Can Dündar beim Theodor-Wolff-Preis 2023: "Kampf für die Pressefreiheit ist auch Kampf für Demokratie"

„Halten Sie Ihre Pressefreiheit nicht für selbstverständlich. Wenn Sie sie verlieren, verlieren Sie nicht nur einen Berufsstand, die Journalisten, sondern ein ganzes Land.“ Das erklärte der Journalist und frühere Chefredakteur der türkischen Zeitung „Cumhuriyet“, Can Dündar, bei der Verleihung des Journalistenpreises der Digitalpublisher und Zeitungsverleger – Theodor-Wolff-Preis (TWP) in Berlin. Der in seiner türkischen Heimat politisch verfolgte und im Berliner Exil lebende Festredner machte sich in seiner bewegenden Ansprache im Berliner Radialsystem V Gedanken über die Grenzen von Journalismus und Aktivismus.

Can Dündar
BDZV/Zumbansen

"Liebe Kolleginnen und Kollegen,

in den letzten Jahren werden solche Reden gewöhnlich mit dem Satz eingeleitet, dass unser Berufsstand sich in einer schwierigen Lage befindet.

Die Erosion des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, Zeitungen, die Leser verlieren, Fehlinformationen, Fake News, Verschwörungstheorien, der Vertrauensverlust der Medien, ihre Verwandlung in eine Propagandamaschine in den Händen von populistischen Führern – das beunruhigt uns alle.

Ich bin seit 43 Jahren in diesem Beruf tätig. Ich habe nie ein "goldenes Zeitalter" erlebt, aber ich habe auch noch nie eine so dunkle Zeit durchlebt. Wir haben in der Türkei nicht nur eine Zeitung oder einen Fernsehsender, sondern einen ganzen Berufsstand verloren.

Die beiden Zeitungen, für die ich 20 Jahre lang ununterbrochen geschrieben habe, und der Fernsehsender, bei dem ich 5 Jahre lang als Moderator gearbeitet habe, sind jetzt unter der Kontrolle der Regierung. Erst letzte Woche wurde aufgedeckt, dass die Zeitung, deren Chefredakteur ich zuletzt war, Geld im Austausch für nachrichtenähnliche Werbung erhalten hat.

Es gibt immer noch Menschen, die für freie Medien kämpfen, aber sie schreiben oder sprechen mit äußerster Vorsicht, weil sie Gefahr laufen, dass ihr Medienunternehmen jeden Moment geschlossen wird. Dissidente Journalisten werden bedroht, verprügelt und inhaftiert. Die freien Medien sind dabei, ihren letzten Atemzug in der Türkei zu tun.

Einige von uns haben Medien im Exil gegründet, um unser Publikum im Ausland zu erreichen, aber das ist nicht einfach. Unsere Familien und Reporter sind wie Geiseln in unserem Land. Unsere finanziellen Mittel sind begrenzt. Nur sehr wenige Reporter trauen sich, mit uns zusammenzuarbeiten. Es ist sehr schwer, die Nachrichtenquellen zu erreichen. Und leider sind wir nicht einmal hier sicher. Wir versuchen, unsere Arbeit zu machen, indem wir jeden Morgen, wenn wir das Haus verlassen, die Umgebung überprüfen.

In Ländern außerhalb Europas hat die Verteidigung der Wahrheit einen hohen Preis. Als Journalist muss man große Risiken eingehen: Schikanen, Schläge, Prozesse, Verhaftungen, Gefängnisaufenthalte, bewaffnete Angriffe. Ich kann Ihnen aus eigener Erfahrung berichten.

Bei den Wahlen in der Türkei im letzten Monat haben wir wieder einmal die Auswirkungen von Fake News und der Kontrolle der Regierung über die Medien gesehen. Erdoğan hat die Wahlen auch dank des Propagandakriegs der Regierungsmedien gewonnen. Er verbannte seine Gegner von den Bildschirmen, bestrafte diejenigen, die gegen ihn berichteten, und förderte schließlich in letzter Minute ein gefälschtes Video, das seinen Gegner zusammen mit Terroristen zeigte.

Journalismus unter diesen Bedingungen ist natürlich etwas ganz anderes als Journalismus in Deutschland. Hier diskutiere ich oft mit meinen deutschen Kollegen über die Grundsätze und roten Linien unseres Berufs. Zwei wichtige Themen stehen bei diesen Diskussionen im Vordergrund: Objektivität und Aktivismus. Ich möchte kurz auf diese Themen eingehen.

Objektivität ist natürlich eine unverzichtbare Regel für jeden Journalisten, zusammen mit Neutralität, Genauigkeit, Wahrhaftigkeit, Fairness. Aber hier ist die Sache, die man sich merken muss: Unsere Häuser stehen in Flammen. Unsere Liebsten sind darin. Und von uns wird erwartet, dass wir objektiv über dieses Feuer berichten und es fotografieren.

Aber wir müssen ins Feuer springen und unsere Familien retten oder Wasser tragen, um das Feuer zu löschen. Wenn wir das tun, werden wir beschuldigt, "zu Aktivisten zu werden".

Ich möchte dies klar und deutlich sagen: Unter den Bedingungen, in denen wir leben, können wir den Kampf für die Pressefreiheit und den Kampf für die Demokratie nicht voneinander trennen. Diese beiden sind direkt miteinander verbunden.

In einer Autokratie gibt es keinen Platz für freie Medien. Der Weg zur Freiheit der Presse führt daher über die Befreiung des Landes. Hier treffen sich Journalismus und Aktivismus.

