Das Geheimnis von Magda und Keon

Von Lea Sahay und Martin Wittmann

Vor neun Jahren schickt eine Leserin eine Kiste an die SZ, die sie in ihrem Keller gefunden hat. Sie vermutet eine „große Liebe“ – und tatsächlich steckt darin eine außergewöhnliche Geschichte, die von Deutschland bis nach China reicht, in die dunkelsten Zeiten beider Länder.

Keon und Magda
privat

An einem Januartag vor neun Jahren kommt ein unerwartetes Paket in der Redaktion an, „10 Obsttorten-Böden – Kühl und trocken lagern“ steht darauf. Die Sekretärin des Panorama-Ressorts schreibt eine fragende E-Mail in die Runde und dann eine Stunde später noch eine: „Nachdem niemand sich meldet, war ich so frei, reinzusehen: Eine ganze Kiste Liebe“.

  In der Kiste sind keine Tortenböden, sondern Hunderte Schwarz-Weiß-Fotos, dazu Briefe, Papiere, Postkarten, Kalender. Die Daten auf ihnen verraten, dass der Inhalt der Kiste aus dem Aachen der Dreißigerjahre stammt. Die Bilder haben einen Stich und riechen nach Keller, doch es sind auffallend ästhetische Fotos. Man kann noch gut die Welt erkennen, die sie festgehalten haben, und das Leben der Menschen spüren, die sie zeigen.

  Auf vielen ist ein junges Paar zu sehen.

  Eine elegant gekleidete Frau, schlank, mit hellen Haaren und großen Augen. Manchmal posiert sie, steht mit Hut und Handtasche im Schnee, auf anderen springt sie Seil oder badet. Auf vielen Porträts blickt sie direkt in die Kamera, hinter der wohl ihr Freund steht. Auch er ist jung, vielleicht Mitte zwanzig. Auf den meisten Bildern, die das Paar zusammen oder ihn allein zeigen, trägt er einen Anzug und einen gepflegt frisierten Seitenscheitel. Er ist stilsicher, sein Geschmack teuer, gern lässt er sich neben einem Rolls-Royce oder vor Luxushotels fotografieren.

  Die Liebesbriefe in der Kiste, von ihm an sie, sind auf Deutsch verfasst. Aber die Notizen auf manchen der Fotos sind auf Chinesisch, er scheint also aus China zu stammen. Sicher ist, dass der Mann viel herumkommt, in der Kiste liegen Postkarten und Bilder aus deutschen und französischen Orten. Seiner Freundin schreibt er von unterwegs: „ich küsse dich aufs Herzlichste“.

  Die Kiste hat uns eine Leserin geschickt. Sie hatte in der SZ den Aufruf gelesen, man solle der Redaktion schöne Liebesgeschichten senden, die dann veröffentlicht würden. Sie legte einen Brief in das Paket: „Liebe Panorama-Redaktion, diese Kiste habe ich 1999 im Keller meines Hauses in Köln gefunden und aufbewahrt.“ Sie habe leider keine Ahnung, was es mit dem Karton auf sich habe, in dem Mehrfamilienhaus, in dem sie wohne, vermisse ihn niemand. Er sei auf einmal dagestanden, einfach so. „Wahrscheinlich wäre es eine wunderbare Romanvorlage. Ganz sicher ist es eine ganz große Liebesgeschichte“, schreibt die Absenderin über die beiden Abgebildeten.

  Der Mann auf den Bildern heißt Keon. Die junge Frau heißt Magda.

  Bald wird uns klar: Die Kiste birgt nicht nur die Bilder einer Liebe, sondern auch Dokumente von historischer Tragweite. Sie erzählen eine Geschichte, die von Leben und Tod handelt, von Deutschland in seiner dunkelsten Zeit und einem China, von dem heute kaum mehr jemand weiß. Die fast hundert Jahre alte Kiste wird uns zu einem Mann bringen, den die Führung in Peking als einen „Verräter auf zehntausend Jahre“ beschimpft. Und zu seiner Familie in den USA, die bis heute um sein Ansehen kämpft.

  Die Böden und Tische unserer Büros sind bald bedeckt von einem fast hundert Jahre alten, schwarz-weißen Puzzle, über dem wir stundenlang sitzen. Es ist keine vollständige Dokumentation, wir sehen das, was von einer Liebe übrig blieb.

  Ein Hinweisgeber ist ein kleiner, schwarzer Kalender. Er gehört Magda, Magdalena Zauß, aber es schreiben mehrere Personen hinein. Am 27. Februar 1932 heißt es: „Wir haben uns in der Erholung kennengelernt“. Die „Erholung“ in Aachen, das scheint die „Erholungs-Gesellschaft“ zu sein, ein gehobener Klub, dessen Mitglieder damals in einem Stadtpalais im Zentrum der Stadt feiern, lesen wir auf der Homepage nach, den Klub gibt es immer noch. In den folgenden Wochen steht im Kalender knapp: „Im Wald viel geküßt“ oder „Im Wintergarten etwas getanzt“.

  Keons Brief vom 11. März 1932 ist dann bereits der dritte seit ihrem Kennenlernen. Er schreibt nicht ganz fehlerfrei, aber unmissverständlich leidenschaftlich:

  Mein liebe kleine Magda,

  ich freu mich sehr, als ich jedes Mal mit Dir zusammen die schönen Stunden, die viel schneller als gewöhnlich vorbeigingen, verlebte. Glaube mir, liebe Magda, Du bist die einzige Freundin von mir, was ich in Aachen kenne. Ich kenne wohl viele Bekannte, sie sind aber nicht, meine Freundinnen. Du sollst nicht denken, daß ich Dich nur äußerlich lieb habe, sondern in Wirklichkeit auch innerlich. Ist das Dir langweilig, wenn du mit uns ausgehst? Ich dachte so, weil Du das sagtest. Also komme mit Deiner Schwester etwa um 11 Uhr vormittags am Sonntag zu mir, ich will Dir all meine Bilder zeigen. Es grüß und küsst Dich vielmals. Keon

  Wir lesen, wie die beiden sich ineinander verlieben, wie sie zweifeln, wie sie hadern, wie sie einander verstehen und missverstehen: „Meine liebste Freundin kleine Magda. Schade, daß Du bei hellem Licht nicht frei bist. Siehst Du nicht, daß die Sonne so gut scheint. Eigentlich ist es gut für einen Spaziergang zu machen“, schreibt er einmal und lädt sie zu einer „Bühnenfestlichkeit im neuen Kurhaus“ ein, er habe schon zwei Karten.

  Ein anderes Mal entschuldigt er sich für seine „bösen Hände“: „Ich will Dich dann ganz heiß küßen, sogar Deinen ganzen Körper. Du läßt mich das aber nicht tun. Magda Du hast immer Recht. Verzeihe mir bitte ja wenn ich bei Dir nochmal so böse wie Du findest werde.“ Manchmal klingt er richtig verzweifelt: „Du weißt ja, ich liebe Dich sehr. Aber was nutzt mir nun wenn Du Dein herz nur für Dich behälst. Trockene felder brauchen Regen trockenes herz braucht Deine Liebe. Hörst Du nicht, es ruft Dich jetzt. Ich küße Dich auf das herzlichste.“

  Magda schreibt ihm ebenfalls Briefe, oft bedankt er sich in seinen für ihre. Aber sie sind nicht in der Kiste. Ihre wechselnden Gefühle lassen sich nur durch die Kalendereinträge nachvollziehen: „Ich erwarte K.“ Zwei Tage später: „Ich warte noch immer.“ Am nächsten Tag: „Endlich“.

