quadratmeter misst der Besucherraum. 750 Quadratmeter alle Elefantenboxen zusammen. Draußen ist viel Platz, aber draußen ist es die meiste Zeit zu kalt für Elefanten, in Berlin-Lichtenberg. Das Elefantenhaus gehörte den Menschen, nicht den Tieren.

Ein schmächtiger Elefant fiel Mario Hammerschmidt sofort auf. Er stand eng bei der mächtigen Leitkuh. Und bewegte sich so komisch. Dass Dashi einen der neuen Elefanten betreuen würde, hatte das Zoopersonal erwartet. Die beiden anderen Jungtiere würden ebenso eine Beziehung zueinander aufbauen. Elefanten brauchen Sozialpartner. Aber dass Dashi ausgerechnet Bibi adoptierte? 

Berlin, 1998 

Als Mario Hammerschmidt als junger Mann an einem seiner ersten Tage als Lehrling im Wassergraben des Dickhäuterhauses stand, mit einem Eimer trocken Brot in der Hand, stieß Bibi ihn ins Wasser und fraß das Brot. Nicht schlimm. Musste man abkönnen, war nicht für jeden. Sie hielten die Elefanten im direkten Kontakt, wie überall. Sie lebten mit den Tieren, Haut an Haut: Füttern, Waschen, Fußpflege, Trainieren, down, sit, up. Der Pfleger war das Leittier, ganz oben in der Rangordnung. Sie fühlten sich wie Elefanten. Sie balgten und schmusten mit denen. Was für den Elefanten ein Stupser ist, kann für den Menschen tödlich sein. Deswegen mussten sie den Tieren klarmachen, wer der Chef ist. Schläge gehörten genauso dazu wie der Elefantenhaken, Pieksen sagten sie. Nachts, wenn die Elefantenmenschen Feierabend hatten, kamen die Elefanten an die Kette, weil sie sich ohne Aufsicht gegenseitig fertiggemacht hätten. Bibi hasste die Kette, sie schaukelte dann noch mehr.

Bibi war anders. Sie wollte ihr Essen. Ihre Ruhe. Aber keinen Menschen, der ihr das Ohr krault. Sie wollte sich nicht unterordnen. Bibi testete jeden neuen Pfleger. Sie hatte sich bei Dashi eingeschleimt. Aber Dashi war nun, als Hammerschmidt im Tierpark anfing, nicht mehr oberste Elefantin. Nach dem Krankheitstod von Umtali hatten Dashi und Bibi Sabah attackiert – drei nicht miteinander verwandte Elefanten, das geht nie gut. Also kamen nach und nach drei neue Kühe, Mafuta, Pori und Lilak, die Älteste der drei. Lilak hatte Dashi sofort in die Seite gestoßen, und Dashi, keine ebenbürtigen Tiere, keine Machtkämpfe gewohnt, hatte die Hinterläufe eingeknickt. Eine Demutsgeste. Bibis Strategie war gescheitert. Sie war nicht mehr die Nummer zwei. Sie musste sich bei der Fütterung hinten anstellen. Das frustrierte Bibi. Sie griff Mafuta an, die Neue, ihr Alter. Aber Mafuta war körperlich überlegen.

Eigentlich war Bibi nur beim Baden entspannt. Sie liebte das Becken. Und draußen, auf der Freifläche, rannte Bibi Vögeln nach, richtig albern, wie ein Baby. Aber dann blieb sie schlagartig stehen, als wäre ihr etwas eingefallen, und sie begann wieder, ihr Haupt zu schwenken, links und rechts, hoch und runter.

Berlin, 1999

Am Morgen des 15. Januar hörten die Pfleger einen lauten Platscher aus Bibis Box. Sie hatten noch nicht mit der Geburt gerechnet. Bibi war allein, angekettet. Ein Pfleger zerrte das Neugeborene heraus und befreite es aus der Embryonalhülle. Ein Weibchen. Matibi. Das erste Elefantenkalb im Tierpark. Das erste in Berlin seit fast sechzig Jahren. Bibi war immer gut mit dem Bullen Tembo ausgekommen.

