Armee der Unsichtbaren

Von Günter Wallraff

Pakete ausliefern ist ein Knochenjob und pro Stunde gibt es oft weniger als fünf Euro. Günter Wallraff hat erlebt, wie Fahrer ausgebeutet werden.

Immer schneller, immer billiger – das Internet macht’s möglich. Handys, Kleidung, Laptops, Wein, Büroartikel, Bücher – es gibt nichts, was nicht preiswert und fast wie von selbst nach Hause kommt. Das Schleppen übernehmen andere: die Paketauslieferer. 250.000 bis 300.000 Menschen sind europaweit in der Branche beschäftigt. Kaum ein Wirtschaftszweig ist so rasant gewachsen wie die »KEP«, die »Kurier-, Express- und Paketdienste«. Die Umsätze sind in den letzten zehn Jahren um 30 Prozent nach oben geschnellt, heute jagen jährlich mehr als zwei Milliarden Pakete durch die Republik. Einschließlich der Rücksendungen, die wir als »kostenlose« Leistung ganz selbstverständlich in Anspruch nehmen, wenn uns die zugeschickte Ware nicht gefällt.

Aber »kostenlos« ist auch diese Leistung nicht. Da zahlen andere drauf. Die Paketzusteller bleiben oft mit Stundenlöhnen von fünf und weniger Euro auf der Strecke. Doch ermöglicht hat das Preis- und Lohndumping der Gesetzgeber, der die Branche »zum Nutzen aller« dereguliert und privatisiert hat. Die Post wurde stückweise zerschlagen, die privaten Konzerne raufen sich um die Kundschaft. Wie sieht der Alltag in dieser Dienstleistungsbranche aus? Um das zu erfahren, habe ich als Paketauslieferer bei GLS Germany angeheuert, einer Tochter des europaweiten Konzerns General Logistic Systems mit Sitz in Amsterdam.

GLS ist einer der großen zehn Dienstleister in der Paketauslieferung. Der Konzern wirbt mit dem Spruch: »Egal, was du tust, ein unterstützendes Team trägt dich. Zusammen lassen wir Träume wahr werden. Ein Europa, eine Kraft, ein Erfolg. Lasst uns die Zukunft gestalten. G - L - S«. Er soll neben Hermes und trans-o-flex einer der schlimmsten sein, was die Arbeitsbedingungen für die Fahrer angeht. Doch auf das, was ich dann erlebt habe und was mir anhand von Zeugenaussagen und Dokumenten glaubhaft gemacht wurde, war ich nicht gefasst. Um es gleich vorwegzunehmen: Selbst bei GLS gibt es Fahrer und Subunternehmer, die einigermaßen zufrieden sind. Sie haben das Glück, auf der kleinen Zahl lukrativer Auslieferungstouren eingesetzt zu werden. Aber ich habe bei meinen Recherchen keine guten Touren kennengelernt. Keine einzige.

Es ist fünf Uhr früh, als ich in dem riesigen Flachbau aus Beton am Förderband stehe. Hier, im Industriegebiet von Polch nahe Koblenz, beginnt an diesem Morgen meine erste Arbeitsetappe bei GLS. Andy Fischer, ein 28 Jahre alter Paketfahrer, lernt mich an. Es ist kalt und laut. Über das 80 Meter lange Band aus Metallwalzen rattern nicht nur Pakete, sondern auch Autofelgen, die verschickt werden, eine Sackkarre oder mal ein Bierkasten, dann schwillt der Lärm ohrenbetäubend an.

Die Branche arbeitet mit Subunternehmern, so kann sie viele Risiken auslagern

Von Polch aus, einem der 57 GLS-Paketdepots in Deutschland, werden bis zu 35.000 Pakete pro Tag befördert. Schon die ersten Minuten an jenem Morgen sind Hektik pur. Tausende Pakete rauschen an den 60 bis 70 Fahrern vorbei, jedes mit einer vierstelligen Nummer versehen, anhand derer die Fahrer die Pakete für ihre Tour erkennen, vom Band reißen und hinter sich aufstapeln. Suchen, erkennen, zupacken, ablegen, suchen, erkennen, immer so weiter, eine Stunde, zwei Stunden. Irgendwann habe ich mit Andy zusammen Pakete mit einem Gewicht von mehr als einer Tonne vom Band gehoben. Ich drücke mir die Hände ins Kreuz. Keine Pause. Die Rolltore gehen jetzt hoch, dahinter haben die Fahrer ihre Sprinter geparkt, die Ladeklappen stehen offen. Wir nehmen zum zweiten Mal die Pakete hoch, tragen sie raus, wuchten sie in den Laderaum, die richtige Reihenfolge ist wichtig für die Tour. Bei einem der Pakete komme ich ins Stolpern, es hat sicher an die zehn Kilo mehr als das zulässige Gewicht der 40-Kilo-Standardpakete, egal, rein mit dem Monstrum, jedes Zögern kostet Zeit. Es ist jetzt kurz vor acht, und wir müssen los, sofort, ohne auszuruhen, ohne Frühstück nach diesen fast drei Stunden Plackerei.

Als wir endlich im Wagen sitzen und losfahren, atme ich zum ersten Mal tief durch, nehme einen Schluck aus meiner Wasserflasche. Doch Andy, der Fahrer, hält, kaum dass ich die Flasche abgesetzt habe, abrupt an. Unser erster Stopp ist erreicht. Die Straße heißt bedeutungsschwer Am alten Galgen. Andy springt aus dem Auto, rennt nach hinten zum Laderaum, reißt die Türen auf, packt sich ein Paket auf die Schulter, es wiegt mindestens 20 Kilo, nimmt ein kleineres zweites unter den Arm, er zeigt mir ein drittes, das ich mir auf die Schulter packe, ich schätze es auf 30 Kilo. Andy wirft die Türen zu, läuft los, ich renne hinter ihm her.