  An einem Tag feiern sie bis fünf Uhr morgens im Kurhaus, an einem anderen gehen sie ins Kino. Eines der einprägsamsten Bilder ist im Februar 1934 gemacht worden. Keon sitzt, wie immer schick im Anzug, mit weißem Hemd und Krawatte, auf einem gepolstertem Stuhl. Magda, natürlich mit Hut, schmiegt sich an ihn, sie legt ihren Kopf an seinen. Er hat seine Hand auf ihrem Oberschenkel. Die beiden lächeln in die Kamera. So ein Foto haben sie jedes Jahr gemacht, wahrscheinlich in der Erholung, sicher während des Karnevals. Auf der Rückseite steht: „Am Carnevalsdienstag hatte Magda einen kleinen Schwips. Aus ihrem halbgeschloßenen Augen sah ich, daß ihre Freude vom Herzen wuchs. 27. II 1934, Keon“.

  Sie sehen glücklich aus auf dem Bild. Wer waren sie?

  Wir rufen bei Weingütern an, die auf Zetteln in der Kiste immer wieder auftauchen. Wir schreiben, da Keon seine Freundin in den Briefen fragt, ob sie und ihre Schwester wieder viele Hüte angefertigt hätten, Handwerkskammern, Presseämter, Wirtschaftsarchive und Hutmacherinnen an, ob sie den Namen schon mal gehört haben. Doch niemand kennt Magda, geschweige denn ihren Freund.

  Immer wieder vergehen Monate, in denen der Tortenböden-Karton bei uns herumsteht, so, wie er wohl auch die Jahrzehnte davor herumstand. Weil wir nicht vorankommen und vor allem, weil andere Themen stärker drängen. Magda und Keon warten geduldig auf uns, ewig jung, das ist ihr Schicksal.

  Mehr als zwei Jahre nach Ankunft der Kiste landen wir endlich einen echten Treffer. Dem Stadtarchiv Aachen wurde eine Anfrage weitergeleitet, die wir ursprünglich an das Presseamt der Stadt geschickt hatten, in der Antwort steht: „Ich hoffe, diese Angaben helfen Ihnen weiter.“

  Magdalena Zauß kommt demnach 1908 zur Welt, ihre Eltern sind die Hutmacherin Apollonia Zauß und der Geschäftsmann Johannes Zauß.

  Als Magda ein Kind ist, wütet in Deutschland der Erste Weltkrieg, auch in Aachen. Die Stadt liegt an der Grenze, am Morgen des 4. August 1914 marschieren die deutschen Truppen durch die Stadt, auf dem Weg nach Belgien. Viele Aachener sind damals begeistert, in den Straßen und auf den Bahnhöfen verteilen sie „Erfrischungen und Liebesgaben“ an die Truppe, so steht es in den Chroniken der Stadt. Zahlreiche Männer werden von ihren Arbeitsplätzen weg an die Front geschickt, die Bahngleise werden gesperrt.

  Das einzig Persönliche in der Kiste, das aus dieser Zeit stammt, ist ein Buch, das Magda zur Erstkommunion bekommen hat. Auf dem Deckel prangt ein Eisernes Kreuz, und ein „W“ für Kaiser Wilhelm II. Es ist ein Poesiealbum:

  „Liebe Magda! Wenn dich die Lästerzunge sticht, So laß dir dies zum Troste sagen: Die schlechten Früchte sind es nicht woran die Wespen nagen. Dies schrieb Dir, zur Erinnerung, deine Schwester Kathi. Aachen, den 26.1.22“.

  Kathi ist laut Stadtarchiv die zwei Jahre jüngere Schwester von Magda. Die Mitarbeiterin des Stadtarchivs fügt ihrer Mail hinzu: „Über eine Romanze zu einem chinesischen Verehrer geht aus den hier vorliegenden Unterlagen nichts hervor.“

  Was wir aber haben, ist dieses eine Foto in der Kiste: eine Gruppe junger Männer und Frauen, die meisten von ihnen Chinesen. Ganz vorne sitzt Magda, Keon hat seinen Arm um sie gelegt. Hinter der Gruppe hängt eine Fahne, eine rote Flagge mit einer weißen Sonne auf blauen Grund. Die Flagge der Republik China. Diese umfasste von 1912 bis 1949 ganz China als Staatsgebiet, bis ihre Führung vor den Kommunisten nach Taiwan floh, wo die Republik China bis heute weiterexistiert.

  Wir nehmen uns diejenigen Fotos aus der Kiste vor, deren Rückseiten mit chinesischen Schriftzeichen versehen sind, enge Kritzeleien, die definitiv nicht geschrieben wurden, damit sie Journalisten aus Deutschland fast hundert Jahre später entziffern – heute schreiben die Menschen in Festlandchina mit vereinfachten Schriftzeichen. Mit großer Mühe gelingt es uns, die Schrift aus einer anderen Zeit zu übersetzen: Auf den Rückseiten einiger Fotos haben sich anscheinend vier Brüder kleine Botschaften hin und her geschrieben, sie sprechen sich mit „großer Bruder“ und „kleiner Bruder“ an. Sie alle tragen den Nachnamen Chen (beziehungsweise Chan), eigentlich ein chinesischer Allerweltsname, wie Müller in Deutschland.

  Wir tippen die vier Namen in eine Suchmaschine und entdecken die Seite einer Stiftung in den USA. Sie hat einen Stammbaum veröffentlicht, auf dem die Namen der Brüder auftauchen. Und sehen: Keon, der verliebte Student, ist ein Neffe von Wang Jingwei. Ja, von dem Wang Jingwei.

  Von wem? Der Name ist in Deutschland kaum bekannt. Aber wer sich mit chinesischer Geschichte beschäftigt, erkennt hier eine historische Sensation: Wang Jingwei, geboren 1883 in Südchina, war Revolutionär und chinesischer Staatsmann. Als junger Mann studierte er in Japan und schloss sich dort einer revolutionären Allianz an, die von Sun Yatsen geführt wurde, dem Vater der chinesischen Revolution. 1910 erlangte Wang landesweite Berühmtheit, als er ein erfolgloses Attentat auf den Vater des damals vier Jahre alten letzten Kaisers von China verübte.

  Wang war, nach allem, was man weiß, belesen, intelligent, sah gut aus und galt bald als enger Vertrauter von Sun Yatsen, der 1912 zum Interimspräsidenten der neu gegründeten Republik China gewählt wurde. Nach dessen Tod sahen viele im Land in Wang die Zukunft Chinas. In den späten 1920er- und 30er-Jahren übernahm er verschiedene hohe Positionen in der Regierungspartei Kuomintang. Allerdings war diese von Beginn an durch innere Konflikte geschwächt.

  Auch wenn die Führung in Peking heute versucht, tiefere Kenntnisse über die Republik China auszumerzen, kennen immer noch viele Chinesen den Namen Wang Jingwei. Allerdings nicht unbedingt im guten Sinne. Im Internet schlägt ihm noch heute Hass entgegen. Chinesen beschimpfen ihn, seine Familie und Unterstützer als „Volksverräter“, „schamlos“ und „verfluchte Hunde“.

  Wie pikant unser Fund ist, merken wir an der Reaktion der Stiftung, über die wir auf Keons Herkunft gestoßen sind: die Wang-Jingwei-Stiftung, die das Leben des chinesischen Politikers aufarbeitet. Betrieben wird sie von seiner Enkeltochter Cindy Ho, die in New York City lebt.

  In der Kiste liegen auch Aufnahmen von Wang Jingweis Sohn, Wang Wenying, der in Köln studiert und zu Keons Clique gehört. Sicher dürfte die Familie Interesse an den Aufnahmen haben, die nie zuvor veröffentlicht wurden, denken wir. Doch kurz nachdem wir das erste Mal zu Cindy Ho Kontakt aufnehmen, um nach Keon und seinem Onkel zu fragen, verschwinden alle Infos zu den vier Brüdern von der Website. Das ist mindestens seltsam.

