"Es wäre keine Übertreibung zu sagen, dass die Zukunft der Ukraine heute fast so sehr von den Journalisten abhängt wie von der ukrainischen Armee."

Andrej Kurkow, Autor und ukrainischer Pen-Präsident, beim Theodor-Wolff-Preis 2022

Der Autor und ukrainische Pen-Präsident Andrej Kurkow spricht in seinem Grußwort zum Theodor-Woff-Preis 2022 über den Krieg in der Ukraine und warum die Arbeit von Journalstinnen und Journalisten dort so wichtig ist.

Andrej Kurkow
Pako Mera Opale / Bridgeman Images

"Wie jeder Mensch auf der Welt kann ich nicht ohne Wasser, ohne Luft leben – und auch nicht ohne Informationen. In friedlichen Zeiten haben Menschen manchmal das Gefühl, sich nicht mehr informieren zu müssen. Stabilität lullt ein, trübt die Aufmerksamkeit. Aber leider entstehen auch in der modernen Welt ständig neue Spannungen, neue Konflikte und, wie wir jetzt ganz in der Nähe sehen, in der Ukraine, neue Kriege. Und in diesem Moment, um zu verstehen, was passiert, und um zu verstehen, wie dieser neue Krieg ihre Leben beeinflussen wird, selbst wenn sie zweitausend Kilometer von einer scheinbar 'fremden' Frontlinie entfernt leben, werden Informationen für sie wichtiger als Luft und Wasser.

Am 24. Februar wurde ich, wie alle Einwohner Kiews, frühmorgens von Explosionsgeräuschen aus dem Schlaf gerissen. Diese ersten Bomben beendeten eine Diskussion, die schon mehrere Monate andauerte und um eine einzige Frage kreiste: "Wird Russland die Ukraine angreifen?".

Bis zum 24. Februar waren alle Politiker, Analysten, Experten und Journalisten in diese Diskussion verwickelt, stritten über diese Frage. Doch als es dann statt zu weiteren Diskussionen zum Beschuss ukrainischer Städte durch  russische Raketen kam, verloren all diese Streitigkeiten ihre Bedeutung. Mit einem Mal war für Millionen von Menschen nur noch eine Frage relevant: „Was passiert in der Ukraine?“ Für die Ukrainer selbst, für die, die im Osten und Süden des Landes leben, genau wie für die, die weiter von der Front entfernt oder sogar im Ausland leben, hat diese Frage natürlich eine ganz besondere Bedeutung. So kehrten unmittelbar nach Beginn der russischen Aggression Zehntausende von Bürgern in die Ukraine zurück, die jahrelang in Europa und Nordamerika gelebt hatten. Sie kehrten zurück, um ihre Heimat zu verteidigen.

Wissen zu wollen, was passiert, bedeutet, sich mit Informationen zu wappnen. Nur so kann man die richtigen Entscheidungen treffen, für die eigene Sicherheit und die Sicherheit der Familie. Wenn wir "Informationen" sagen, meinen wir immer wahre Informationen, die Wahrheit. Wir wollen unseren Informationsquellen vertrauen und müssen deshalb verstehen, wie hoch der Preis der Wahrheit, der Preis wahrheitsgemäßer Informationen sein kann. Noch immer bezahlen Journalisten viel zu oft mit ihrem Leben für die Wahrheit.

In der Ukraine wird der journalistische „Krieg um die Wahrheit“ schon seit mehr als dreißig Jahren geführt, seit der neuen Unabhängigkeit des ukrainischen Staates. Viele bekannte Journalisten wurden in diesem Krieg getötet, darunter Georgy Gongadze, Pavlo Sheremet, Igor Alexandrov und Dutzende andere.

Jetzt findet der Krieg um wahrheitsgemäße Informationen während eines echten, brutalen, blutigen Krieges statt, den das Putin-Regime in der Ukraine entfesselt hat. Noch vor Ausbruch der Feindseligkeiten kamen mehrere hundert Journalisten aus aller Welt in die Ukraine. Man könnte sagen: „Eine Armee von Journalisten hat sich gebildet!“ Aber nein, das sage ich nicht. Trotz aller Gefahren journalistischer Arbeit und Recherchen gilt Journalismus immer noch als „friedlicher Beruf“. Journalisten tragen keine Waffen. Sie greifen den Feind nicht an. Aber sie versuchen trotzdem, vor Ort zu sein, um Zeugnis zu geben, um zu dokumentieren. Es wäre keine Übertreibung zu sagen, dass die Zukunft der Ukraine heute fast so sehr von den Journalisten abhängt wie von der ukrainischen Armee. Die Zukunft Europas hängt von Journalisten und den Themen ab, die sie ansprechen. Und auch die politischen Entscheidungen der Regierungen Deutschlands, Frankreichs, Italiens und anderer Länder hängen von Journalisten ab.

