Die Ordnung der Dinge

Von Matthias Hannemann

Der Protest gegen die "Antiislamisierungskonferenz" in Köln war deutlich. Die Motive auf den Barrikaden waren es weniger. Man singt viel von Demokratie und Meinungsfreiheit und kann sie im Grunde nicht ertragen.

Der ältere Mann hatte die braune Jacke aus dem Schrank geholt: die wasserabweisende mit dem Reißverschluss, wie es sie im Versandhandel oder im Kaffeeladen um die Ecke zu kaufen gibt. Dazu ein Lederetui für die Farbkopie mit der Großmoschee. Eigentlich unauffällig, dachte er. Eigentlich schien nichts dabei zu sein, mit der S-Bahn in die Stadt zu fahren und sich am Dom entlang bis zur Altstadt vorzukämpfen. So machen es viele an diesem Samstag im September, auch ältere Herren von seiner Statur.

Einhundert Meter vor dem Heumarkt glauben sie ihn trotzdem zu erkennen. "Nicht durchlassen, nicht durchlassen!", brüllt eine Frau, deren Stimme vom Schreien schon ganz heiser klingt. Sie steht in einer schmalen Gasse, inmitten eines Pulks aus aufgeregten Menschen. Die Umstehenden greifen ihre Parole auf, hysterisch, laut und wie ein Mann: "Nicht durchlassen, nicht durchlassen!", rufen sie. Dann löst sich ein Kerl aus der Wegsperre, er ist groß und stark und bösen Blickes.

Der Mann trägt eine grelle Ordnerweste, als käme er vom Saalschutz. Parteiabzeichen sind auf den Stoff genäht, er gibt sich reichlich offiziös. "Wer sind Sie, wo wollen Sie hin?", fragt er, und die Menschen hinter ihm wiederholen seine Worte wie im Chor. Einige wollen einen Ausweis sehen. "Wer sind denn Sie, dass ich Ihnen das verraten müsste. Lassen Sie mich durch!", versucht der Eindringling sich zu wehren. Doch man drängt ihn zurück - zu zweit, zu dritt, zu viert, voller Drohgebärden und ganz ohne Polizei. Die steht behelmt und mit angestrengten Gesichtern hinter der Wegsperre und weiß gar nicht, wohin sie schauen soll: zu den Wahnsinnigen vor oder hinter der Blockade.

In Köln, an diesem Samstag im September, singt man viel von Demokratie und Meinungsfreiheit und kann sie - so schmerzhaft das ist - im Grunde nicht ertragen. Man hätte die Rollläden herunterlassen können am Heumarkt. Man hätte stille Zeichen setzen können, so wie es Anwohner in den Schaufenstern mit Blumen und Protestzetteln versucht haben, stillen Widerstand leisten wie die Hoteliers und Taxifahrer, die sich weigerten, Teilnehmer des Kongresses zu beherbergen und in die Stadt zu fahren. Man hätte alles dafür tun können, um dem provokanten "Antiislamisierungskongress" der Rechtspopulisten die Aufmerksamkeit zu entziehen.

Doch nicht einmal das Thema Islam ist an diesem Sonnentag gefragt. Nicht hier unten, direkt am Heumarkt, um den herum in jeder einzelnen der engen Altstadtstraßen ein selbsternannter Stoßtrupp hockt - im Namen der Demokratie.

"War das ein Nazi?", fragt eine Schülerin, als der ältere Herr verschwunden ist. "Das sieht man doch gleich", antwortet irgendjemand. Und bläst Seifenblasen in die Luft, die hübsch zerplatzen. Der Jubel der Zustimmenden übertönt selbst den Polizeihubschrauber. Seit Stunden hängt der über dem Rhein. Beobachtet, wie sich die Innenstadt füllt. Wie der Heumarkt leer bleibt. Wie sich am nahe gelegenen Bahnhof die Züge auf den Gleisen stauen; die Strecke nach Köln ist nach einem Anschlag auf eine Signalanlage teilweise blockiert.