  Also müssen wir selbst weitersuchen: Was macht Keon, der Sprössling dieser mächtigen Familie, ausgerechnet im Deutschland der Dreißigerjahre?

  Der junge Chinese kommt 1930 in Aachen an, das erwähnt er einmal nebenbei in einem Brief. Im April 1932 schreibt er:    „Meine Magda. Ich bin Dir immer liebhafter. Das weißt du nur nicht. Du gefällst mir so gut und bist so freundlich zu mir, ich weiß wirklich nicht, mit welchen Worten als Dankbarkeit ich schreiben soll. Warum hätten wir uns nicht sofort kennengelernt, als ich damals etwas vor 2 Jahren ankam?“

  In jenem Jahr, noch haben die Aachener sich nicht an den Frieden gewöhnt, und noch wissen sie nicht, dass er bald schon wieder Geschichte sein wird, wählen die Deutschen einen neuen Reichstag: In Aachen kommt die Zentrumspartei auf 36 Prozent, die Kommunistische Partei auf 14,5 – genauso wie bereits die NSDAP.

  In der Kiste gibt es auch ein Bild von Keon, auf dem er in einer Werkstatt steht. Neben sich hält er einen Propeller aus Holz, auf der Rückseite des Fotos ist zu lesen: „Beim praktischen Arbeiten in der Aachener Segelflugzeuggesellschaftsvereinigung, Sommer 1931“. Klingt nach Studium. Anfrage beim Archiv der Uni Aachen: Konnte man damals Luftfahrttechnik studieren? Konnte man nicht, teilt uns eine Mitarbeiterin mit. Aber im Studiengang Maschinenbau und Elektrotechnik gab es den Schwerpunkt Luft- und Kraftfahrtechnik. Es gebe zwar Lücken durch den Zweiten Weltkrieg in den Beständen, aber die Uni hat tatsächlich noch Matrikelbücher aus den Zwanziger- und Dreißigerjahren.

  Wir finden, was wir gesucht haben: ein Matrikelbuch aus dem Jahr 1931/32, in Leder eingebunden. Darin steht in feiner Handschrift: Chan Kok Keon, geboren in Kanton, also in Südchina, eingeschrieben am 4.11.1931, Matrikelnummer 9979, Studienfach: Maschinenbau. Drei chinesische Studenten sind damals an der Uni immatrikuliert, deutschlandweit dürften es nur 200 bis 500 gewesen sein. Ihre Aufgabe ist umso wichtiger: Anfang des 20. Jahrhunderts nämlich steht das chinesische Kaiserreich durch Missmanagement, Aufstände und das Eindringen ausländischer Mächte am Abgrund. Europäische Länder, die USA und Japan zwingen das Land, seine Häfen zu öffnen. Nach dem Ende des Kaiserreichs 1912 wird die Republik China ausgerufen. Doch bald schon kämpfen Nationalisten, Kommunisten und lokale Kriegsherren um die Macht. Die Republik ist von Anfang an schwach, auf technologische, wirtschaftliche Modernisierung angewiesen. Junge Männer wie Keon sollen Wissen im Ausland erlernen, um das neue China mit aufzubauen – wobei es ganz anders kommen wird.

  Es ist wieder das Aachener Stadtarchiv, das unserer Suche noch einmal eine ganz neue Richtung gibt. Auf die Frage, ob man sich die Meldeunterlagen mal anschauen dürfe, antwortet eine Mitarbeiterin: Diese Dokumente dürften aus Gründen des Personendatenschutzes nicht vorgelegt werden, „da darin ja auch andere, noch lebende Personen aufgeführt sind“. Die freundliche Mitarbeiterin ergänzt: „Vielleicht schauen Sie aber mal in das aktuelle Telefonbuch für Aachen, denn Verwandte von Magda Zauß sollen noch im Elternhaus von Magda leben.“ Magda, so steht es in der Mail, hat nach Kriegsbeginn drei Kinder bekommen.

  Und so berühren sich ein paar Tage später in Aachen endlich die schwarz-weiße Vergangenheit, die auf den Fotos zu sehen ist, und die farbige Gegenwart unserer Recherche. Die weiße Doppelhaushälfte, in die die Familie 1935 gezogen ist, kennen wir, von den Fotos aus der Kiste: Auf den Stufen zur Haustür hat Magda posiert. Der Vorgarten, die Straße, alles vertraut.

  In dem Haus wohnt heute Paul Näfe mit seiner Familie. Er, Jahrgang 1944, ist der jüngere von zwei Brüdern, der ältere ist 1941 geboren. Ihre Schwester, Hilde Dimovic, kam 1948 auf die Welt. Wir hatten Paul Näfe angerufen und ihm von unserer Kiste erzählt. Er war erstaunt und interessiert, nein, er habe noch nie von einer Kiste oder einem Keon gehört. Woher die Fotos und Briefe ursprünglich kommen? Keine Ahnung. Er lud uns ein zu sich. Und er hat seine Geschwister eingeladen, um gemeinsam auf die Fotos zu schauen.

  Seine Schwester ist gekommen, sein älterer Bruder nicht. Zwar wüsste der von den drei Geschwistern noch am meisten von den Jugendjahren ihrer Mutter, sagt Paul Näfe, aber er möchte nicht darüber reden. Im Wohnzimmer steht nun Kaffee in einer Porzellankanne auf dem Tisch mit der gehäkelten Tischdecke, daneben Aachener Reisfladen und anderes Gebäck. „Diese bunten Törtchen sind eine Reminiszenz an unsere Familientradition in der Konditorei. Unser Vater hat ja in Aachen eine ziemlich renommierte Konditorei betrieben“, sagt Paul Näfe.

  Ihr Vater, das ist nicht Keon, sondern Richard Näfe. Von ihm wurde Magda 1941 schwanger, die beiden heirateten sogleich, erzählen die Kinder, so wie sich das damals gehört hätte.

  Wir legen Foto um Foto zwischen die Tassen und Teller. Paul Näfe, früher Professor an der Fachhochschule Köln, wo er Maschinenelemente und Konstruktionssystematik lehrte, und seine Schwester, früher Lehrerin, sehen sich die Bilder an. Sie sind vor allem gerührt von den Fotos der lachenden Magda. „Ach, sie war doch glücklich“, sagt Hilde Dimovic, mit Betonung auf „doch“. Irgendwann sagt sie, als wir sie nach Magda fragen: „Ich kann grad gar nichts erzählen. Ich erfahre ja jetzt erst so viel über das Leben meiner Mutter.“

  Und Keon? „Die hat uns nur mal gesagt, sie hätte Kontakt gehabt zu Leuten, die hier in Aachen studiert hatten, die aus China gestammt hätten. Und das wären Leute aus gehobenen Kreisen gewesen“, erinnert sich Paul Näfe. Mehr nicht.

  Eines der Fotos, das Magdas Kinder hingegen bereits kannten, zeigt eine Sportveranstaltung im Sommer 1936, im „Schwimmstadion“, wie auf der Rückseite steht. „Ja, so ein ähnliches Foto haben wir auch. Unsere Mutter war bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Berlin“, sagt Paul Näfe.

  Im Mai desselben Jahres schreibt Keon einen Brief an Magda, diesmal aus dem Carlton Hotel in Bad Nauheim. Es ist offensichtlich die Antwort auf einen Brief von ihr, der allerdings nicht in der Kiste liegt.