An meinem ersten Arbeitstag bei GLS werden wir 230 Pakete ausliefern, 130-mal anhalten, an 130 verschiedenen Orten, die wir mit größtmöglichem Tempo anfahren, häufig über der zulässigen Höchstgeschwindigkeit. Um 18 Uhr werden wir zurück im Depot sein, 20 Pakete, die wir von Kunden mitgenommen haben, müssen noch ausgeladen werden, Papierkram muss im Büro erledigt werden, um 19.30 Uhr sind wir zu Hause. 14 Stunden haben wir gearbeitet.

Ich stieg eine Woche vor Weihnachten 2011 ins Paketgeschäft ein, Hochkonjunktur bei den Paketauslieferern. Ich hatte aus gutem Grund in dieser Zeit angefangen, ich wollte das Extrem kennenlernen. Ich dachte, auch wenn das eine Ausnahme ist, hier erfahre ich die Wahrheit über diese Branche. Dass es auch in anderen Zeiten nicht viel besser ist, sollte ich später noch erleben.

Am Tag vor meinem Arbeitsbeginn mache ich mich in einen kleinen Ort in der Voreifel auf, dort wohnt Andy, der sich bereit erklärt hat, mich anzulernen. Man kann nicht einfach aus dem Stand alleine eine Tour übernehmen. Mein neuer Kollege stellt mir die Ausziehcouch in seiner kleinen Mansardenwohnung zur Verfügung, er kennt mich nicht, ich trage falsche Haare. So unterhalten wir uns von Gleich zu Gleich und gehen früh schlafen. Am nächsten Morgen stehen wir um vier Uhr auf. Nicht gerade meine Zeit. Aber wessen Zeit ist das schon.

Andy stellt mich nicht vor, als wir im Depot ankommen. Ein Neuer fällt hier nicht auf, die Fluktuation ist hoch, Andy sagt, er merke sich die Namen der Fahrer erst nach einem halben Jahr, vorher lohne sich das nicht.

GLS stellt die Fahrer nicht selbst ein, sondern schließt Verträge mit Subunternehmern, die wiederum die Fahrer anstellen. Damit kann GLS sämtliche Risiken auslagern – ein Traum für jeden Unternehmer. Die Subunternehmer erhalten einen individuell mit GLS ausgehandelten Preis pro Paket, der in der Regel zwischen 1,20 und 1,40 Euro liegt. Mit dem »Lohnfuhrvertrag« zwischen GLS und dem Subunternehmer werden alle Pflichten, wie etwa Abhol- und Auslieferungszeiten, festgelegt, außerdem das Auslieferungsprozedere, die Überwachungs- und Kontrollmodalitäten, das Outfit von Fahrern und Fahrzeugen und ein spezieller Strafenkatalog. Die Fahrer erhalten von den Subunternehmern einen Monatslohn, der in der Regel zwischen 1.200 und 1.300 Euro brutto liegt. Für dieses Geld müssen sie ihre Touren abfahren, wie lange sie dafür brauchen, ist ihr Problem.

Andy warnt mich, das Gespräch mit anderen Fahrern zu suchen. »Das wird hier nicht gern gesehen.« Das könne als Abwerbung eines Fahrers durch einen anderen Subunternehmer ausgelegt werden. Andy zeigt vieldeutig auf die Überwachungskameras an der Decke, die jeden unserer Handgriffe aufzeichnen. Überall gibt es Kameras. Gegen Diebstahl, heißt es. Aber sogar im einzigen Aufenthaltsraum, einem Raucherraum, wurde überwacht. Das ist lange unentdeckt geblieben. Irgendwann hat ein Kollege gemerkt, dass in einem Bewegungsmelder eine Kamera steckte. Sie war mit einer Abhöreinrichtung gekoppelt und wurde vom Betriebsrat entfernt. Offen bleibt, ob auch in anderen Depots heimlich derartige Überwachungstechnik installiert ist.

Kontrollieren und strafen – GLS hat ein komplettes Überwachungs- und Strafsystem konstruiert, mit dem die Fahrer und ihre Subunternehmer schikaniert und ausgenommen werden können.

Ich brauche zwei, drei Tage, bis ich selber aus den Paketen, die an mir vorbeiziehen, unsere herausfischen kann. Bei meinem Kollegen Andy hat sich die 6010, mit der die Pakete unserer Tour gekennzeichnet sind, längst in die Netzhaut eingebrannt. Seine Augen arbeiten wie ein Scanner, kommt die Zahl, greift er automatisch zu, nimmt das Paket vom Band und legt es hinter sich auf den Boden. Einen Teil der Pakete scannt er dann auch gleich elektronisch, die anderen erst beim Einladen. Mit dem Scannen beginnt die Überwachung des weiteren Arbeitsablaufs durch GLS. Diese erste Phase des Jobs, das Paketefischen und -laden, wird nicht bezahlt. Sie wird als »vorbereitende Arbeit« deklariert. Eine Ungeheuerlichkeit, ein Trick, um bei möglichen Prüfungen den gesetzlich geschützten Normalarbeitstag von maximal zehn Stunden nicht zu überschreiten.