"Was haltet ihr denn eigentlich von der Moschee in Köln, die bald gebaut wird?" Am Buttermarkt, der von Kneipen gesäumten Parallelstraße zum Rheinufer, steht ein Herr mit Brille vor einer der Blockaden. Ein Lehrer offenbar. Er legt darauf Wert, gegen die Gesinnung von "Pro Köln" zu demonstrieren. Doch er zögert plötzlich, sich zu den Menschen hinter der Absperrung zu stellen. Was ihn stört, sind die alarmfarbenen Ordnerwesten. Sie prägen auch hier das Bild. Sollen es auch. Denn ausgegeben hat sie "Die Linke", für zwölf Euro das Stück, wie es heißt. Beim Gewerkschaftsbund soll es dunklere Westen kostenlos gegeben haben. "Na los, was haltet ihr davon?", wiederholt der Lehrer seine Frage. Die Westenträger schauen sich an, kopfschüttelnd: "Du bist doch auch nur einer von denen", sagt der eine, der mit dem Spanferkelbrötchen im Mund. "Ich finde das nicht in Ordnung, wie das hier abläuft", sagt der Lehrer. "Wir müssen demonstrieren, klar. Denen da geht es ja gar nicht um Köln. Aber." - "Faschist!", unterbricht ihn der Ordnungshüter. "Ihr seid doch genauso krank wie die Rechten, die ihr stark macht. Verfluchte DDR", ereifert sich der Lehrer. "Faschist! Mach bloß, dass du wegkommst!", schleudert man ihm ins Gesicht.

Prompt stimmt eine Gruppe auf den Barrikaden die "Internationale" an. Nicht etwa halb im Scherz, wie dies früher bei Demonstranten einmal üblich war, zumal bei euphorisierten Juso-Grüppchen. Sondern laut und aggressiv, durchmischt mit antikapitalistischen Parolen, die nach einer Woche wie dieser so selbstverständlich skandiert werden wie selten zuvor. Abends, im Fernsehen, wird ein "Pro Köln"-Aktivist zu sehen sein, der "Nieder mit den Kapitalisten!" brüllt.

Einige Schüler, die sich ebenfalls in die Menschenmenge an der Wegsperre gemischt haben, schauen sich unsicher an. Sie wissen nicht genau, was eigentlich in der Altstadt passiert. Dann aber singen sie mit. Vorsichtshalber. Schon weil ein Kamerateam jetzt auf die Absperrung draufhält.

Und das, obwohl die Kameraleute die Gruppen mit den schwarzen Kapuzenpullovern und den Allwetterjacken gesehen haben. Nur wenige Meter weiter, auf der Wiese am Rhein, streifen sie schwarze Sonnenbrillen über, knoten sich schwarze Tücher vor das Gesicht. "Hier sind doch überall Kameras der Rechten. Die führen doch Listen", murmelt einer von ihnen, überrascht über die Frage nach Sinn und Zweck der Vermummung. Ganz überzeugt ist er von seiner Antwort aber offenbar selbst nicht. "Lach doch mal", rufen wir ihm zu. Da zieht er tatsächlich die Zähne auseinander. Oder das, was von ihnen noch übrig ist. Am Geländer am Wasser lehnt der ältere Herr mit der braunen Jacke. "Das finde ich nicht gut", murmelt er und schüttelt den Kopf. Was denn genau? "Nee, nee, nee." Wie bitte? "Na, das alles hier", sagt er. Und will dann nicht mehr reden. Nie wieder.