  „Ich sitze hier und schreibe Dir, wie meine Sehnsucht ist. Magda Du bist meine Liebste. Ich kann das gar nicht ausdrücken, wie ich Dich liebe. In diesen vier Jahren, wo wir immer zusammen waren, bin ich so glücklich, alles wird mir lebhafter, nur wenn ich dich sehe und was von dir höre. Du schenkst mir die schönste Zeit, welche ich nie vergessen kann. Du bleibst immer im Tiefe meines Herzen. Das ist die goldene Zeit für mein ganzes Leben, was sich für mich ergeben kann. Träume süß. Ich küße dich heiß. Keon“

  Die Kiste ist auf den ersten Blick eine Kiste voller Liebe, wie unsere Sekretärin damals schrieb. Aber je länger man sich ihr annimmt, desto politischer wird ihr Inhalt. Das Bild von den Olympischen Spielen in Berlin, Adolf Hitlers Propaganda-Spielen, erinnert daran, in welcher Zeit diese Liebe zu bestehen hatte

  Hitler, mittlerweile seit drei Jahren an der Macht, lässt in Deutschland immer konsequenter Juden und andere Minderheiten verfolgen, auch psychisch Kranke. Er schickt 30 000 Wehrmachtssoldaten in das entmilitarisierte Rheinland, auch in Aachen entsteht eine Garnison. Er kündigt die Verträge von Locarno, die die im Friedensvertrag von Versailles festgelegten Grenzen garantierten. Außenpolitisch sucht er Verbündete. Er unterstützt in Spanien den Diktator Franco und paktiert in Italien mit Mussolini. Hitler bereitet den Krieg vor.

  In den Briefen an Magda schreibt Keon weder über Nazi-Deutschland noch über die Situation in China. Dabei muss der Druck auf die beiden immer größer geworden sein. Eine deutsch-chinesische Beziehung wird unter den Nazis praktisch unmöglich gemacht. Sogenannte Mischehen zwischen Deutschen und Chinesen waren zwar nicht verboten. Aber die Gesetzgebung „zum Schutz des deutschen Blutes“, wie es damals heißt, gilt auch für Chinesen. Hätten Keon und Magda also heiraten wollen, hätten nicht nur ihre Eltern einwilligen müssen, sondern auch das Auswärtige Amt. Später drohte Chinesen in Deutschland das Konzentrationslager.

  Als verliebter Student bleibt Keon unpolitisch. Aber als Neffe von Wang Jingwei ist er womöglich beteiligt an dessen Missionen. Wang Jingwei ist schließlich in den Dreißigerjahren ebenfalls in Deutschland. In dem Brief aus dem Mai 1936, den Keon mit „Träume süß. Ich küße dich heiß“ schließt, schreibt er auch: „Heute ist das Wetter hier gelegentlich kühl. Wir haben Mantel angehabt, als wir im Grünen spazierten. Dein Brief, welchen du am Bahnhof einwarfst, ist tatsächlich gegen Mittag angekommen. Mein Onkel hat mich gefragt, von wem ist dieser Brief? Von meiner guten Freundin geantwortet. Er lächelte.“

  Keon ist offensichtlich mit seinem Onkel in Bad Nauheim. Wang Jingwei reist 1936 in den Ort, in dem er sich nach einem versuchten Attentat auskurieren will, das eigentlich gegen seinen Parteikollegen und Rivalen Chiang Kai-shek gerichtet war. Drei Kugeln treffen Wang, eine dringt oberhalb seiner linken Augenhöhle in den Kopf ein. Auf Fotos, die ihn in Deutschland, am Tisch mit Keon, zeigen, sieht man noch die Wunden. Es sind extrem seltene Aufnahmen des Politikers. Nach Deutschland geschickt hat ihn der deutsche Arzt Kurt Noll, der in Shanghai praktiziert. Dessen Tochter, das ist eine der skurrileren Entdeckungen während dieser Recherche, ist die Krimiautorin Ingrid Noll. Ihr Vater habe aber nie in der Familie über seine Patienten gesprochen, lässt sie auf unsere Anfrage mitteilen.

  Die derzeit an der Universität in Frankfurt lehrende Sinologin Zhiyi Yang schreibt in ihrem Buch „Poetry, History, Memory: Wang Jingwei and China in Dark Times“ ausführlich über diesen Besuch in Deutschland. Yang gehört zu den wenigen chinesischen Wissenschaftlern, die sich trauen, zu Wang zu forschen. Im Zoom-Interview erzählt sie mit einer hellen, klaren Stimme von ihren Gedanken vor dem Verfassen der Wang-Biografie: „Wenn ich das schreibe, kann ich wahrscheinlich nicht mehr zurück nach China gehen.“

  Die Geschichte in China wird von der Kommunistischen Partei strikt überwacht. Sie entscheidet, an welche historischen Ereignisse erinnert werden darf und an welche nicht. Alle negativen Ereignisse für die Partei sollen aus dem kollektiven Gedächtnis gestrichen werden, Kritik bezeichnet Staats- und Parteichef Xi Jinping als „historischen Nihilismus“: eine Kampagne, die jeden Versuch, Pekings Erfolgsstory infrage zu stellen, zu einem Verbrechen erklärt.

  Und die Geschichte um die Republik China, die 1912 ausgerufen wird und bis 1949 das Staatsgebiet von China umfasst, wird von den Kommunisten heute so erzählt: Demnach war die Zentralregierung unter den Nationalisten von Korruption zerfressen, von ausländischem Geld abhängig und durch lokale Kriegsherren bedroht. Wirtschaftliche Probleme und innerparteiliche Streitigkeiten, gefolgt vom Krieg mit den Japanern, trieben das Land weiter an den Abgrund. Bis Mao Zedong im Oktober 1949 die Volksrepublik China ausrief. Die Kernerzählung lautet also, dass die KP das Land vom Chaos und der Unterdrückung durchs Ausland befreite, wie Mao sagte: „China ist aufgestanden.“

  Das heißt gleichzeitig, dass jede andere Darstellung eine Gefahr für Chinas Führung bedeutet. Etwa, wenn Wissenschaftler mit Blick auf die Republik China von einer „Ära der Offenheit“ sprechen, von bedeutenden Fortschritten in Richtung Rechtsstaatlichkeit, offenen Märkte und intellektuellem Austausch.

  Deshalb ist es bis heute kaum möglich, über die Republik China in der Volksrepublik zu forschen. Bei unserer Recherche lehnen die Behörden Archivbesuche ab, chinesische Professoren antworten nicht auf Anfragen. Einer schreibt unverblümt: Mit Ausländern dürfe er nicht mehr reden.

  Von der Sinologin Zhiyi Yang immerhin wissen wir, dass Wang nach seiner Ankunft in Bad Nauheim 1936 von Hitler eingeladen worden sein soll, ihn zu treffen. Eine russische Zeitung streute damals das Gerücht, dass Hitler versuchen könnte, Wang davon zu überzeugen, sich dem Antikominternpakt anzuschließen, jenem völkerrechtlichen Vertrag, den die Deutschen später im Jahr mit Japan unterzeichnen. Ziel ist die Bekämpfung des Kommunismus. Expertin Yang sagt, sie habe keine Belege für ein solches Treffen finden können – zudem habe Wang ihrer Einschätzung nach keine Bewunderung für die Nazis empfunden. Aber dann ist da dieses eine Foto. Es ist eine Aufnahme, die Keon an Magda geschickt hat. Man sieht darauf eine Terrasse mit Sonnenschirmen, weißen Tischen und Stühlen, im Hintergrund schönstes Bergpanorama. Auf der Rückseite des Fotos steht: „Im Hof des Grand Hotels in Berchtesgaden.“

  Zwischen 1933 und 1945 war der Obersalzberg in Berchtesgaden ein Machtzentrum der Nationalsozialisten. Über ein Viertel seiner Zeit hat Hitler in diesen Jahren hier verbracht, viele internationale Staatsgäste empfangen, auch im Sommer 1936. Und viele Gäste sind im Grand Hotel abgestiegen, das der NSDAP gehörte. Hat der verliebte Keon aus Versehen den Beweis geliefert, dass Wang Jingwei im Geheimen Hitler doch getroffen hat?