Matibi wurde gewogen, Bibi bekam eine Beruhigungsspritze, dann trank die Kleine von ihr. Das Hormon Oxytocin schoss Bibi durch den Körper, die Mutterinstinkte waren aktiviert. Bibi war eine gute Mutter. Bibi, Matibi und Dashi wurden eine Sozialeinheit innerhalb der Herde, Mutter, Tochter, Matriarchin. Bibi wirkte immer noch oft unbeteiligt, ihr Junges verbrachte viel Zeit mit der Leitkuh Lilak. Zum Trinken und Schlafen kam es zur Mutter. In der Box stand Bibi dann schaukelnd an der Kette, das Kalb frei zwischen ihren Beinen.

Berlin, 2006

Das Elefantenhaus, einst eines der größten der Welt, war zu klein geworden. Matibi musste weg, sie kam nach Osnabrück. Einige Stunden stand der Container, in dem sie transportiert wurde und an den man sie über Wochen gewöhnt hatte, im Hof neben dem Elefantenhaus. Bibi und Matibi unterhielten sich aufgeregt, das hörte Mario Hammerschmidt. Er wusste, was er darüber hinaus nicht hörte: den Infraschall, die ständige Verbindung zwischen allen und einzelnen Tieren, die Erinnerungen und Ahnungen, zu denen Elefanten fähig sind. Ihre Gefühle ähneln denen des Menschen, ebenso wie ihre Altersentwicklung, ihre Lebensdauer, ihr Sinn für Familie und Tod. Hammerschmidt hatte schon Elefanten in andere Zoos begleitet, er wusste, wie lange die aus der Herde gerissenen Tiere trauern. Im Tierpark sah er nach der Abfahrt der Tochter, wie schnell die Mutter weitermachte, als wäre nichts geschehen. Man darf, dachte er, der mit seinen Kollegen jeden Tag Elefant spielte, die Elefanten nicht vermenschlichen. Bibi ist ein Tier. Die Natur ist brutal. Aus den Augen, aus dem Sinn. Mario Hammerschmidt hielt sich an das, was er sah.

Berlin, 2007

Ihr zweites Kind gebar Bibi am 22. August auf der Außenanlage, so, wie es in freier Wildbahn geschieht: ohne Kette, im Schutz der Herde. Als das Neugeborene auf dem Boden lag, lief Bibi aufgeschreckt davon. Auch in Freiheit ist es nicht ungewöhnlich, dass Elefantenmütter wegen des Geburtsschmerzes aggressiv auf ihr Kind reagieren, immer wieder töten vor allem Erstgebärende in diesem Reflex ihr Neugeborenes. Die Aufgabe der anderen Elefanten ist es, die Mutter zurückzudrängen, sie zu beruhigen, bis sie vorsichtig mit ihren Stoßzähnen und Füßen das Baby aus der Hülle holt. Doch Lilak, die Leitkuh, hatte noch nie eine normale Geburt erlebt, sie war wie alle Elefanten außer sich. Sie konnte ihre natürliche Rolle nicht erfüllen. Gemeinsam mit Bibi startete sie Scheinangriffe auf das Neugeborene, das von den Pflegern schnell in den Graben gezogen wurde. Panya, die zweite Tochter, große Schlagzeilen.

Berlin, 2008

Ein Jahr später war Panya wieder in den Nachrichten. Ein Mitarbeiter der Tierschutzorganisation PETA hatte gefilmt, wie der kleine Elefant, schon früh regelmäßig von der Mutter getrennt, mit einem Pfleger das Hinlegen auf Kommando übte. Zur Belohnung gab es Brötchen. Panya wollte gleich noch eines, sie schubste den Pfleger beiseite. Da drosch der Mann mit dem Elefantenhaken auf sie ein. Der Tierparkdirektor Bernhard Blaszkiewitz, ohnehin umstritten wegen seiner raubeinigen Art, verteidigte den Mitarbeiter: Wenn die Elefanten in jungen Jahren nicht lernten zu gehorchen, seien sie später eine Gefahr für die Pfleger. Zwei Jahre zuvor war Mafuta in den Zoo nach Halle abgegeben worden, weil sie dem Chefpfleger drei Rippen gebrochen hatte. Bloß: Wenn das Schlagen dieser hochsensiblen Tiere nur nötig ist, um die direkte Haltung zu ermöglichen, spricht das nicht gegen die direkte Haltung? Einige Zoos, etwa Halle, hatten längst auf den geschützten Kontakt umgestellt: Die Tiere leben als eigenständige Herde, die Menschen füttern und pflegen durchs Gitter, motivieren mehr als zu zwingen.