Er ist nicht der Einzige, der hier lehnt oder auf den Steinen vor den Cafés sitzt, ein wenig verstohlen. Einige von ihnen haben sich eben an den Barrikaden noch als Touristen ausgegeben. Als Journalisten. Als Anwohner oder Brauhausbesitzer. Keine Chance. Nur ein Pärchen gibt zu, eigentlich zur Veranstaltung auf dem Heumarkt unterwegs gewesen zu sein. Sie sagen das ganz leise. "Aus Angst", sagt der Mann, "aus Protest gegen die geplante Großmoschee für Köln-Ehrenfeld." "Wegen der Christen in der Türkei", sagt die Frau, "und wegen der Selbstmordattentäter. Die sind ja überall."

Sie sagt das genau in dem Augenblick, als die Polizei die Veranstaltung der Populisten absagt. Aus Sicherheitsgründen. Unterhalb des Turmes von Groß St. Martin fliegen jetzt Gläser und Blumentöpfe durch die Luft. Ziel ist ein Polizeiwagen, hinter dem sich eine Handvoll Männer mit auffallend kurzen Haaren duckt. Feixend, juxend, hohlen Blickes. "Das ist eine Werbeveranstaltung für den Baader-Meinhof-Film", krakeelt es aus dem Biergarten nebenan. "Kei-ne-Gewalt", skandiert von der anderen Seite ein Grüppchen Demonstranten. Ein Martinshorn ertönt von der Brücke, unter der sich eine Unterführung zum Heumarkt befinden soll.

Zeit, sich auf den Weg zu machen nach Ehrenfeld, in den Westen der Stadt. Die Haltestelle, die man uns genannt hat, trägt denkwürdigerweise den Namen "Piusstraße". Sie liegt in der Gegend, durch die "Pro Köln" seine Gäste ursprünglich hatte fahren wollen. In Reisebussen, so als gelte es, einen gefährlichen Freilicht-Zoo zu durchqueren. Die Karawane hätte vermutlich kaum durch die kleine Straße gepasst, die an einer Tankstelle vorbei zu den Fußballplätzen des Viertels führt. Ein Amateurspiel, B-Jugend, findet ausgerechnet heute dort statt. Einige der Väter, die ihre Söhne abliefern, haben einen "Migrationshintergrund". Einige von ihnen nicht.

Aus dem Saal der Moschee sind die Gesänge des Mittagsgebets zu hören. Über den Rundbögen des Eingangs hängt der Schriftzug "Merkez Camii" - "Zentrale Moschee". An den Baracken, in denen Lebensmittel und Bücher verkauft werden, hängen drei Poster. Eines von ihnen zeigt das Modell der neuen Moschee, mit deren Bau in wenigen Wochen, nach dem Ende des Ramadans, begonnen werden soll. Eines ist eine Einladung zum "Tag der offenen Moschee", der im Oktober stattfinden soll. Und eines ist ein Aufruf der Polizei. Sie wisse von der Beunruhigung in der Gemeinde, ist zu lesen. Sie werde dafür sorgen, dass "Sie sich mit Ihrer Kultur und Ihrer Religion bei uns in Köln sicher fühlen können". Doch bitte: "Lassen Sie sich nicht provozieren!", heißt es am Ende.

Der Junge, der am Eingang zu einer der Baracken Fladenbrote verkauft, sagt: "Das ist bei uns auch gepredigt worden. Natürlich halten wir uns daran. Schon weil wir wissen, dass man in einer Demokratie solche Protestauftritte akzeptieren muss. Und weil wir wissen, dass es ja schon demokratische Beschlüsse zum Moscheebau gibt." Eine junge Frau, die einige hundert Meter entfernt steht, sagt: "Demokraten in der Moschee? Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll. Die Atmosphäre ist ja schon auch unter den gläubigen Türken strenger und religiöser geworden."

Der Mann, der sich später in der S-Bahn erschöpft auf den uns gegenüberliegenden Sitz fallen lässt, sagt schließlich: "Denen haben wir es aber gezeigt, den Populisten." Die kulturelle Bedeutung des Fragezeichens wird heutzutage völlig verkannt.

Erschienen in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ am 22. September 2008