  Das Museum am Obersalzberg bestätigt, dass auf dem Foto von Keon die Terrasse vom Hotel „Berchtesgadener Hof“ zu sehen ist. Und Hitler war im Sommer 1936 in Berchtesgaden. Also in dem Zeitraum, als das Foto von Keon dort aufgenommen wurde.

  Noch ein weiteres Detail passt: In einer Reisebeschreibung eines engen Vertrauten von Wang wird Berchtesgaden ebenfalls erwähnt. Der Wissenschaftler aus China, der diese Entdeckung gemacht hat, wusste allerdings nichts über die Bedeutung dieses Ortes für das Hitler-Regime.

  Ein eindeutiger Beweis ist all das nicht. Aber als wir Zhiyi Yang von dem Fund berichten, reagiert sie überrascht: „Das ist natürlich faszinierend, ich habe wirklich nicht geglaubt, dass er sich mit Hitler getroffen hat.“ Neben ihr müssen wir mehreren Wissenschaftlern versprechen, die neuen Indizien mit ihnen zu teilen, immerhin ist das eine Frage, die einschlägige Forscher seit Jahrzehnten umtreibt.

  Was historisch unbestritten ist: Hitler schließt im November 1936 mit dem Japanischen Kaiserreich den gegen die Sowjetunion gerichteten Antikominternpakt. China bleibt außen vor. Ein halbes Jahr später beginnt Japans Krieg gegen seinen Nachbarn. Im Dezember 1937 marschieren japanische Soldaten in die damalige chinesische Hauptstadt Nanjing ein und töten bis zu 300 000 Chinesen. Dieses Massaker ist bis heute ein Trauma, das das Verhältnis zwischen China und Japan belastet.

  In jenem Jahr verlässt Keon seine Wahlheimat Aachen. In der Kiste finden wir einige Bilder, die ihn auf dem Schiff Victoria zeigen. Das Schiff gehört einer italienischen Reederei und fährt von Genua nach Shanghai, mit Stopps in Mumbai, Singapur und Hongkong. Damals gilt es als das schnellste Motorschiff der Welt und wird auch „weißer Pfeil“ genannt. Aufgrund seiner luxuriösen Ausstattung mit Klimaanlagen und gutem Essen ist es besonders unter Adeligen und reichen Leuten beliebt. Die Victoria bringt Keon zu seiner Familie, in seine Heimat, die sich nun im Krieg befindet. Magda lässt er zurück.

  Wir sind in den folgenden Jahren mehrmals in Aachen. Paul Näfe sagt bei einem unserer Kaffeekränzchen, er habe sich noch mal bei seinem älteren Bruder, der mehr über ihre Mutter wusste, nach den möglichen Gründen für Magdas Bleiben erkundigt. „Er war sich nicht ganz sicher. Aber es hätte so sein können, dass meine Mutter zu Hause gesagt hätte, sie möchte gerne mit dem Keon nach China gehen und dass das dann abgelehnt worden war. Oder auch, dass der Keon meine Mutter gefragt hat: Geh doch mit nach China. Und dass sie dann abgelehnt hat: Nach China ist mir doch was weit. Als Aachener Mädchen ist man da ein bisschen vorsichtig.“

  Magda und Keon hören jedenfalls nicht auf, einander zu schreiben. So erfährt Keon sicher per Brief, dass Ende 1937 eine Hochzeitsfeier im Rheinland stattfindet. In der Kiste finden wir eine Dankeskarte des Brautpaars. Darauf steht: „Für die anläßlich unserer Vermählung erwiesene Aufmerksamkeit danken herzlichst Hans Adolf Scheid und Frau Kathi geborene Zauß“.

  Magdas kleine Schwester Kathi, die auf so vielen Fotos zu sehen ist und mit der Magda ihre Kindheit und Jugend verbracht hatte, hat geheiratet. Ihr Mann, Adolf Scheid, war auch in der Clique von Magda, Keon und Kathi. Er ist auf einigen Fotos zu sehen, auf denen die Freunde zusammen feiern, ein fescher Kerl mit zurückgekämmten dunklen Locken.

  Diese Ehe hätte zu jener Zeit eigentlich nicht geschlossen werden dürfen. Kathi Zauß war psychisch krank und mehrmals stationär in Behandlung, etwa in der Nervenheilanstalt in Bonn, wie wir später noch herausfinden. Und sie war einer von 400 000 Menschen, die in der Nazi-Zeit deswegen zwangssterilisiert wurden. Auf der Homepage der Bonner Klinik steht, damals habe das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ offiziell die Zwangssterilisation psychisch, geistig und körperlich Kranker ermöglicht.

  Der Horror der Nazi-Zeit mag sich nicht in den Briefen des verliebten Keon zeigen oder auf den Porträts seiner Magda. Die beiden bleiben in ihrer kleinen Welt, die große blenden sie aus. Aber der Terror ist doch in der Kiste greifbar, durch die Unterlagen, die Kathis Schicksal beleuchten.

  Da liegt ein Zeitungsausschnitt aus dem November 1937 mit dem Titel: „Geisteskrankheit – chemisch nachgewiesen“. Als Untertitel steht da: „Gehirnmasse Schizophrener verrät sich im Reagenzglas“.

  Auch ist da ein Zettel, auf dem ein Gesetzestext steht. „Nach nationalsozialistischer Auffassung liegt der Sinn der Ehe, wenn auch nicht ausschließlich, so doch wesentlich, in der Erzeugung gesunder Kinder zur Erhaltung des Volkes.“ Männer durften keine Frauen heiraten, die keine Kinder kriegen konnten. Nur über persönliche Beziehungen zu einem Rechtsanwalt, der Nazi war, sollen Kathi Zauß und Adolf Scheid es geschafft haben zu heiraten. So erzählen es heute ihre Verwandten.

  Keon schickt Magda damals zahlreiche Fotos aus China. Auf einem sieht man ihn in einem Holzboot im Süden des Landes, ein anderes zeigt ihn auf einem Schiff nach Macau. 1938 ist er auch in Malaysia unterwegs, er schickt Bilder von einem Wasserkraftwerk aus der Provinz Perak, der Region, aus der seine Familie ursprünglich stammt. Hunderttausende Chinesen sind in den vergangenen Jahrhunderten nach Südostasien gezogen, um dort zu arbeiten und Handel zu treiben. Die Vorfahren von Keon waren aus Südchina nach Perak gezogen, an der Westküste von Malaysia. Keons Großvater ist hier mit dem Handel von Zinn sehr reich geworden, was auch das luxuriöse Leben erklärt, das Keon später in Aachen führt.

  Wang Jingwei ist in den Jahren vor der Revolution nach Malaysia gereist, um die vielen reichen Chinesen dort zu treffen. Die Überseechinesen sollten die chinesische Revolution in der Heimat finanziell unterstützen. Dabei lernte er Chen Bijun kennen, seine spätere Ehefrau. Ihr Bruder ist Keons Vater.

  Keon verrät in seinen ersten Briefen an Magda Anfang der Dreißigerjahre nicht viel von seiner Familie. Ein einziges Mal erwähnt er seine offenbar kranke Mutter – verbunden damals schon mit dem Schmerz einer drohenden Trennung von seiner Freundin.

