Chemnitz. Wie seine Tauben den Weg nach Hause finden, das kann man nicht in einem Satz erklären, sagt Adel Matar. Es sei eine komplizierte Angelegenheit. Forscher rätseln darüber. „Die Tauben steigen höher und höher“, erzählt Adel Matar. Lässt er sie in Chemnitz fliegen, orientieren sie sich, so hat er es oft beobachtet, an markanten Gebäuden. Dem Congress-Hotel, das neben der Stadthalle in den Himmel ragt. Dem Roten Turm. Auch der Sonnenstand spielt eine Rolle. Und das Magnetfeld der Erde vermutlich.
Bisher haben die Tauben immer den Weg in ihren Verschlag gefunden, in einem Kleingarten im Chemnitzer Stadtteil Sonnenberg. Auch Adel Matar hat hier nach langer Suche sein Zuhause gefunden. Glaubte er zumindest.
Adel Matar - auf dem Sonnenberg kennt ihn jeder unter diesem Namen. Es ist der Name, der an seiner Klingel steht. Von seiner Wohnung bis zum Kleingarten sind es vielleicht zehn Minuten. Diese zehn Minuten reichen, um die Stadt hinter sich zu lassen. Dann schweift der Blick bis zu den ersten Höhenzügen des Erzgebirges. Jeden Tag geht Adel diesen Weg. Die Tauben brauchen Pflege, Wasser, Futter.
Dem Garten würde auch ein bisschen Pflege guttun. Das Gras ist niedergedrückt, hier und da liegt Gerümpel. Nicht viel, doch Adel Matar hätte es gern ordentlicher. Nur hat er derzeit andere Sorgen. Im Sommer stieg hier noch eine Party, 40 Leute kamen. Jetzt steht Adel Matar da, zusammen mit Ahmed Bejaoui, einem aus Tunesien stammenden Freund. Beide rauchen Zigaretten. Adel Matars Blick wirkt abwesend. So als sähe er durch den Garten hindurch.
Die Gedanken kreisen in seinem Kopf
Dann fällt ihm etwas ein. In ein paar Tagen komme eine Freundin, sie habe ein Auto, erzählt er. Dann kann er endlich das Gerümpel wegbringen. Zumindest den Garten aufräumen. Die Gedanken, die in seinem Kopf kreisen, wird er so schnell nicht los.
Die Ausländerbehörde der Stadt Chemnitz hat ihm die Duldung entzogen. Damit hat er auch seine Arbeitserlaubnis verloren. Adel Matar ist jetzt verpflichtet, sofort auszureisen. Er muss jederzeit mit der Abschiebung rechnen.
Adel Matar ist einer dieser vielen Fälle, die die Politik umtreibt. 2752 Menschen waren laut einer Erhebung des Portals Statista unter Berufung auf das Ausländerzentralregister zum Stichtag 31. Dezember 2023 in Sachsen ausreisepflichtig. 726 Menschen wurden in den ersten neun Monaten des Jahres 2024 aus Sachsen abgeschoben, die meisten nach Georgien, Tunesien, Nordmazedonien, Türkei und Venezuela, darunter 68 verurteilte Straftäter.
Die neue Landesregierung hat versprochen, Abschiebungen in Zukunft effizienter machen. Innenminister Armin Schuster (CDU) will sogenannte Abschiebezentren eröffnen, Menschen wie Adel Matar müssen dann ihre Wohnungen verlassen und sich in so einem Zentrum aufhalten, bis zur Abschiebung.
Die Geschichte einer Lüge
Da steht er jetzt, ein Mann vor dem Nichts, ohne Job, ohne Geld. Arbeiten darf er nicht, auf Arbeitslosengeld hat er keinen Anspruch mehr. Es ist das vorläufige Ende einer Reise, die vor zehn Jahren begann, als Adel Matar entschied, nach Europa zu fliehen, in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Es ist auch die Geschichte einer Lüge, die lange unentdeckt blieb, und für die Adel Matar jetzt einen Preis zahlt, den viele, die ihn kennen, für zu hoch halten.