Als ich mein erstes 6010er-Paket gegriffen habe und hinter mich auf den Boden werfe, bekomme ich einen Anpfiff von Andy. Man darf ein Paket nicht werfen, auch wenn es durch den Wurf nicht beschädigt wird. Denn jeder Wurf kann 50 Euro Vertragsstrafe bedeuten.

Wenn der Fahrer vor dem Einladen und bei der Übergabe an den Kunden das Paket scannt, übermittelt er nicht nur diese beiden Vorgänge an das Depot, sondern auch die exakte Uhrzeit. Jeden seiner Stopps und damit auch jede Pause kann man also anhand der Scannerprotokolle nachvollziehen – der Fahrer ist eine gläserne Gestalt. So kann der Strafenkatalog von GLS umso besser greifen. Er zählt 25 mögliche Verstöße auf. Die Vertragsstrafen reichen von 12 bis 250 Euro. Eine Paketzustellung ohne Kundenunterschrift kann 77 Euro kosten – auch wenn sich niemand beschwert. Für unvollständige »Imagekleidung«, die vorgeschriebene Uniform des Fahrers, kann GLS pro Tag 25 Euro Strafe verlangen, eine um einen Tag verspätete Paketauslieferung kostet 25 Euro, wer sein Fahrzeug beim Abgeben eines Pakets nicht abschließt, den kann das mit 100 Euro teuer zu stehen kommen, für das Nachmachen der Empfängerunterschrift, was bei dem täglichen Stress immer wieder vorkommt, können 250 Euro kassiert werden. Und so weiter und so fort. Dieser Katalog öffnet der Willkür Tür und Tor. Wenn GLS – aus welchen Gründen auch immer – einen Fahrer oder Subunternehmer loswerden will, kann das Unternehmen davon Gebrauch machen. Diese ständige Drohung macht gefügig.

Der Wagen, in dem ich mit Andy meine ersten Tage absolviere, ist eigentlich nicht mehr verkehrstauglich, überall Beulen, rechts im Rückspiegel Risse, sodass Andy beim Zurücksetzen Probleme hat. Kein Warnblinker, was bei den ständigen Stopps einen Auffahrunfall verursachen kann, auch im Winter bei Schnee noch Sommerreifen. »Ich gefährde nicht nur mich, ich gefährde auch andere. Es ist unverantwortlich. Aber was kann ich machen? Nichts.« Andy stöhnt – und fährt weiter. Für einen intakten und gepflegten Wagen hat sein Subunternehmer kein Geld. Andy nimmt ihn in Schutz und sagt: »Der ist genauso eine arme Sau wie ich«, der komme auch auf keinen grünen Zweig. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis der hinschmeiße.

An meinem ersten Arbeitstag legen wir über 200 Kilometer zurück. Wir machen keine einzige Pause, die diesen Namen verdient hätte, wir nehmen nichts Warmes zu uns, Andy isst den ganzen Tag über gar nichts, sein nervöser Magen behält bei dieser Hektik nichts bei sich, wie er sagt. Er trinkt nur seine Dosen mit »Monster«, einem sogenannten Energydrink auf Koffeinbasis. Im Fußraum steht eine ganze Palette davon. Weil das ins Geld geht, fährt Andy nach Luxemburg und holt sich da seinen Stoff billiger.

Auf der Ablage unter der Frontscheibe seines Wagens hat Andy verschiedene Schmerztabletten liegen. Weil er den ganzen Tag schuftet und nur von diesen Aufputschmitteln lebt, hat er häufig Magenschmerzen. Dann nimmt er Magentabletten. Die anderen Tabletten sind gegen Rückenschmerzen, sie enthalten Ibuprofen, das das Reaktionsvermögen so stark beeinträchtigen kann, dass Autofahren gefährlich wird – auch die nimmt Andy nach mittlerweile vier Jahren als Paketfahrer immer häufiger.

Wie Andy geht es vielen. Diese Arbeit ist Raubbau am Körper. 12- bis 15-Stunden-Schichten, ohne geregelte Pausen, eigentlich überhaupt ohne Pausen, machen krank. Obwohl die Verordnungen über Lenk- und Pausenzeiten für Kraftfahrer das verhindern sollen: Eine Dreiviertelstunde Pause nach 4,5 Stunden Lenkzeit ist vorgeschrieben.

GLS rechnet auch mit einer Arbeitszeit der Fahrer von täglich zwölf Stunden. In seinen schriftlichen »Angeboten« für Subunternehmer sind diese zwölf Stunden ganz unverhohlen als Kalkulationsgrundlage eingetragen. Diese Dokumente haben GLS bislang eigenartigerweise noch nicht vor Gericht gebracht. Das mag daran liegen, dass GLS die Fahrer ja nicht selbst einstellt. Aber in Wahrheit diktiert das Unternehmen die Bedingungen.

In der ersten kurzen Nacht nach meinem ersten langen Arbeitstag habe ich einen Albtraum. Irgendjemand erkennt mich, meine Verkleidung fliegt auf. Die Gefahr, identifiziert zu werden, beunruhigt mich auch, wenn ich wach bin. Schon am ersten Tag bin ich schließlich über hundert Menschen begegnet. Aber die Angst ist unbegründet, wie ich bald merke. Ich stehe den Kunden zwar an der Tür direkt gegenüber, ich rede mit ihnen, aber keiner schöpft Verdacht. Nicht am ersten Tag, nicht an den folgenden Tagen. Die GLS-Uniform verschluckt das Individuum. Paketauslieferer gehören zu einer Kategorie von Menschen, die nur in ihrer Funktion wahrgenommen werden. Dienstboten schaut man nicht ins Gesicht. Sie fallen erst auf, wenn sie in großer Zahl ihre Rechte einfordern.