Kurz nach dem Vorfall mit Panya attackierte Bibi den Pfleger, der ihre Tochter geschlagen hatte. Er musste ins Krankenhaus. Im Dickhäuterhaus waren zu dieser Zeit zwei Herden in Aufruhr: die der Elefanten und die der Tierpfleger. Es war zu wenig Personal da, die jüngeren Kollegen warfen den älteren vor, Dienst nach Vorschrift zu tun. Die älteren warfen den jüngeren vor, nicht die Eier zu haben, gegen die Elefanten durchzugreifen. Mario Hammerschmidt beklagte sich nach Bibis Angriff bei Direktor Blaszkiewitz über die Situation. Noch am selben Abend, erinnern sich Zeugen, entschied dieser, dass auch Bibi und Panya nach Halle ziehen müssten. Tierschützer sprachen von einer Abschiebung. Außerdem wurde im Tierpark beschlossen, dass die Elefanten künftig nicht mehr im direkten Kontakt gehalten werden.

Mario Hammerschmidt war verzweifelt. Er brauchte ein Jahr, um zu akzeptieren, dass es vorbei war mit dem direkten Kontakt. Er konnte sich nicht vorstellen, diesen Beruf auszuüben, ohne die Tiere anzupacken, sich mit ihnen zu fetzen und zu freuen. Dann wurde er selbst Vater und Chef des Elefantenhauses. Er besuchte andere Zoos. Und verstand: Ein guter Tierpfleger ist nicht, wer von allen Tieren angekuschelt wird, sondern wer alle Tiere gesund hält und sie animiert, sich artgerecht zu verhalten. Noch etwas verstand Hammerschmidt, vielleicht zu spät, da war sie von Dashi, ihrer wichtigsten Begleiterin, schon getrennt: Nicht Bibi war das Problem. Sondern das System.

Halle, 2009

Am meisten mochte Norman Hase an Bibi von Anfang an, dass sie sich nichts sagen ließ. Wie er. Wie alle Elefantenpfleger in Halle. In der DDR wurden nur Träumer Zoopfleger. Hase war noch nicht dabei, der Revierleiter Axel Boas erzählt gern von der Zeit. Die Ost-Zoopfleger verdienten wenig. Aber sie konnten sich im Zoo eine bessere Welt schaffen. Sie lebten hinter Gittern die Freiheit. Nun war die Welt draußen anders geworden, auch in Halle an der Saale, aber so richtig gut fand Norman Hase sie immer noch nicht. Also was tat er? Er machte die Welt im Elefantenhaus des Bergzoos Halle so gut wie möglich.

Bibi war eine aus der Freiheit, das war gleich klar. Sie machte bei allem mit, aber sie behielt ihren Stolz. Etwas klein gewachsen, dafür mit großer Ausstrahlung. Und in ihren Augen, fand Norman Hase, war so viel Weisheit. Was die wohl alles gesehen hatte. Bibi war kein sicherer Elefant, fahrig, unkonzentriert. Aber die Augen ruhten. In Halle trafen Bibi und ihre Tochter Panya wieder auf Mafuta, Bibis einstige Erzfeindin, und auf Tana, die als junge Kuh ebenfalls aus dem Tierpark Berlin nach Halle gebracht worden war. Mit Mafuta verstand sich Bibi nach wie vor nicht, aber sie akzeptierte sie als Anführerin. Die meiste Zeit verbrachte Bibi mit Panya. Mit dem jungen Bullen Abu kam sie auch gleich aus. Die Haltung im geschützten Kontakt, das fiel auch Mario Hammerschmidt auf, als er Bibi in Halle besuchte, tat ihr gut. Das Weben wurde weniger. Eine zeugungsfähige, erfahrene Mutter, mit der würde man etwas Schönes aufbauen.

Halle, 2013

Ganz Halle konnte es kaum erwarten. Die Zeitungen hatten von Anfang an Ultraschallbilder gedruckt. Bibi und Panya waren in zwei benachbarten, voneinander getrennten Boxen aufgestallt, rüsselten sich in den Wehen viel, die Nähe der Tochter war wichtig. Gemeinsam mit Tierärzten hatte man entschieden, dass eine Herdengeburt ein zu großes Risiko wäre, als Leitkuh erschien Mafuta zu unerfahren. Bibis Baby kam schnell. Es rutschte unter dem Schiebegitter hindurch in die große, leere Laufhalle. Bibi begann sofort, gegen das Gitter zu treten. Sie will zu ihrem Baby, dachten alle, es befreien, begrüßen. Der Tierarzt ließ das Gitter öffnen. In der Halle stürmte Bibi auf ihr Kind zu und trampelte auf ihm herum. Mit einem Stoßzahn durchbohrte sie seine Lunge. 110 Kilo wog Tatu Chinara, so nannte Norman Hase das Kalb, als es schon tot war.