Als Adel Matar vor 47 Jahren in Jordanien geboren wurde, hieß er Adel Alkhaldy. Als er 2014 nach Deutschland kam, nannte er sich Adel Matar. Und gab sich als Palästinenser aus, der in Syrien gelebt hat. „Ein Fehler“, sagt er heute. Jemand habe ihm gesagt, nur so habe er eine Chance auf Asyl. Er dachte nicht darüber nach, welche Folgen dieser Fehler für ihn haben könnte. Adel Matar, der von Jordanien in die Türkei gelangte, von dort aus nach Libyen flog und schließlich in einem Schiff übers Mittelmeer kam, wollte nicht zurück. So erzählt er es heute.
Die Behörden in Deutschland winkten die Syrer in jenen Jahren aufgrund des immensen Andrangs erst einmal durch, das bestätigt heute ein Sprecher des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, kurz Bamf. Der Flüchtlingsstatus wurde Syrern erst einmal zuerkannt, die genauere Prüfung auf später verschoben. Syrer sollten schnell einen Aufenthaltstitel bekommen, ihre Familien nachholen, arbeiten dürfen.
Der Fingerabdruck
Schon 2015 warnte der Bundesinnenminister, der damals Thomas de Maizière hieß, dass sich viele Flüchtlinge als Syrer ausgeben würden, die gar keine Syrer seien. Er schätzte den Anteil auf 30 Prozent. Diese Zahl wurde nie bestätigt. Niemand weiß, wie viele Menschen damals ihre Identität verschleierten. Und wie viele von ihnen heute noch unter falschem Namen in Deutschland leben.
Auf seiner Reise kam Adel Matar durch Österreich. Dass die Behörden dort seine Fingerabdrücke nahmen, ihn unter seinem richtigen Namen, Alkhaldy, registrierten, das verdrängte der Mann, der jetzt Adel Matar hieß. So soll er auch in diesem Text heißen, denn als Adel Matar lebt er seit fünf Jahren in Chemnitz, so stellte er sich beim Bamf vor und später bei der Stadt Chemnitz, so kennt man ihn, Adel, der Palästinenser aus Syrien. Der Nachbar, der Freund, der Mann mit den Tauben. Er hat der „Freien Presse“ seine Geschichte erzählt, die Menschen, die ihn kennen, und die Behörden bestätigen.
Der Flüchtling vom Willkommensdienst
Adel Matar kam erst ins Erzgebirge und bald nach Chemnitz. Er lebte sich schnell ein. 2015 und 2016 stand er nachts am Hauptbahnhof, um gestrandete Flüchtlinge in Empfang zu nehmen. Menschen wie ihn, die in Deutschland ein neues Leben anfangen wollten. „Chemnitzer Willkommensdienst“, nannte sich die Initiative.
Ein Erlebnis mit Adel Matar ist Bernhard Herrmann, dem heutigen Grünen-Bundestagsabgeordneten, im Gedächtnis geblieben. Als im Stadtteil Markersdorf eine Turnhalle zur Unterkunft umfunktioniert werden sollte, gab es Proteste. Die Flüchtlinge kamen erst mal in einem Gemeindehaus unter. Ein Stein flog gegen eine Scheibe. Aufgebrachte Flüchtlinge aus der Erstaufnahmeeinrichtung in Chemnitz-Ebersdorf, die davon gehört hatten, wollten sich auf den Weg nach Markersdorf machen, ans andere Ende der Stadt. Sie sammelten sich schon am Zaun. Niemand sprach ihre Sprache, weder die Polizei noch die Mitarbeiter. Doch Adel Matar gelang es, die Nerven der aufgebrachten Menschen zu beruhigen, erzählt Herrmann.
Später initiierte Adel Matar die Aktion „Zwei Tage für Chemnitz“, bei der Flüchtlinge Nachbarschaftshilfe für Chemnitzer anboten. Er habe der Stadt etwas zurückgeben wollen, sagt er.
2016 bekam er seine erste Anstellung, als Hausmeister. Wenn er arbeitslos war, dauerte es meist nur einige Wochen, bis er wieder einen Job gefunden hatte. Meist bei Baufirmen. Adel Matar, sagt, er habe nie Geld vom Staat gewollt. Er wollte arbeiten.
Und Tauben züchten. Im Vorderen Orient ist das Brieftaubenwesen seit Jahrtausenden verbreitet. Die Kreuzritter brachten es nach Mitteleuropa. 80 Tiere gurren im Taubenschlag in Adels Garten auf dem Sonnenberg. Wenn er jetzt gehen muss, will ein Bekannter ein paar davon übernehmen. Was wird aus dem Rest?