Immer wieder bekomme ich während der Arbeit die Verzweiflung der Boten zu spüren, nämlich dann, wenn der Paketempfänger nicht anzutreffen ist. Du klingelst. Nichts. Mehrmals. Nichts. Versuchst es bei Nachbarn. Aber die sind bei der Arbeit oder weigern sich, das Paket anzunehmen. Währenddessen verrinnen die Minuten. Endlich öffnet einer nach wiederholtem Klingeln. Aber der will nicht unterschreiben. Wieder vergehen Minuten. Du bist trotzdem dankbar, dass der Nachbar die Sendung annimmt, sonst hast du nämlich morgen noch ein Paket mehr auszuliefern. Du kritzelst also selbst etwas auf das Display, als die Tür hinter dem freundlichen Nachbarn ins Schloss fällt.

Für einen Monatslohn von 1.300 Euro brutto schuften die Fahrer rund um die Uhr

Zum nächsten Stopp sind es 15 Kilometer Landstraße. Der Tacho zeigt 130. Geschwindigkeitsbegrenzungen muss ein Fahrer ignorieren, anders sind die langen Touren nicht zu schaffen. Andy weiß, wo die Blitzanlagen stehen, dann geht er mit dem Tempo runter. Manche Subunternehmer übernehmen Strafmandate für zu schnelles Fahren, andere nicht. Die Punkte in Flensburg gehen natürlich aufs Konto des Fahrers. Und das Risiko, einen Unfall zu bauen oder irgendwann den Führerschein zu verlieren, auch. Andy hatte schon zehn Punkte wegen Geschwindigkeitsüberschreitungen. Deshalb hat die Deutsche Post ihn abgelehnt, wo er sich wegen der geregelten Arbeitszeit und des besseren Stundenlohns beworben hatte. So sei das halt, sagt er. »Wenn du dein Punktekonto schon so voll hast, nimmt dich kein anderer mehr. Und wenn du am Ende für zwei, drei Monate deinen Führerschein abgenommen kriegst, dann hast du echt die A-Karte gezogen. Aber das ist normal. Du fährst, bis dein Punktekonto voll ist, und dann ist erst mal Feierabend.«

Ein ehemaliger Subunternehmer hat erlebt, dass ein Depotleiter den Kollegen gefälschte Führerscheine ausgehändigt hat. Nicht aus Menschenfreundlichkeit – keiner seiner Subs, wie die Subunternehmer in der Branche genannt werden, hatte Fahrer übrig, und die Pakete mussten raus.

Bei der Arbeit als Paketbote werden auch andere Gesetze überschritten. Zum Beispiel das Gebot aus dem Arbeitszeitgesetz, dass zwischen dem Ende des letzten und dem Anfang des nächsten Arbeitstages mindestens elf Stunden liegen müssen. Kehren die Fahrer erst um 19 oder 20 Uhr nach Hause zurück und sind um halb fünf morgens schon wieder auf dem Weg zur Arbeit, haben sie nicht einmal zehn Stunden, in den Stoßzeiten vor Weihnachten sogar nur acht oder neun Stunden Ruhezeit. Die unausweichliche Folge dieser ständigen Übermüdung ist, dass sie sich selbst und andere im Straßenverkehr erheblich gefährden.

Makulatur ist auch das Fahrtenbuch. »Wir nennen es das Märchenbuch«, sagt Andy. »Das hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Wenn du entsprechend dem Gesetz nach 4,5 Stunden Fahrt eine Dreiviertelstunde Pause machst, kommst du abends nämlich nicht im Depot an.« Er hat gerade das Fahrtenbuch rausgeholt und trägt mit Kuli die zulässigen 4,5 Stunden Fahrtzeit ein, obwohl wir schon sieben unterwegs sind. Die Lüge hat System, erfahrene Polizisten wissen, dass das Fahrtenbuch der Paketfahrer ein Witz ist.Du fährst, bis dein Punktekonto voll ist, und dann ist erst mal Feierabend.

Den Fahrern und ihren Subs wird von GLS sogar geraten, das Fahrtenbuch nicht allzu ernst zu nehmen und die Fahrtzeiten zu schönen. GLS weiß also auch hier, wie die Realität aussieht.

Die Fahrer notieren aber auch ihre tatsächlichen Arbeits- und Fahrtzeiten. Für ihren Chef und für die Steuer – denn nur nach 14 Stunden können sie den steuerfreien »Verpflegungsmehraufwand« von täglich zwölf Euro abrechnen. So brauchen sie etwa 250 Euro ihres Lohns nicht zu versteuern und kommen dann im besten Fall trotz des geringen Bruttolohns auf ungefähr 1000 bis 1200 Euro netto.

Weder die kriminell langen Arbeitszeiten der Fahrer noch die fehlenden Pausen und die Verletzung der entsprechenden Verordnung haben GLS den Hals gebrochen. Wer sich angesichts solcher gesetzeswidrigen Vorgaben den Hals bricht, sind die Fahrer. Eigentlich sollte jeder Konzern eine Statistik über Unfälle, besonders die mit tödlichem Ausgang, veröffentlichen müssen.