Bereits Anfang März, kurz nach Beginn der russischen Aggression in der Ukraine, eröffnete die internationale Organisation Reporter ohne Grenzen gemeinsam mit ihrem ukrainischen Partner, dem Institute of Mass Information, das Press Freedom Center in Lwiw. Dieses Zentrum ist zu einem einzigartigen Ort geworden, an dem Journalisten und Reporter nicht nur arbeiten und ihre journalistischen Pflichten erfüllen können, sondern während ihrer Reisen in das Kriegsgebiet auch Schutzausrüstung erhalten: Helme und Schutzwesten, Erste-Hilfe-Kästen und andere notwendige Dinge für die Arbeit im Krieg. Sie können dort auch finanzielle, psychologische oder medizinische Hilfe erhalten und finden im Falle eines Raketenangriffs im Luftschutzbunker des Zentrums Sicherheit.

Hunderte von Journalisten haben bereits die Hilfe des Press Freedom Center in Anspruch genommen, darunter mindestens die Hälfte aller Mitarbeiter der ukrainischen Medien.

Journalist in einem Krieg zu sein, wird immer gefährlicher

Journalist in einem Krieg zu sein, wird immer gefährlicher. Die Aufschrift „Presse“ auf einem Helm oder einer schusssicheren Weste schützt den Journalisten nicht mehr, sondern macht ihn im Gegenteil zur Zielscheibe.

Der Aggressor in diesem Krieg kämpft nicht nur mit Waffen, er führt auch einen Informationskrieg, indem er Fake News und ein falsches Narrativ verbreitet. Daher sind für den russischen Aggressor Journalisten – internationale und ukrainische – genauso Feinde wie die Soldaten der ukrainischen Armee. Und deshalb ist jeder Bericht über die Wahrheit in der Ukraine, jeder Bericht, der die wirkliche Lage an der Front oder die wahre Geschichte der ukrainischen Flüchtlinge aus Mariupol, Tschernigow und anderen Städten und Dörfern zeigt, ein wichtiger Beitrag zum Kampf für die Freiheit, zum Kampf der Ukraine um ihre eigenen Territorien, um ihre eigene Unabhängigkeit, um ihre eigene Geschichte.

Dank der Arbeit von Hunderten von Journalisten, die Butscha, Irpin, Vorzel, Borodyanka und all die anderen Orte besuchten, die zu Schauplätzen von Kriegsverbrechen der russischen Armee wurden, erfuhr die Welt von den Gräueltaten, die Russland bisher auf dem Territorium der unabhängigen Ukraine begangen hat. An denselben Orten hat Russland auch Kriegsverbrechen gegen Journalisten begangen, die schon vor der Befreiung der Region Kiew versucht haben, der Welt die Wahrheit über das zu sagen, was hier passiert.

In der Region Kiew, bei Irpin, starb der erste Auslandskorrespondent dieses Krieges, der amerikanische Journalist und Regisseur Brent Renaud. Sein Auto wurde vom russischen Militär beschossen, als er unterwegs war, um die Evakuierung der Zivilbevölkerung aus Irpin zu filmen.

In Kiew wurde am 23. März Oksana Baulina, eine russische Journalistin von The Insider, durch Raketenbeschussgetötet.

In Mariupol wurde der litauische Dokumentarfilmer Mantas Kvedaravičius gefangen genommen und erschossen.

Der ukrainische Fotograf und Dokumentarfilmer Maxim Levin wurde in der Nähe von Kiew getötet. Von ihm stammt der Satz: „Jeder ukrainische Fotograf träumt davon ein Foto zu machen, das den Krieg beendet!“

Ich denke, das gilt nicht nur für Fotografen. Jeder Journalist träumt davon, einen Beitrag zu verfassen, einen Artikel zu schreiben, der den Krieg beendet. Und jeder Journalist muss seinen Teil dazu beitragen. Aber wir wissen, dass selbst der klarsichtigste Artikel, selbst der schlüssigste Beitrag den Krieg nicht stoppen kann. Dazu sind Tausende von Beiträgen, Artikeln, Essays erforderlich, die der ganzen Welt zeigen, dass dieser Krieg nicht hinnehmbar ist. Die die Politiker aller Länder zwingen, sich gegen den Krieg und gegen diejenigen, die ihn führen, zu vereinen. Und genau das ist die Mission von Journalisten im Krieg.

Im Krieg in der Ukraine.

Deshalb ist die Arbeit des Press Freedom Center in Lwiw sowohl für die Ukraine als auch für die gesamte zivilisierte Welt von so großer Bedeutung. Deshalb verleihen wir ihm heute eine besondere Auszeichnung."