Auf dem Weg zurück in die Stadt zeigt Adel Matar auf ein Jugendstilhaus. „Das ist das Erste, an dem ich mitgearbeitet habe“, sagt er. „Und hier auch“, sagt er später. „Und hier.“ Der Sonnenberg ist sein Revier. Stets in schwarz gekleidet, den Hut auf dem Kopf - Adel Matar ist ein Maskottchen des Stadtteils geworden. Wer ihm begegnet, ruft seinen Namen. Ein Handschlag, ein Klopfen auf die Schulter, eine Umarmung. Wie geht‘s, Adel? Gut, sagt er. Dann zündet er sich die nächste Zigarette an.
Mit der Faust gegen die Wand
Dass er nachts manchmal aufwachte und mit der Faust gegen die Wand schlug, das erzählt er bei solchen Begegnungen nicht. Ein Arzt hat ihm inzwischen Medikamente verordnet. „Jetzt schlafe ich wie ein Stein“, sagt Adel Matar.
2018 bestellte ihn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge das erste Mal ein. Die anfangs ohne großen Aufwand registrierten Syrer wurden nach und nach überprüft, sagt ein Sprecher der Behörde. Beim Bamf erfuhr Adel Matar, dass seine Fingerabdrücke zu einem Asylantrag passten, den ein jordanischer Staatsbürger in Österreich gestellt hatte. „Ich war furchtbar erschrocken und hatte totale Angst“, sagt er heute. „Ich wusste nicht, was ich tun sollte.“
Also leugnete er. Er könne sich, gab er dem Bamf zu verstehen, das Ganze nicht erklären. Dann ging er wieder zu den Tauben.
Und auf Arbeit. Ende 2019 bekam er einen Job als Baufachwerker. Nach etwas über zwölf Monaten war auch dort Schluss. Die Firma, sagt Adel Matar, hat Corona nicht überstanden. Dieses Mal beantragte er Arbeitslosengeld. Ein Bekannter gab ihm schließlich einen Tipp: Eine Firma aus Plauen suche Arbeitskräfte. Adel Matar, so erzählt er es, fuhr ins Vogtland und bekam den Job.
Die Strafe akzeptiert
Die Baustelle, auf der er arbeitete, lag in Leipzig. Er kam spät nach Hause. Manchmal übernachtete er auf der Baustelle. Daran, bei der Arbeitsagentur Bescheid zu geben, dass er wieder einen Job hatte, habe er einfach nicht gedacht, sagt er. Die Stadt Chemnitz schreibt von wissentlich unberechtigtem Bezug von Leistungen. Es dauerte sechs Wochen, bis die Arbeitsagentur von seinem neuen Job erfuhr. Sechs Wochen, in denen er weiter Arbeitslosengeld bekam.
Adel Matar zahlte das Geld zurück. Und 1000 Euro Strafe obendrauf. „Ich habe nicht diskutiert“, sagt er. „Ich habe die Strafe angenommen.“ Der Preis war höher als 1000 Euro. Adel Matar hatte jetzt eine Vorstrafe, die Folgen haben sollte.
Das ahnte er zunächst nicht. Chemnitz, sagt er, war längst seine Heimat geworden. Immer im März, wenn die Stadt beim Friedensfest auf dem Neumarkt an die Bombardierung von 1945 und deren Ursachen erinnerte, kam er vorbei – und brachte eine Kiste mit. Darin gurrten ein paar seiner Tauben. Adel Matar öffnete die Kiste, griff die Tiere, eines nach dem anderen, gab sie Umstehenden in die Hand. Und dann, auf sein Zeichen, ließen sie die Tauben fliegen.
2022 stellte Adel Matar ein kurzes Video davon ins Netz. Die Vögel erhoben sich in die Lüfte, steuerten erst den Rathausturm an und drehten dann nach Südosten ab, dem Sonnenberg entgegen. „Das ist ein schönes Gefühl, wenn man spürt, dass alle Menschen in der Stadt wie eine große Familie sind“, schrieb Adel Matar dazu bei Facebook. Wenige Wochen vorher, so sagt es die Ausländerbehörde der Stadt Chemnitz heute, war Adel Matar, der eigentlich Adel Alkhaldy hieß, ausreisepflichtig geworden.