Aber es gibt diese Statistiken nicht. Es gibt nur Erfahrungswerte. Bei den Gesprächen, die ich mit Fahrern führe, meist am Wochenende, sonst ist ja keine Zeit, höre ich von vielen Beinahe-Katastrophen. »Manchmal haben wir Tage, an denen wir um 20 Uhr nach Hause kommen«, erzählt mir ein Subunternehmer, der auch selbst fährt. »Dann schlafe ich nur fünf oder sechs Stunden, das ist zu wenig.« Einmal wurde er krank, ist trotzdem weitergefahren. An diesem Tag habe er gleich zwei Unfälle gebaut. Beide Male glücklicherweise ohne Verletzte. »Ich kenne das auch von meinen Fahrern«, sagt er. »Einer, eigentlich ein guter Fahrer, ist im Kreisverkehr in Tuttlingen eingeschlafen. Einfach eingeschlafen. 8.000 Euro Schaden am Fahrzeug. Aber ihm ist glücklicherweise nichts passiert.« Der Sekundenschlaf ist ständiger Begleiter der Fahrer. Ein Schock, wenn man aufschreckt, auch wenn nichts passiert.

Im ersten Depot, in dem ich war, hatte ein Fahrer, der erst zwei oder drei Monate dabei war, einen tödlichen Unfall. Er donnerte morgens auf dem Weg zur Arbeit gegen einen Pfeiler. Da haben Kollegen für einen Tag die Arbeit niedergelegt. Geändert hat sich nichts. Das wird es auch nicht, solange es keine gesetzliche Meldepflicht für derartige Un- und Todesfälle gibt.

Nach meinen ersten Fahrten in den Tagen vor Weihnachten hatte ich noch geglaubt, nur diese Zeit sei besonders stressig. Aber als ich einige Zeit später in einem anderen Depot anheure, ist es nicht besser. Diesmal fahre ich mit Augustine Frimpong, einem Deutschghanaer, der in seinem Herkunftsland Lehrer war. Er hat drei kleine Kinder, ist ein bewundernswert sanfter Familienvater, der in sich zu ruhen scheint. Aber als uns der erste Stopp zu einer Straße in einem Industriegebiet führt, ist es dasselbe Tempo, dieselbe Hetze, dasselbe Rennen wie mit Andy.

Ich mache Marathontraining, hebe Gewichte. Aber mit den Paketen im Arm ist alles ganz anders. Und das bei weit über 100 Stopps am Tag. Die Arbeit als Paketauslieferer im Dauerlauf und Dauerstress hat mich an meine Grenzen gebracht. Obwohl ich durchtrainiert bin und harte Arbeit kenne. Ich schäme mich fast, darüber mehr als einen Satz zu verlieren. Denn die Männer und die wenigen Frauen, die sich diesen Job antun, ertragen in den Monaten und Jahren, in denen sie durchhalten, ein Vielfaches. Dahinter verblasst meine Erschöpfung, sie wird nichtig. Denn was mir die Kollegen in dieser Zeit berichtet haben, welche Zerstörung an Leib und Seele diese Arbeit für sie gebracht hat – ich hatte geglaubt, so etwas gäbe es seit dem Frühkapitalismus nicht mehr, und wenn, dann auf anderen Kontinenten, die wir »Dritte Welt« nennen.

Augustine will gar nicht nachrechnen, auf welchen Stundensatz er kommt. »Dann hab ich überhaupt keinen Bock mehr«, sagt er. Schaut er dann doch mal genauer hin, kriegt er »die Krise«. Wenn er kurz nach fünf im Depot ist und abends gegen 19 Uhr zurückkehrt, manchmal früher, meist später, kommt er auf 14 Stunden, vor Weihnachten werden es 16 Stunden. In der Woche sind das über 70 Stunden, im Monat 280 bis 300, und das für einen Stundenlohn, der bei vier bis fünf Euro liegt. Er macht den Job trotzdem – nicht nur, weil es schwer ist, einen anderen zu bekommen. Es droht auch Hartz IV, was ihn zu einem Almosenempfänger degradieren würde.

Die sechsjährige Tochter von Augustine bringt es mit kindlicher Naivität auf den Punkt. Wenn er wirklich mal – selten genug – um 18 Uhr nach Hause kommt, fragt sie: »Papa, hast du heute nicht gearbeitet?«

Viele Fahrer sind Araber oder Türken. Sie bekommen keine besseren Jobs

Mit wie viel Galgenhumor manche Fahrer ihren Job machen, erfahre ich im Depot Rennerod, in dem ich später recherchiere. »Uns ist das vom Prinzip her kackeimeregal«, sagt einer der Fahrer. »Kackeimeregal« ist ihm, dass er für dieses kümmerliche Festgehalt fährt und die Anzahl seiner Arbeitsstunden gar nicht mehr zählt. Montags früh wird er von seinem Sub zu Hause abgeholt, mit sechs anderen, so gegen drei Uhr, wenn der Hahn noch nicht gekräht hat. Dann geht’s in eine ehemalige Schule, wo die Männer während der Arbeitswoche wohnen. Erst mal werden nur die Sachen abgestellt, dann schnell ins Depot, Pakete sortieren und packen und rauf auf den Wagen. Dann ist die ganze Woche Maloche angesagt. Am Freitag fährt ihr Sub sie wieder nach Hause. »Der Job ist krisensicher, wenn du keinen Scheiß machst«, sagt der Fahrer, der aus einem Dorf in Thüringen kommt. Er ist einer der wenigen, die das schon seit mehreren Jahren machen. »Zu Hause, da, wo ich herkomme, gehören wir noch zu den Reichen«, sagt er und lacht.