  „Ich warte immer noch auf die Nachricht von Hause. Wie traurig, daß das vorkommen darf, daß mein Mutter nicht gesund ist. Ich weiß nicht, ob ich dich wiedersehe, wenn ich wirklich nach Hause fahren muß. Mein Herz wird zerrißen, wenn meine liebe Magda nicht mehr in der Erscheinung kommt. Du bist meine best, allerliebste, und einzige Freundin.“

  Nun, nach fünf gemeinsamen Jahren in Aachen, ist Keon schließlich zurück in Asien. Von dort schickt er seine Briefe auch an Kathi. Der letzte Brief in der Kiste aber ist nicht von ihm. Er ist von Magda geschrieben, datiert auf den 11. September:

  „Mein lieber Keon, es ist schon einige Monate her, daß ich Deinen letzten Brief vom 22.4.39 erhielt. Allerhand ist passiert, nur nichts Gutes seitdem. Du hast ganz sicher gehört, daß in Europa nun auch Krieg ausgebrochen ist. Du kennst ja seine Schrecken und Leiden, lieber Freund. Bis jetzt können wir noch friedlich in Aachen wohnen und brauchen das Gebiet nicht zu räumen. Hoffentlich wird es so bleiben, denn wenn man die Heimat verliert, daß ist echt etwas schlimmes. Seit einigen Tagen bin ich zu Besuch bei Kathi in Köln um mich hier zu erholen. Vorige Woche habe ich die Meisterprüfung gemacht und bestanden. Ich hatte viel Arbeit und war deshalb so faul im Schreiben.

  Wie geht es Dir lieber Keon? Bist Du noch gesund und was machst Du? Bitte gib bald ein kleines Lebenszeichen von Dir.

  Ein Brief von Dir, an Kathi gerichtet, kam vor ungefähr 6 Wochen an. Ich habe ihn sofort geöffnet und gelesen, obschon er nicht für mich bestimmt war.

  Gesundheitlich geht es uns noch gut.

  Kathi hat eine sehr nette kleine Wohnung in Köln. Sie wohnt weit vor der Stadt auf dem Land. In vielen Straßen riecht es hier nach Pferden und Ställen, also von der Großstadt ist sehr wenig zu spüren.

  Adolf hat morgens und abends eine ziemlich lange Fahrt mit der elektrisch. Bahn zum und vom Betrieb. Aber in großen Städten ist das immer so. Gestern abend gingen wir zusammen in’s Kino. Ich sah einen Film, den ich vor einem halben Jahr schon einmal in Aachen sah. Denn du kannst Dir denken mein Lieber, das Tempo und die Ruhe um sich zu erholen habe ich hier.

  Wenn ich jetzt nur wüsste wie es Dir geht. Bis dich dieser Brief erreicht und Du mir geantwortet hast, kann viel geschehen sein.

  Wir wollen das Beste für uns hoffen lieber Keon.

  Ich sende Dir viele herzliche Grüße und küsse Dich zärtlich

  Deine Magda“

  Es ist der einzige Brief in der Kiste, der von ihr stammt. Er hat Keon aber nie erreicht, sondern wurde nach Deutschland zurückgeschickt. Auf dem Umschlag ist Keons Adresse in Hongkong durchgestrichen. Neben der Briefmarke prangt ein dicker blauer Stempel: „Zurück“.

  In der Kiste findet sich kein Hinweis mehr, dass die beiden danach noch in Kontakt gewesen wären. Die große Welt dreht sich unterdessen weiter.

  In China verliert Keons Onkel, Wang Jingwei, an Rückhalt in der Regierungspartei, das Land kämpft weiter verzweifelt gegen das Vordringen der Japaner. Ende 1938 flieht Wang nach Vietnam, wo er ein weiteres Attentat überlebt. Auch Keon ist dabei, sein Bruder, schreibt er Magda, wird von den Attentätern sogar verletzt.

  Nach Geheimverhandlungen mit Japan kehrt Wang zurück und gründet im Jahr 1940 die „Neuorganisierte Regierung der Republik China“.

  Wang hat es geschafft, er ist nun Regierungschef seiner Heimat – aber es ist eine Marionettenregierung, mit Sitz in Nanjing, unter strikter Kontrolle Japans. Wang verbündet sich mit dem Feind.

  Fast alle seine Familienmitglieder übernehmen Posten in dem neuen Regime, und in einem Zeitungsarchiv entdecken wir tatsächlich, wie es weiterging mit Keon: Er arbeitet als Techniker in der Fliegerabteilung der Militärkommission der Regierung und als Generalmajor und Direktor einer Luftfahrtabteilung in der Südprovinz Guangdong, wo seine Tante Chen Bijun, Ehefrau von Wang Jingwei, die Macht übernimmt. Weil das Regime mit den Japanern zusammenarbeitet, ausgerechnet in Nanjing, wo die japanischen Soldaten 1937 so viele Menschen vergewaltigt und abgeschlachtet haben, ist Wangs Regierung im Volk verhasst. Bis heute.

  Und in Deutschland? Wütet der Krieg. „Wir wurden dann evakuiert, wie man das nannte. Das heißt, Zivilpersonen mussten 1943 aus Aachen raus, weil die Stadt zur Festung erklärt worden war angesichts der drohenden Angriffe der Alliierten“, erzählt Paul Näfe mit dem kundigen Ton eines ehemaligen Professors und dem gemütlichen Einschlag eines Rheinländers, während seine Frau Kaffee nachschenkt. Nur Leute, die lebenswichtige Berufe ausgeübt hätten, wie Bäcker, Metzger oder Müller, durften in Aachen arbeiten, dort über Nacht bleiben konnten sie aber nicht. Magda und ihre Familie mussten damals in ein Quartier in Belgien ziehen, ihr Mann fuhr jeden Morgen mit dem Zug nach Aachen und abends wieder raus.

  Im Krieg werden zwei Drittel von Aachen zerbombt. Auch das Stadtpalais der Erholungsgesellschaft, in der sich Magda und Keon kennengelernt haben, wird größtenteils zerstört. 1944 leben in der Stadt mit einst 160 000 Einwohnern nur noch 20 000 Menschen.

  Und während der Krieg mit seinen Toten und Verletzten, mit all der Zerstörung und den Entbehrungen die Gegend überzieht, trägt sich in Aachen-Burtscheid eine Tragödie zu, die Magda und ihre Familie für immer erschüttert hinterlässt.

  An Heiligabend 1944, Adolf ist in Russland im Krieg, stirbt Kathi. Mit nur 34 Jahren.

  Paul Näfe erzählt heute, 80 Jahre später, von dem Gerücht, das er in einer Gaststätte aufgeschnappt habe. Seine Tante habe demnach ein Verhältnis mit einem englischen Offizier gehabt und hätte sich vor der Rückkehr ihres Mannes aus Scham vergiftet. Seine Frau wiederum habe von Magdas früherer Putzhilfe gehört, Kathi habe sich ertränkt. Innerhalb der Familie sei nicht viel über ihren Tod gesprochen worden, sagt er, und wenn, dann hieß es, Tante Kathi sei an einer Lungenentzündung gestorben. Das hätte in der Nazi-Zeit auch etwas ganz anderes heißen können: Angehörigen von psychisch Kranken wurde diese angebliche Todesursache genannt, wenn die Patienten in Wahrheit getötet wurden, in den Heilanstalten. Auf der Homepage der Nervenheilanstalt in Bonn, in der Kathi in Behandlung war, heißt es über die damalige Zeit: „Hunderte Bonner Patientinnen und Patienten werden in Tötungsanstalten geschickt und sterben dort, weil sie von den NS-Verantwortlichen als sogenannte ‚Ballastexistenzen‘ und ‚Rassenübel‘ abgeurteilt werden. Die verantwortlichen Ärzte der Bonner Anstalt unterstützen aktiv die ‚Euthanasie‘-Aktion.“

  Aber: Nicht einmal, wo Kathi gestorben ist, ist klar. Das Stadtarchiv und zunächst auch die Familie meinen, sie sei in diesem Haus, in dem wir mit den Näfes sitzen, tot aufgefunden worden. Aber Paul Näfe, den der Fall nun zu interessieren beginnt, wird noch Kathis Sterbeurkunde finden. Demnach ist sie im Marienhospital in Aachen gestorben. Ein Hinweis auf die Todesursache? Fehlt auf dem Dokument.