Halle, 2015

Der neue Zoodirektor Dennis Müller entschied, Bibis Schwangerschaft diesmal geheim zu halten. Der Plan lautete: Bibi soll wieder in einer Einzelbox gebären, und dann muss sie schnell vom Neugeborenen getrennt werden. Täglich wurde Bibi Blut abgenommen. Das Hormonprofil zeigte an, dass es so weit war. Doch wenn alles vorbereitet war und Norman Hase Wache hielt, ließen die Wehen jedes Mal nach. Als Bibi mit den anderen Elefanten auf die Außenanlage durfte, kamen die Wehen wieder regelmäßig. So entschied man, es doch mit einer Herdengeburt zu versuchen. In Berlin hatte es schließlich auch funktioniert. Das Team versammelte sich am Abend vor den Monitoren im Büro der Elefantenpfleger, die Videokamera auf der Außenanlage nahm alles auf: Die kleine Herde stellte sich schützend um Bibi. Mafuta blieb an ihrer Seite, übernahm Verantwortung für die werdende Mutter, obwohl die beiden eine tiefe Abneigung verband. Als die Fruchtblase platzte, rannten Panya und Tana, die jungen Kühe, in Panik davon. Mafuta war irritiert. Bibi drehte sich zu ihrem Neugeborenen um und trampelte darauf ein. Mafuta konnte sie nicht mehr abdrängen. An diesem Abend brach Norman Hase zusammen. Er musste von Kollegen nach Hause gebracht werden. Das tote Baby nannte er Ahorisha. Gewolltes Kind.

Halle, 2017

Es hätte noch alles gut werden können.

Man hatte sich, das besprachen sie nach den traurigen Vorfällen, von den Geburten in Berlin blenden lassen. Dass ein Tier in Gefangenschaft ein Junges gebärt, heißt nicht, dass es dem Tier gut geht. Dass Bibi ihren Kälbern dort nichts angetan hatte, war reines Glück gewesen. Einmal war sie an der Kette gewesen und hatte sich nicht bewegen können. Einmal waren die Pfleger dazwischengegangen. Bibi würde vielleicht noch vierzig Jahre leben, zehn Jahre davon könnte sie wieder trächtig werden. Man müsste sie als eine Erstgebärende verstehen. Man müsste von vorne anfangen.

Dann starb Mafuta an schwerem Durchfall. Die Herde, die gerade zu einer Einheit zu werden schien, gab es nicht mehr. Bibi war nun, qua Alter und Rangfolge, die neue Leitkuh, aber Bibi ist keine Leitkuh.

Dann wurde Panya von Abu schwanger. An eine Herdengeburt war ja nicht mehr zu denken. Weil Bibi ein so enges Verhältnis zu Panya hatte, sollte die Mutter ihrer Tochter bei der Geburt beistehen. Also stellte man Panya und Bibi in benachbarte Boxen, vom Gitter getrennt. Als das Neugeborene auf dem Boden lag, rammte Bibi das Gitter, sie wollte unzweifelhaft ihren Enkel angreifen. Panya war verstört. So ein Verhalten, gegen ein Neugeborenes, das nicht das eigene ist, gegen das Enkelkind, davon hatte noch kein Elefantenforscher gehört. Alle glaubten: Bibi wollte ihre Tochter schützen, der Schmerz der Tochter schmerzte Bibi. Aber alle wussten auch: Wir können nicht riskieren, Bibi mit Jungtieren zusammen zu halten. Auch Tana hatte ein Junges bekommen.

Heute leben die beiden Mütter, Tana als Leitkuh, und ihre Kälber zusammen. Und Bibi steht, außer Sichtweite, im Bullentrakt am Rand des Elefantenhauses und malt eine Acht nach der anderen in die Luft.