Andy und ich sind bald befreundet, das geht schnell in so einem Knochenjob. Auf einer unserer Fahrten erfahre ich zufällig, dass Andy an diesem Tag Geburtstag hat. »Feierst du?«, frage ich ihn. Nein, antwortet er, das mache er nie. Ich überrede ihn dann doch, mit mir am Abend zum Italiener zu gehen. Er bestellt zum Essen eine Cola, Alkohol trinkt er nie, der mache ihn zu schlapp, sagt er. Er komme dann am nächsten Tag nicht aus dem Bett und halte nicht durch.

Eigentlich ist Andy Fahrer aus Überzeugung, nach einer Malerlehre hat er bei verschiedenen Firmen als Fahrer gearbeitet, dann war er längere Zeit arbeitslos und bewarb sich auf eine Anzeige hin bei GLS. Das Fahren unter erträglichen Bedingungen würde ihm sogar Spaß machen. »Als Fahrer bist du allein und für dich selbst verantwortlich, du hast keinen, der dir reinredet.« Aber das Ausliefern unter dem irren Zeitdruck ist für alle Fahrer eine ständige Überforderung. Du bist ein Gejagter. Es gibt Fahrer, die den ganzen Stress nicht mehr aushalten, die den Sprinter irgendwo stehen lassen und dann den Chef anrufen und ihm sagen: »Ich komm nicht mehr. Hol dir deine Karre! Der Schlüssel steckt.«

Andy ist Single. Viele Fahrer leben allein, weil eine Beziehung bei den Arbeitsbedingungen selten funktioniert. Noch schlimmer ist es bei den Subunternehmern, die GLS zwischen sich und die Fahrer schaltet. Ich habe bei meinen Recherchen über ein Dutzend Subunternehmer kennengelernt, die für GLS fahren oder gefahren sind. Bei allen mit zwei Ausnahmen sind die Beziehungen kaputtgegangen, die Familien zerbrochen.

Auch die Ehe von Viktor Beran, der in Wahrheit nicht so heißt, einem Subunternehmer aus dem Westerwald, hat nicht gehalten. Er war drei Jahre lang unter anderem für GLS tätig. »Der einzige Tag«, sagt Beran, »an dem wir Zeit miteinander gehabt hätten, war der Sonntag. Und da wollte ich meine Ruhe haben. Ich wollte schlafen. Mehr nicht. Meine Kinder habe ich nicht gesehen. Wie die aufgewachsen sind, die ersten Zähne bekommen haben, angefangen haben zu laufen. Nichts. Ich habe nichts mitbekommen. Ich habe gar keine Familie gehabt.«

Wenn er über seinen Job redet, dann redet er über die Ausweglosigkeit. Beran hat zuletzt teils gleichzeitig für den Nachtexpress von Eiltrans, für GLS und DPD gearbeitet. Nicht weil er größenwahnsinnig gewesen wäre oder mit drei Jobs schnell zum Millionär werden wollte. Sondern weil es nicht anders ging. »Ich musste einen zweiten Job annehmen, weil der erste zu wenig gebracht hat. Als Selbstständiger kann man sich ja nicht auf ein festes Einkommen verlassen. Ich wurde pro Paket bezahlt, also musste ich fahren.«

Als er seinen ersten Job bei DPD anfing, wurde ihm ein guter Pauschalpreis zugesagt. Aber das blieb eine leere Versprechung. Um finanziell über die Runden zu kommen, wurde Beran auch bei anderen Paketdiensten Subunternehmer und stellte Fahrer ein, die seine Autos Tag und Nacht optimal auslasten sollten. Vier Wagen hatte er laufen.

Ganz schlimm für einen Subunternehmer ist es, wenn ein Fahrer krank wird. Dann übernimmt in der Regel ein Kurier als Springer die Tour, und das Depot berechnet mehr dafür, als der Sub selber verdient hätte. Der Springer hat auch höhere Ausgaben, allein deshalb, weil er zu einem neuen Einsatzort fahren muss und oft die Tour noch nicht kennt. Ein kranker Fahrer heißt also, dass der Subunternehmer in die Miesen rasselt. In die Miesen rasselt der Subunternehmer auch, wenn ein Auto kaputt ist.

Manche Touren fuhr Viktor Beran selbst, sie waren so lang, dass er nicht mehr nach Hause kam, sondern auf einer ausgerollten Matratze im Wagen schlief. Geld für ein Hotel war nicht da. Aber weil die Hoffnung blieb, dass irgendwann die Einkünfte stimmen würden, blieb er dabei. Außerdem hatte er die Leasingverträge für die Autos laufen, die er nicht ohne Verlust hätte kündigen können.

Als Beran seine Krankenversicherung nicht mehr bezahlen konnte und die Löhne für seine Fahrer auch nicht, war sein Haus dran. Für 105.000 Euro hatte er es gekauft, für 27.000 Euro wurde es zwangsversteigert. Es blieben Schulden von 100.000 Euro.

Ich habe später recherchiert und herumgefragt, wie lange die Subunternehmer bei GLS aushalten. Die meisten, die mit mir sprachen, hatten nach zwei oder drei, maximal vier Jahren aufgegeben. In der Branche sind etwa 11.000 Subunternehmer tätig. Viele von ihnen kommen aus der Türkei, aus arabischen Ländern oder sind Russlanddeutsche. Oder sie kommen aus besonders strukturschwachen Gegenden Deutschlands und hoffen, als selbstständige Unternehmer ihrer Misere endlich entfliehen zu können. Doch mit GSL geraten sie erst richtig hinein. »GLS = Geh lieber selbst!«, übersetzen weitsichtige Subs den Konzernnamen. Was heißen soll: Flüchte, bevor es zu spät ist.