  Fast zur gleichen Zeit, im November 1944, stirbt mehr als 9000 Kilometer weiter östlich Wang Jingwei in Japan. In Nanjing lässt sich der Ort besichtigen, wo er begraben wurde. Im Osten der Stadt liegt der purpurne Berg, Millionen Chinesen pilgern jedes Jahr hierher, um das Mausoleum von Staatsgründer Sun Yatsen zu besuchen. 392 Stufen führen hoch zu einem Gebäude, das aussieht wie ein Tempel. Was aber nur die wenigsten wissen: Auf einem kleinen Berg daneben wurde Wang Jingwei begraben. Das wollte er so. In einer Reihe mit Chinas Staatsgründer.

  Aber während Sun Yatsen bis heute verehrt wird, ist Wang verhasst. Biografien über ihn sind dramatisiert, verfälscht und von Sensationsgier getrieben. Aus vielen Geschichtsbüchern ist er gestrichen. Immer mehr Intellektuelle in China sehen in ihm aber vor allem einen unglücklichen Kerl, der aus guter Absicht gehandelt hat, mit schlimmen Folgen. So schreibt uns das ein chinesischer Journalist aus Peking, der von unseren Recherchen hört und selbst zu den Beziehungen zwischen Deutschland und China in den Dreißigerjahren forscht.

  Im Park in Nanjing wirkt Wang eher vergessen. Ein Mitarbeiter kennt den Weg zu Wangs Grabstelle nicht, eine ganze Weile irren wir durch die schöne Landschaft, die blühenden Pflaumenbäume, rund um das Mausoleum von Sun Yatsen. Dann entdecken wir doch noch ein unscheinbares Schild, das die meisten Touristen nicht beachten. In kleiner Schrift heißt es: „Hier befand sich das Grab von Wang Jingwei, einem großen Verräter Chinas.“

  Und: „Im Januar 1946 wurde das Grab gesprengt.“

  Sein Grab zerstört, sein Name verhasst. Was also bleibt von Wang, dem einstigen Held der jungen Republik? Und was wurde aus Keon?

  Viele Familienmitglieder um Wang Jingwei werden nach dem Krieg vor Gericht gestellt. Auch Keon wird wegen Verschwörung mit dem Feind zu zehn Jahren Haft verurteilt, sein gesamter Besitz konfisziert.

  Dass er tatsächlich ins Gefängnis muss, wissen wir, weil er in seiner Haftzeit Gedichte geschrieben hat, die später im Nachlass von Wangs Familie wieder auftauchten. Zum Beispiel: „Ich bin seit zwei Jahren allein eingesperrt. Wie kann ich es ertragen, unschuldig und doch zu Unrecht eingesperrt zu sein? Mein Leben wurde durch eine offizielle Position ruiniert.“

  In einem anderen Gedicht erwähnt er „Frau und Kinder, Tausende von Kilometern entfernt“. Wie Magda muss er also nach seiner Trennung geheiratet haben.

  Danach verlieren sich seine Spuren.

  Viele Wang-Vertraute sind später nach Hongkong gegangen und von dort in die USA oder nach Südostasien. Aber selbst wenn wir wüssten, wohin Keon später gezogen ist, mal eben ins Telefonbuch schauen können wir nicht. Chen gehört nicht nur zu den häufigsten Nachnamen unter Chinesen, es gibt auch noch unzählige Arten, den Namen in lateinischen Buchstaben zu schreiben. Chen, Chan, Chin, Zen, Tchen, Dan, Seng und Sin ... Allein Keon verwendet in den Unterlagen aus der Kiste drei verschiedene Schreibweisen für seinen eigenen Namen. Wen wir aber kennen: Wangs Enkeltochter. Cindy Ho, die Betreiberin der Wang-Stiftung. Mit dem Hinweis auf ihrer Internetseite hat unsere Keon-Recherche damals begonnen.

  In einem Hotel in Washington, D. C., kommt sie sofort auf uns zu, als sie uns sieht. Dann bietet sie an, ihren Ausweis zu zeigen, um zu beweisen, dass sie wirklich Cindy Ho ist. Aber das braucht es gar nicht. Sie sieht ihrem Großvater auffällig ähnlich. Sie hat seine feinen Gesichtszüge und hohen Wangenknochen.

  Im Gespräch wirkt Cindy Ho hilfsbereit, sie redet schnell, immer wieder fallen ihr Fakten und Quellen ein, aber sie ist auch vorsichtig. Sie will genau wissen, was wir mit unseren Ergebnissen anstellen und wie wir sie zitieren wollen. Während wir an der Kiste recherchieren, hat sie fast ein Dutzend Sammlungen mit den Schriften ihres Großvaters herausgebracht. 2010, knapp siebzig Jahre nach seinem Tod, hatte sie den Kampf um sein Ansehen neu aufgenommen. Durch die Veröffentlichung seiner Schriften und Gedichte scheint sie vor allem seine Fähigkeiten als Staatsmann und Denker betonen zu wollen.

  Manche Forscher, mit denen wir reden, werfen ihr allerdings vor, nicht alle Materialien zu veröffentlichen, sondern nur ausgewählte. Und Cindy Ho schreckt auch nicht davor zurück, Forscher zu kritisieren, die Wang aus ihrer Sicht falsch darstellen. Beispielsweise Zhiyi Yang, die Expertin aus Frankfurt, die mehrere „schwerwiegende Faktenfehler“ in ihrem Buch gemacht und Aussagen verdreht habe.

  Über ihren Großvater sagte sie: „Er versuchte, Leuten ein normales Leben zu geben. Nicht nur 50, wir reden von Millionen, Hunderten Millionen.“ Gemeint ist damit Wangs Marionettenregierung, in deren Herrschaftsgebiet durch die Kollaboration mit den Japanern keine Kämpfe mehr stattfanden.

  Wir zeigen ihr die Bilder von Keon und Magda. „Die Leute sind einfach nur Leute, und sie verlieben sich. Allem zum Trotz übertrumpft dieses grundlegende menschliche Gefühl politische, rassische Unterschiede. Es spielt keine Rolle, ob sie Deutsche ist oder er Chinese. Er könnte Japaner sein. Liebe ist Liebe.“

  Doch auch Cindy Ho kann bei der Frage, wo Keons Familie heute sein könnte, am Ende nicht helfen, sie ist ja selbst immer noch auf der Suche nach Teilen ihrer Familie. Gerade habe sie zum ersten Mal Cousins von ihr in Malaysia getroffen, sagt sie. Doch auch die wüssten nicht viel.

  Eine ganze Familie wie vom Erdboden verschluckt. Aber vielleicht ist das auch keine Überraschung. Der Name Wang Jingwei ist in Asien untrennbar mit den Verbrechen der Japaner verbunden. Wenn es sie gibt, wollen die Nachfahren von Keon vielleicht gar nicht gefunden werden.

  Es gibt ein Tagebuch eines Wegbegleiters von Wang, darin wird Keon genannt: Gemeinsam mit seiner Frau soll er in Hongkong ein Bauunternehmen gegründet haben. Vielleicht ging Keon auch zurück nach Malaysia. In der Todesanzeige seines Vaters wurden neun Kinder erwähnt – demnach waren drei davon Fotografen im malaysischen Penang. Vielleicht aber ist Keon auch schon jung gestorben, wer weiß das schon.

  Vielleicht war alles ganz anders. Vielleicht melden sich auch, wenn diese Geschichte erscheint, Nachkommen von Keon bei uns und erzählen uns, wie sie ihn erlebt haben. Dann könnten wir ihnen von ihm erzählen, so wie wir den Näfes von ihrer Mutter berichten konnten.