Adel Matars Geschichte zeigt auch, wie langsam die Behörden arbeiten. Bereits im Mai 2020 hatte das Bundesamt einen Bericht mit den Untersuchungsergebnissen des Falls an die Stadt übersandt. Der Bericht enthielt die Kopie einer Geburtsurkunde, ausgestellt auf den Namen Adel Alkhaldy im Januar 2020 – von Jordanien. Am 26. Mai 2020 nahm das Bundesamt die zuerkannte Flüchtlingseigenschaft zurück.
Danach wird es kompliziert. Laut Ausländerbehörde beantragte Adel Matar im Dezember 2020 eine Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis und eine unbefristete Niederlassungserlaubnis – noch immer unter falscher Identität. Wie ist das möglich, wo doch die Stadt die Untersuchungsergebnisse des Bundesamts seit fast sieben Monaten kannte?
Wenig später bekam Adel Matar den zweiten Preis beim Chemnitzer Friedenspreis 2021. Den Preis verleiht der Bürgerverein „Für Chemnitz“, die Preisverleihung findet im Rathaus statt, die Stadt Chemnitz würdigt die Preisträger auf ihrer Internetseite. Bis heute wird Adel Matar dort als Preisträger genannt – und als Syrer palästinensischer Herkunft bezeichnet. Gewürdigt werden seine Einsätze für Flüchtlinge und für gute Nachbarschaft. Auf dem Preisträgerfoto trägt er schwarze Hose, schwarze Jacke – und, wie immer, seinen Hut.
Von sich aus reinen Tisch machen
Heute sagt Adel Matar, er habe irgendwann von sich aus aufgeräumt mit seiner Herkunft. Habe nicht länger mit der Lüge leben wollen, habe sich also in der jordanischen Botschaft einen Pass besorgt, ihn schließlich bei der Ausländerbehörde vorgelegt. Er bekommt noch eine Strafe: 1500 Euro für die falsche Identität. Ohne seine Mitwirkung, sagt Adel Matars Freund Ahmed Bejaoui, könnte er nach wie vor nicht abgeschoben werden. Seine Unterstützer sehen den Schritt also als Zeichen, dass Adel Matar von sich aus reinen Tisch machen wollte. Ohne den Pass wäre eine Abschiebung für die Behörde deutlich schwieriger – und langwieriger.
Die Stadt sieht das anders. Sie weist darauf hin, dass er erst Ende 2022 seine Identität eingeräumt habe. Alles in allem also insgesamt vier Jahre nach dem Gespräch beim Bamf. Adel Matar habe bereits vor seiner Ankunft in Chemnitz gegenüber den Behörden des Erzgebirgskreises seine Herkunft verschleiert. Den langen Zeitraum bis zu Adel Matars Enttarnung erklärt die Stadtverwaltung mit dem Verwaltungsverfahren und der Beteiligung verschiedener Behörden. Es gebe, folgert die Behörde, gesetzlich keine andere Möglichkeit, als ihm den weiteren Aufenthalt in Deutschland zu versagen.
„Die in der Folge gestellten Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG – (Aufenthaltsgewährung bei nachhaltiger Integration) und § 104c AufenthG (Chancen-Aufenthaltsrecht) waren aufgrund der gesetzlich normierten Ausschlussgründe wegen der nachhaltig und wiederholt begangenen Täuschung abzulehnen“, erklärt die Behörde schriftlich der „Freien Presse“. Und die gute Integration, der Friedenspreis? „Bis dato erreichte Integrationsleistungen basieren letztlich auf den Täuschungshandlungen und können die bestehenden Ausschlussgründe nicht aufwiegen“, schreibt die Stadt.
Hinter den Paragrafen verbergen sich Regelungen, die Ausländern einen Verbleib erleichtern sollen, wenn sie lange in Deutschland leben. Doch bei einem der Paragrafen ist das Urteil wegen des Arbeitslosengelds im Fall von Adel Matar ein Hindernis - bei dem anderen, dem von der Ampel-Regierung geschaffenen Chancenaufenthalt, die Verschleierung der Identität.
Zumindest an Letzterem hegt Anwalt Leo Matthias Waltermann Zweifel. Im Gesetz werden „wiederholt“ falsche Angaben als Ausschlussgrund genannt. Doch kann man von Wiederholung sprechen, wenn jemand an einer einmal gegebenen Lüge festhält, sagt Waltermann?