Norman Hase erträgt es nicht, wenn Bibi wieder mit dem Weben anfängt. Er fleht sie dann fast an. Bibsch, bitte, komm, nicht doch, Süße. Das Weben beendet die Momente des Glücks, des Vertrauens, des Spiels zwischen Bibi und ihm, wenn sie Äpfeln nachjagt oder ihm fast spöttisch ins Gesicht sabbert und auf den Hals, auf den er sich im vorigen Thailand-Urlaub das nächste Elefanten-Tattoo stechen ließ. Es geht so nicht weiter. Einzelhaltung ist für Elefanten eine Qual. Die Messgeräte, die den Infraschall in der Elefantenhalle anzeigen, schlagen die ganze Zeit aus, was brummen sich Mutter und Tochter da zu? Immerhin kann Bibi mit Abu rüsseln, der Bulle steht in der Nachbarbox. Zwei müde Riesen, die als Problemelefanten bekannt wurden. Abu kam nach Halle, weil er in Wien seinen Pfleger umgebracht hatte. Halles Zoo-Chef Dennis Müller, ein leiser, bestimmter Mann, auch aus Berlin nach Halle gekommen, hat sich oft gefragt, warum Bibi ihre Kälber getötet hat. Er hat mit vielen Experten diskutiert, er sagt: »Es gibt nicht die eine Erklärung.« Vermutlich schießt bei Bibi das Mutterliebe-Hormon Oxytocin zu spät ein. Das könnte man beim nächsten Mal versuchen durch künstliche Dosierung zu beeinflussen. Aber das Problem, ahnt Müller, liegt viel tiefer. Man kann davon ausgehen, dass Bibi durch die Culling-Jagd, bei der sie gefangen wurde, ein schweres Trauma erlitten hat. Bei Tieren, die eine solche Jagd erlebt haben, tauchen ein Leben lang Verhaltensauffälligkeiten auf, haben Forscher mittlerweile herausgefunden. Wahrscheinlich haben der Transport nach Deutschland, der beengte Lebensraum im Tierpark Berlin und auch die Härte, mit der die Pfleger dort die Kooperation der Tiere erzwingen wollten, bei Bibi sehr viel Stress erzeugt. Ebenso die Trennung von ihrer ersten Tochter. Der Verlust von Dashi. Elefanten sind neben Menschen die einzigen Lebewesen, von denen erwiesen ist, dass sie unter Posttraumatischen Belastungsstörungen leiden können. »Wir können uns nicht anmaßen, die Tiere zu verstehen«, sagt Dennis Müller, »aber im Fall von Bibi können wir nicht die Augen verschließen vor dem Leid, das sie erfahren hat. Das Tragische an Bibis Geschichte ist doch, dass sich an ihrem Leben ganz viele Fehler in der Elefantenhaltung aufzeigen lassen. Bibi ist ein Opfer vieler falscher Entscheidungen. Es ist schade, dass wir nicht die Kapazitäten haben, uns weiter um sie zu kümmern.«

Bibi muss weiterziehen. Arne Lawrenz, der Direktor des Wuppertaler Zoos, führt seit Kurzem das Zuchtbuch für afrikanische Elefanten in europäischen Zoos. Er entscheidet am Ende, wohin Bibi kommt. Es ist ein kompliziertes Puzzle, an dem Lawrenz bastelt: Über Zoos in ganz Europa verteilt leben Elefantenkühe und -bullen, diverse Besitz- und Verwandtschaftsverhältnisse gilt es zu beachten. Der Egoismus einiger Tierparkchefs macht es Lawrenz nicht leichter. Manche verabreden Tauschgeschäfte, statt alle Zoos als Gemeinschaft zu verstehen, die ein Interesse eint: gesunde Tiere, die sich fortpflanzen und einen Beitrag zum Artenschutz leisten.

Lawrenz ist vielleicht auch deshalb Leiter des Erhaltungszuchtprogramms für Elefanten geworden, weil er in Wuppertal gezeigt hat, wie zeitgemäße Elefantenhaltung funktionieren kann: indem man konsequent Mutter-Tochter-Herden aufbaut. Elefantenherden sind in der Natur rein weibliche Verbände. Sind die Bullen ausgewachsen, verlassen sie die Gruppe und leben für sich. Über Jahrzehnte gaben Zoos aber lieber Kühe als Zuchtbullen ab. Man verstand nicht, dass für die Frage, ob Elefantennachwuchs geboren wird, viel entscheidender ist, dass die Herde harmonisch ist. Dass in einer funktionierenden Herde viel mehr Kühe einen geregelten Zyklus bekommen. Dass Geburten nur im Schutz der Herde natürlich stattfinden können.