  Der Aachener Reisfladen bei den Näfes jedenfalls schmeckt mit jedem Besuch besser. Über die Magda der Dreißigerjahre rätseln wir zusammen, über die spätere erzählen sie uns: Magda fängt noch während des Krieges an, die Konditorei ihres Mannes mitzuleiten. Als Richard Näfe 1962 stirbt, führt sie den Laden allein weiter. Ihre Kinder beschreiben sie als sachliche Geschäftsfrau, die bis ins hohe Alter gearbeitet hat. Eine, die sich nie beschwert hat.

  Paul Näfe erinnert sich, wie er seine Mutter davon überzeugen wollte, sich nach all den Schicksalsschlägen ein wenig Ruhe zu gönnen. „Du hast doch wirklich genug mitgemacht. Du hast den Ersten Weltkrieg, den Zweiten Weltkrieg mitgemacht. Tante Kathi starb. Du hast deinen Mann zu Grabe getragen. Willst du dich nicht mal zur Ruhe setzen? Da sagt sie: ‚Bist du ein bisschen bekloppt? Ich setz’ mich doch nicht zur Ruhe und sitz in meiner Wohnung und langweil’ mich da.‘“ Sie hört erst zu arbeiten auf, als ihr älterer Sohn im Jahr 1996 die Konditorei aufgibt. Der ältere Sohn erlebt diese Veröffentlichung der Geschichte seiner Mutter nicht mehr, er stirbt 2023.

  Sein jüngerer Bruder, Paul Näfe, zeigt uns ein Foto von seiner Mutter, das wir noch nicht kennen. Ein Porträt von Magda an ihrem letzten Geburtstag. Sie hat halblange weiße Haare, sie lächelt, ihr Blick ist wach. Sie sieht direkt in die Kamera, wie damals. Paul Näfe sagt, im Alter habe sie ihm einmal anvertraut: „Junge, so alt zu werden, macht keinen Spaß.“ Magdalena Zauß wohnt bis zu ihrem Tod allein in ihrer Wohnung. Sie stirbt mit 101 Jahren.

  Bis 2009 also, bis zu Magdas Tod, hätten wir noch die Chance gehabt, von ihr selbst zu hören, wie das damals war, mit Keon und mit seinem Onkel, mit ihrem Mann Richard, mit ihrer Schwester Kathi. Aber eine unserer großen Fragen hätte wohl selbst sie nicht beantworten können: Wie kam denn nun die Kiste mit ihren Fotos und Briefen in den Keller des Kölner Mehrfamilienhauses, wo sie Ende der Neunzigerjahre herumstand und von unserer Leserin gefunden wurde?

  Auf die richtige Spur hat uns die Kiste am Ende selbst gebracht. Wir haben die Fotos und Dokumente in der Kiste immer wieder neu geordnet, die entscheidende Sortierung war die nach Familien. Neben den vielen Bildern, die Magdas Leben zeigen, gibt es etliche, die der Familie von Kathis Mann zuzuordnen sind: Adolf Scheid. Diese Fotos stammen nicht aus den Dreißigerjahren, sondern vor allem aus den Vierzigern. Als hätte er Magdas Sammlung um seine ergänzt.

  Wir fragen die Näfes nach der Familie Scheid. Ja, früher habe man viel Kontakt gehabt zu Adolf Scheid, dem Onkel Adi, wie sie ihn nannten. Ein geselliger Typ, sportlich, lustig, natürlich längst verstorben. Nach Kathis Tod hatte er aber wieder geheiratet, Brigitte, eine Frau, die – zu unserem Glück – viel jünger war als er. Die beiden haben einen Sohn, Jochen. Und der hat wohl mal in Köln gewohnt.

  Auf den Klingelschildern des Mehrfamilienhauses in Köln finden wir keinen Scheid, aber eine langjährige Nachbarin kennt ihn. Jochen Scheid sei schon lange ausgezogen. Also schreiben wir ihm, doch er verweist sofort auf seine Mutter, die kenne die ganze Geschichte. Sie ist 90 Jahre alt und wohnt in einem Seniorenheim in Österreich.

  Brigitte Bajer empfängt uns in ihrer Wiener Seniorenstift-Wohnung mit zurückgebundenen grauen Haaren und einer beeindruckenden Eloquenz. Bei Tee und Käsekuchen erzählt sie die Geschichte der Kiste, nach der wir so lange gesucht haben.

  Als Magda damals schwanger wurde, war klar, dass sie schnellstmöglich heiraten musste. Ihr zukünftiger Ehemann, Richard Näfe, „ein strenger Mann“, sollte aber nie von ihrer früheren Beziehung erfahren. Und weil sie es offenbar nicht über sich gebracht hat, die Liebesbriefe von Keon und die Bilder wegzuwerfen oder zu verbrennen, hat sie alles noch vor der Hochzeit ihrer Schwester und ihrem Schwager anvertraut, Kathi und Adolf, „damit ihr Mann das nicht in die Finger kriegt“, sagt Brigitte Bajer. Sie mussten versprechen, das Geheimnis zu wahren.

  Drei Jahre später stirbt Kathi. Brigitte Bajer erzählt nun in Wien von einer weiteren Version der Todesumstände: Sie habe gehört, Kathi sei von einem amerikanischen Soldaten vergewaltigt worden und habe sich danach das Leben genommen.

  Nach Kathis Tod war Adolf der alleinige Hüter der Bilder und Briefe. Und nach seinem Tod erbte sie selbst, seine zweite Frau, die Unterlagen und damit auch die Verantwortung dafür. Im Laufe der Jahrzehnte sind Brigitte Bajer und ihr Sohn Jochen Scheid mehrmals umgezogen, die Fotos wurden irgendwann in jenen Tortenböden-Karton (Ablaufdatum Oktober 1988, steht darauf) gepackt, den wir hier als Kiste bezeichnen. Schließlich landete die Kiste bei den Sachen von Jochen Scheid. Und als der Ende der Neunzigerjahre aus dem Kölner Mehrfamilienhaus auszog, hat er sie dort vergessen.

  Brigitte Bajer hat die Kiste nicht vermisst, sie habe sie total vergessen, sagt sie. Als sie nun aber erfahren habe, dass die Bilder und Briefe bei Journalisten gelandet sind, habe sie einen Schrecken bekommen: „Um Gottes willen, wenn die Familie das erfährt!“ Deswegen hatte sie beim Vorgespräch am Telefon noch darauf bestanden, dass diese Geschichte niemals veröffentlicht werden dürfe. Brigitte Bajer war erst beruhigt, als wir ihr erzählten, dass die (über 75 Jahre alten) Kinder von Magda längst von ihrer damaligen Liebe zu Keon erfahren haben. Und dass sie nicht angefasst waren, sondern berührt.

  Für unsere Leserin in Köln war die Kiste ein Zufallsfund, der sie rätseln ließ. Für Brigitte Bajer war sie ein Tresor, der nie geöffnet werden sollte. Für Magdas Kinder ist die Kiste ein Familienalbum, über das sie ihre Mutter noch einmal neu kennenlernen. Als eine verliebte, glückliche junge Frau, bevor der Krieg wütete, bevor ihre Schwester starb und bevor sie jung zur Witwe wurde.

  Für uns? War die Kiste eine Schatzkiste, in der immer und immer wieder Neues zu finden war. Eine schier unendliche Geschichte. Neun Jahre nachdem die Kiste als unbestelltes Paket in der Redaktion angekommen ist und wir fasziniert hineingeblickt haben, schließen wir sie nun wieder, endlich. Wir schreiben der Absenderin des Pakets noch eine Mail, in der wir uns abermals bedanken. Sie antwortet, sie sei schon gespannt, was wir herausgefunden hätten über Magda und Keon, und:

 Ich hätte ja noch eine Kiste auf dem Speicher ... ;) Diese betrifft die Herkunft meiner Familie väterlicherseits. ‚Hawaii files‘ steht darauf. Fotos, Briefe, angeblich sind wir mit dem letzten König von Hawaii verwandt. Nur falls Sie mal Langeweile haben ...