Wie sich später bei einem verdeckt geführten Bewerbungsgespräch für einen Führungsjob bei GLS herausstellt, ist dem Management von GLS all das völlig klar. In diesem Bewerbungsgespräch wird nicht nur der Sinn der GLS-Strafen erklärt, dass man nämlich mit »Bußgeldern« (so die Sprachregelung auf der höheren Ebene) »den richtigen Draht« zu den Fahrern beziehungsweise den Subs finde, weil man »nicht direkt weisungsbefugt« sei. Es wird auch erklärt, dass GLS »von der Struktur her die Risiken auslagert«; GLS hafte weder für verloren gegangene oder beschädigte Pakete noch für Schäden an den Autos oder für Gesetzesüberschreitungen jeglicher Art, also Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung, die Arbeitszeitgesetze oder die Pflichten zur Sozialabgabe. Man weiß im Management auch, dass die Fahrer »ohne Pause oder vielleicht mit einer kleinen Pause« unterwegs sind, nicht vor 17 Uhr zurückkommen und »um die fünf Tonnen bewegen«. »Ein harter Job, muss ich sagen«, sagt der Personalmanager, weniger mitfühlend als feststellend. Das Einzige, was er in diesem Einstellungsgespräch bedauert, ist die geringe Arbeitslosenquote in der Region. Die liege »leider« in diesem Teil Süddeutschlands nur bei drei Prozent. »Die Krux an der ganzen Geschichte: Der hat morgen wieder einen Job.« Und dann bringt der Personalmanager noch seine elitäre Verachtung zum Ausdruck: »Diese Leute sind halt dafür geboren! – Wir kriegen hier sowieso nur Pack.«

Von diesem Konzern wurde auch der 51-jährige Ioannis Katsenos, der zeitweise 40 Fahrer beschäftigt hatte, in den Ruin getrieben. Weil GLS seinen Paketpreis immer weiter nach unten drückte, lief bei ihm ein Schuldenberg von 170.000 Euro auf, und er ging pleite. Katsenos war zuvor noch vorgeschlagen worden, er solle doch Leute aus Polen holen und sie im Wagen oder im Lagerraum schlafen lassen. Am Wochenende könne er sie dann nach Hause schicken. Das wäre alles sehr preisgünstig. »Sind wir Menschen?«, hat Katsenos gefragt. »Sie haben keine Wahl«, habe man ihm geantwortet. Katsenos hat es nicht gemacht. Einem anderen hatte man vorgeschlagen, er solle Rumänen holen, die seien noch billiger. Dieser Subunternehmer hat das tatsächlich versucht; nur einer der Rumänen habe durchgehalten, die anderen hätten kein Deutsch gesprochen und seien schon an der Paketauslieferung gescheitert.

Ein anderes Beispiel für die Methoden von GLS ist die Geschichte des 28-jährigen Jan Jansen, dem der Konzern als Strafe für schlechte Auslieferungsquoten den Paketpreis kürzte. Das waren pro Monat mit einem Federstrich 1.650 Euro weniger. Noch ehe Jansen pleite war, inserierte GLS, ohne ihm das mitzuteilen, seine Touren im Internet. Für andere Interessenten, für neue Subs, für die nächsten, die sich auf die falschen Versprechungen einließen. Der Nachfolger hatte dann tatsächlich auch schon unterschrieben, bevor GLS Jansen kurz nach Weihnachten 2010 kündigte. Sein Schuldenberg betrug 113.000 Euro. Doch auch der Neue warf schon nach vier Monaten das Handtuch, dann folgte eine ehemalige Fahrerin. Sie hielt ein Jahr lang durch, bevor auch sie in die Insolvenz getrieben wurde.

Ein weiterer Fall ist der von Senar Baykara. Er ist 35 Jahre alt, hat zwei Kinder, acht und neun Jahre alt. Bei GLS hat er im letzten Jahr 50.000 Euro Miese gemacht. Mit 18 Wagen und etwa 20 Fahrern. Warum? »Sie spielen mit dir, sie ändern den Vertrag, sie schöpfen dich mit Strafgeldern ab. Sie sehen ja, wenn ein Unternehmer gut verdient, dann machen sie mit dir einen neuen Vertrag, ziehen ein paar Cent pro Paket ab und drücken dir noch ein paar schlechte Touren auf.« Und wenn man sich weigere, dann drohten sie, dass sie dem Sub auch noch die guten Touren abnehmen würden.

Als Baykara Anfang 2011 kündigen wollte, bekam er mündlich mehr Cent pro Paket versprochen. Er wollte es schriftlich haben. »Ja, kommt später«, habe man ihm gesagt, und er fuhr weiter. Was kam, waren zwei Cent mehr. »Dann hab ich erneut darauf bestanden, dass es mehr werden muss, der Depotleiter hat das zugesagt. Aber auch am Ende des Monats kam nichts. Dann habe ich am 28.2. meine zweite Kündigung geschrieben. Die hat der Transportleiter, dem ich sie in die Hand gedrückt habe, angeblich nicht bekommen. Also habe ich die nächste Kündigung im März geschrieben und mich mit dem Versprechen hinhalten lassen, ich würde einen Springervertrag bekommen, bei dem man ja mehr verdient. 200 bis 300 Euro für eine Tour anstatt 120 Euro wie der normale Sub.«