Bitte stellen Sie sich diese Frage: Wenn Sie wüssten, dass die Polizei morgens vor Ihrer Tür stehen würde, weil Sie eine Nachricht geschrieben haben und dass Sie für eine unbestimmte Zeit inhaftiert werden würden, würden Sie trotzdem schreiben?

Wenn Sie wüssten, dass Ihr Kommentar dazu führen würde, dass Ihr gesamtes Vermögen, das Sie im Laufe Ihres Lebens angesammelt haben, beschlagnahmt würde und Sie gezwungen wären, Ihr Land zu verlassen, würden Sie es trotzdem tun?

Viele Journalisten in der Türkei haben es getan. Einige von ihnen sitzen jetzt im Gefängnis, einige sind im Exil. Die Gewerkschaften sind schwach, Gesetze und Richter sind gegen Sie. Auch die Medien sind nicht auf Ihrer Seite, im Gegenteil:

Stellen Sie sich vor: Eine regierungsnahe Nachrichtenagentur verbreitete die Nachricht, dass ich verhaftet werden würde, Stunden bevor ich vor einem Richter erscheinen sollte; und das war keine Vermutung. Das ist der Zustand der Justiz. Die Richter sind die Handlanger von Erdoğans Palast.

Wir kämpfen gegen die Presse, für die Pressefreiheit; gegen Richter, für die unabhängige Justiz. Können wir unter diesen Umständen neutral bleiben?

Jahrelang habe ich an Journalistenschulen unterrichtet und meinen Studenten geraten, Nachrichten nicht mit Kommentaren, Journalismus nicht mit Aktivismus zu verwechseln. Ich habe ihnen gesagt, dass die Quelle der Nachrichten solide sein muss, dass die Nachrichten von mindestens zwei Quellen überprüft werden müssen, dass eine Überprüfung der Fakten obligatorisch ist, dass sie die Meinung derjenigen einholen müssen, die in den Nachrichten erwähnt werden.

Heute lache ich darüber, was ich früher gesagt habe. Ich werde Ihnen sagen, warum: Vor sechs Monaten setzte der Präsident meines Landes meinen Namen auf die Liste der "gesuchten Terroristen" und setzte eine Belohnung auf meinen Kopf aus, weil ich eine wahre Geschichte geschrieben hatte. Und letzten Monat hat er es geschafft, mit Hilfe der Justiz und der Medien sowie aller staatlichen Institutionen die Wahlen knapp zu gewinnen.

Am Morgen nach der Wahl gratulierte der deutsche Bundeskanzler Erdoğan und lud ihn nach Deutschland ein, ohne den demokratischen Willen von 48 Prozent des Volkes auch nur zu erwähnen. Stellen Sie sich nun vor, Erdoğan kommt nach Berlin. Glauben Sie, dass ich als Journalist, der auf seiner Terrorliste steht, seine Pressekonferenz verfolgen kann?  Kann ich jede Frage stellen, die ich will? Würde ich eine Antwort bekommen, wenn ich ihn mit den Lügen konfrontiere, die er erzählen würde? Kann ich seine Sichtweise erfahren, wenn ich über seine riesige Korruptionsakte schreibe?

Was ich damit sagen will, ist Folgendes: In vielen Ecken der Welt wird Journalismus unter völlig anderen Bedingungen betrieben. Die Regeln und Standards, die wir kennen, reichen für Journalisten, die unter diesen Bedingungen arbeiten, nicht aus. 

Während wir die Pressefreiheit verteidigen, müssen wir auch die Unabhängigkeit der Justiz, die Gewaltenteilung, die Menschenrechte, die pluralistische Gesellschaft und die demokratischen Institutionen verteidigen.

Dieser Kampf macht Sie zu einem Aktivisten. Wir müssen die Verantwortung des Journalisten neu definieren, ohne die Grundprinzipien des Berufsstandes zu gefährden. Und immer wieder gefragt werden: "Wofür stehen wir?"

Ich möchte meine Rede mit ein paar Bitten abschließen. Bitte:

  • wenn Sie uns an professionelle Standards erinnern, denken Sie an all diese Bedingungen.
  • Natürlich bin ich nicht für eine parteiische Berichterstattung, aber bitte verurteilen Sie nicht "aktivistische Journalisten", die für die Demokratie kämpfen, um zu überleben.
  • Unterstützen Sie Journalisten, die gegen Autokratie kämpfen.
  • Machen Sie sich bitte klar, wie beleidigend es für ein Volk ist, das sein Leben aufs Spiel setzt, um die Demokratie zu verteidigen, wenn der rote Teppich für einen Autokraten ausgerollt wird, der eine Wahl durch Betrug gewonnen hat.
  • Deutschland wird immer mehr zu einem Zufluchtsort für Journalisten, die zu Hause keine Luft mehr bekommen. Nutzen Sie diese Tatsache als Chance: Profitieren Sie von ihrem Know-how. Öffnen Sie Ihre Seiten, Ihre Bildschirme für die Journalisten im Exil. Helfen Sie ihnen, den Brand in ihrem Land zu entlarven, unterstützen Sie sie, ihn zu löschen.
  • Und schließlich: Das Beispiel USA und Trump zeigt uns, wie leicht die westlichen Medien ihre Privilegien verlieren können. Nehmen Sie Ihre Freiheit nicht als selbstverständlich hin. Wenn Sie sie verlieren, verlieren Sie nicht nur einen Beruf, sondern auch ein Land."

(Aus dem Englischen übersetzt).