Es werden immer noch zu wenige Afrikanische Elefanten in deutschen Zoos geboren, sechzig Prozent der Zoo-Elefanten stammen aus Importen. Kühe, die schwanger werden und austragen, sind rar. Deswegen, sagt Lawrenz, ist Bibi wichtig. Als Mutter. Lawrenz plädiert dafür, sie vor ihrem Umzug nochmals von Abu decken zu lassen.

Ende Februar steht nach komplizierten Verhandlungen fest, dass Bibi in das neue Elefantengehege nach Magdeburg zieht.

Das ist eine weitere Tragödie. Nun wird Bibi auch noch von Panya getrennt. Eigentlich müsste man vielmehr alle anderen Kühe aus Halle wegschicken und Bibi und Panya und Panyas Baby wieder zusammenführen. Und mit ihnen eine Mutter-Kind-Linie aufbauen.

Olaf Töffels vom Verein Elefanten-Schutz Europa, der Bibi als Stammbesucher des Tierparks Berlin gut kennt, sagt: »Das ist eine weitere Tragödie. Nun wird Bibi auch noch von Panya getrennt. Eigentlich müsste man vielmehr alle anderen Kühe aus Halle wegschicken und Bibi und Panya und Panyas Baby wieder zusammenführen. Und mit ihnen eine Mutter-Kind-Linie aufbauen.« Auch Töffels findet, man sollte mit Bibi weiter züchten. »Die Geburten endeten doch auch deshalb so schrecklich, weil Bibi immer nur nach dem Plan von Menschen gelebt hat, sie hat nie gelernt, Verantwortung zu übernehmen, eigene Entscheidungen zu treffen. Man müsste ihr genau das beibringen. Stattdessen setzt man sie nur wieder neuem Stress aus, einsam in Magdeburg.«

Töffels ist ein Elefantenschützer, der grundsätzlich für die Haltung von Elefanten in Zoos ist. Weil er glaubt, dass die Menschen sich mehr für das Überleben der Tiere einsetzen, wenn sie ihnen nahe kommen. Frank Albrecht von der Organisation EndZoo hingegen sieht Bibis Schicksal als weiteren Beweis dafür, dass eine artgerechte Haltung von Elefanten schlicht nicht möglich ist. Albrecht sagt: »Nun wird sie wie so viele für den Rest ihres Lebens irgendwo abgestellt. Sie hätte nie nach Deutschland kommen dürfen.«

Diese Massaker an den Elefanten verfolgen mich bis heute. Das Schreien.« De Vries sagt, er habe bis 1987 fast tausend Baby-Elefanten in die Welt verkauft. »Wir hätten sie erschießen sollen! Sie trugen den Tod in sich.

In dem Land, aus dem Bibi kam, hat Buck de Vries, über achtzig Jahre alt, alles verloren. Vor 15 Jahren sein Land, als Robert Mugabe weiße Farmer enteignen ließ, gerade erst seine Frau Rita. De Vries wartet in einem fast leer stehenden Haus in Bulawayo auf den Tod. Vor Jahren war er noch mal in seinem einstigen Safari-Paradies. Dort war der Tod schon. Niemand kümmert sich um den Boden. Niemand um die Tiere, Wilderer haben freie Hand. Es stank nach Verwesung. Und im Nationalpark nebenan drängen sich heute rund 45 000 Elefanten, mehr denn je. Die Elefanten sind global vom Aussterben bedroht, aber im Gwayi Valley reden manche schon wieder von Culling. Vorerst werden Baby-Elefanten aus den Herden geholt und nach China verkauft, das ist für den maroden Staat lukrativ. Buck de Vries hat auch schreckliche Verbrechen an Menschen gesehen in den vergangenen zwanzig Jahren, er hat selbst Folter erlebt, aber er sagt: »Diese Massaker an den Elefanten verfolgen mich bis heute. Das Schreien.« De Vries sagt, er habe bis 1987 fast tausend Baby-Elefanten in die Welt verkauft. »Wir hätten sie erschießen sollen! Sie trugen den Tod in sich.«

An eine Szene denkt Norman Hase besonders oft. Es war nach Bibis vierter Geburt. Sie konnten sie nicht von dem Baby trennen, das Bibi gerade getötet hatte. Sieben Stunden lang lockten sie Bibi, zogen an ihr. Aber Bibi versuchte verzweifelt, das Kalb mit ihren Vorderläufen aufzurichten. Sie rüsselte nach dem Mund. Sie stieß ihren Schädel immer wieder gegen den leblosen, kleinen Körper. Die Mutter kämpfte um das Leben ihres Babys.