Senar Baykara setzte seine Wagen also für Springerdienste ein, bekam aber weder einen entsprechenden Vertrag noch das höhere Entgelt. Am 15. April kündigte er dann fristlos. Er fuhr noch für ein anderes Depot, das Depot Neuenstein. Denn dort hatte er drei Monate Kündigungsfrist, bis zum Juli 2011. »Ich bin also weitergefahren«, erzählt er, »mit 18 Wagen. Habe aber keinen Cent bekommen für die ganze Zeit. 55.700 Euro habe ich in dieser Zeit ausgegeben, für die Löhne, die Wagen, den Sprit. Und nichts dafür eingenommen, weil sich GLS geweigert hat, mich zu bezahlen. Ich konnte in dieser Zeit manchmal meine Fahrer nicht bezahlen, die hatten kein Geld mehr zum Einkaufen.« Einmal sei der Sohn eines Freundes, der schon lange für ihn fuhr, gekommen und habe ihn gebeten, ihm doch wenigstens 100 oder 200 Euro zu geben, weil sie kein Brot mehr zu Hause hätten.

Mit einem System von Geldstrafen werden die Fahrer und Subunternehmer schikaniert

Senar Baykara berichtet, der Konzern habe ihm Ende Mai 2011 eine Liste mit angeblich von seinen Fahrern verursachten Vertragsstrafen zugeschickt. Danach soll seine Firma im Mai 2011 über 65.000 Euro an Schäden beziehungsweise in Geldstrafen umgerechneten Vertragsverletzungen verursacht haben; sogar an Tagen, an denen seine Sprinter gar nicht gefahren sind. Diese »Forderung« rechnet GLS gegen Baykaras Forderungen auf.

Der hat seine Ansprüche bei Gericht angemeldet und Klage gegen GLS eingereicht. Aber seine Schulden steigen weiter, er hat nichts zum Leben, und der Anwalt will auch Geld sehen. Der Logistikkonzern hat seine Rechtsabteilung. Er kann seelenruhig abwarten.

Und welche Rolle spielen wir, die Konsumenten, die Nutznießer dieser viel zu billigen Paketauslieferung? Wir verschließen nicht nur die Augen vor den Ausbeutungsmethoden, denen die Fahrer und ihre Subs ausgesetzt sind. Wir machen uns zu Mittätern, solange wir weiterhin Waren bedenkenlos zu Billigtarifen ordern.

Auch der Umwelt werden durch dieses verrückte System Schäden zugefügt. Alle Konzerne lassen dieselben Strecken befahren, doppelt und dreifach wird Sprit verschleudert. Dabei könnte einer der Fahrer alle Auslieferungen in einem jeweils kleineren Bezirk übernehmen. Er hätte weniger Stress, und es gäbe trotzdem keine Entlassungen, weil jeder genug Arbeit in überschaubaren Regionen hätte. Das wäre der Vorteil eines geordneten Auslieferungssystems, der alten Post nicht unähnlich.

Es wundert nicht, wenn unter diesen Bedingungen die meisten Fahrer höchstens zwei, drei Jahre durchhalten. Und wenn von zehn Fahrern, die angelernt werden, gerade mal einer oder zwei den Job tatsächlich antreten. Die Arbeit zehrt an der Gesundheit, auch bei den vorwiegend jungen Fahrern. Sie altern in einem rasanten Tempo.

Andy, mein erster Kollege, hat zu Hause ein Foto von sich und seiner früheren Freundin stehen. Er sieht dort gesund und strahlend und mindestens zehn Jahre jünger aus als heute. Aber das Foto ist gerade mal vier Jahre alt.

Andy sagt, er liebe seine Exfreundin immer noch, aber er könne als Paketfahrer nicht ernsthaft darauf hoffen, eine Frau zu finden. Eigentlich will er gerne eine Familie gründen und Kinder haben. Er selbst hat sechs Geschwister und kümmert sich an den Wochenenden um seinen kranken Vater, der durch Arbeit verschlissen und nach mehreren Operationen pflegebedürftig ist. Ich frage ihn, wie er sich seine Frau vorstellt. »Sie muss zu mir passen, ist ja klar. Sie kann auch gern ein Kind mitbringen. Aber meine Vorstellungen sind ziemlich egal«, antwortet Andy, »welche Frau nimmt schon jemanden wie mich?«

Unterdessen machen die Logistikkonzerne satte Gewinne. Allein GLS erzielte 2010 europaweit einen Umsatz von 1,75 Milliarden Euro, fünf Prozent mehr als im Vorjahr, Tendenz steigend. Der Gewinn stieg sogar um zehn Prozent auf 145 Millionen Euro. Mit den Dumpingmethoden von GLS, Hermes, DPD und anderen wächst der Druck auf Konzerne wie die Deutsche Post und UPS, wo es noch größtenteils erträgliche Arbeitsbedingungen und eine tarifliche Entlohnung gibt. Am Ende dieser Ausbeuterei zahlt die Gesellschaft noch einmal drauf. Am Ende soll heißen: Die unterbezahlten Fahrer steuern zielgenau in die Altersarmut und müssen dann von der Allgemeinheit alimentiert werden. Wie verblendet ist eigentlich eine Politik, die das zulässt?

Auf Anfragen antwortet der Konzern GLS: »Die Transportunternehmen werden bei der Erledigung von Transportaufträgen von GLS grundsätzlich zur Beschäftigung von Fahrern in rechtskonformen, sozialversicherungspflichtigen Anstellungsverhältnissen verpflichtet.«