Vor der sächsischen Härtefallkommission findet Adel kein Gehör.
„Die Ausländerbehörden haben immer einen Spielraum“, sagt Frank Richter. Der einstige Pfarrer, Bürgerrechtler und SPD-Landtagsabgeordnete ist Ende November zu einer Demonstration nach Chemnitz gekommen. Flüchtlingsaktivisten protestieren für eine humanere Bleibepolitik und kritisieren die Ausländerbehörde der Stadt Chemnitz. Frank Richter hält eine Rede. Mit dem Fall Adel Matar ist er nicht vertraut. Dafür mit dem des staatenlosen Robert A. Der lebte 30 Jahre in Chemnitz, dann wollte ihn die Ausländerbehörde nach Serbien abschieben.
Es gab eine Reihe solcher Behördenentscheidungen in Chemnitz, die von Flüchtlingsorganisationen kritisch gesehen werden. Bundesweit Schlagzeilen machte der Fall der vietnamesischen Familie Pham, die mittlerweile in Berlin lebt und einen Duldungsstatus hat. Die Berliner Behörden wollen sich für Familie Pham einsetzen.
„Verpflichtet, das Gesetz zu vollziehen“
Immer geht es dabei um Menschen, die sehr lange hier leben oder sehr gut integriert sind, die keinen Bezug zu ihrer Heimat mehr haben, die Teil der deutschen Gesellschaft geworden sind – und trotzdem abgeschoben werden sollen, weil sie sich nicht an Gesetze gehalten haben. Rechtlich sind diese Fälle oft eindeutig. Menschlich werfen sie Fragen auf.
Die Chemnitzer Behörde weist den Vorwurf zurück, besonders „streng“ zu sein. „Die Ausländerbehörde ist ebenso wie alle anderen Ausländerbehörden im Bundesgebiet verpflichtet, das Gesetz zu vollziehen“, entgegnet ein Sprecher der Stadtverwaltung. „Entscheidungen unterliegen letztlich bei entsprechenden Anträgen oder Klagen der gerichtlichen Kontrolle.“ Anwalt Waltermann dagegen würde Klienten am liebsten raten, die Ausländerbehörden in Chemnitz und Sachsen generell zu meiden. Wenn sie könnten.
Aus Chemnitz wegzugehen ist für Adel Matar keine Option. Er will hierbleiben. Auf der Demonstration hält er eine Rede. Er erzählt, wie ihm die Situation zusetzt. Psychologische Hilfe habe er hier nicht gefunden, aber nach einem Tipp von einem Freund bei einer Praxis in Bremen. Mehrmals war Adel Matar mittlerweile dort. Der Arzt diagnostizierte unter anderem eine posttraumatische Belastungsstörung, Depressionen, eine Angststörung, eine Schlafstörung, Suizidgedanken. Die Ausländerbehörde prüft das derzeit. „Gegebenenfalls“, so die Stadt, „wird eine amtsärztliche Untersuchung zu veranlassen sein.“
Bei jedem Polizisten, dem er auf der Straße begegnet, frage er sich, ob jetzt die Handschellen klicken und er demnächst in einem Flugzeug sitzt, erzählt Adel Matar.
Für viele Menschen in Chemnitz klingt diese Vorstellung unwirklich. „Adel gehört seit vielen Jahren zu meinem Freundeskreis“, sagt Silke Markert vom Verein Sportfreunde Süd. „Er ist sogar einer meiner besten Freunde.“ Sie kenne ihn als hilfsbereiten, ruhigen und fleißigen Menschen, der jedem helfe, egal welche Herkunft, Behinderung, Lebenseinstellung. „Für Adel sind alle Menschen gleich“, sagt sie. „Umso tragischer, dass ihm sein Leben in Chemnitz einfach so weggenommen werden soll.“ „Bester Mann“, kommentierte ein Chemnitzer einen Bericht über Adel Matar auf einer Stadtteil-Seite.
Als die Nachricht die Runde macht, dass er keine Arbeitserlaubnis mehr hat und keine Unterstützung bekommt, ruft der Chemnitzer Verein Human Aid Collective im Internet zu Spenden auf. Es kommen mehrere Tausend Euro zusammen.
„Adel, ich werde dich nie vergessen“, schreibt eine Frau auf der Human-Aid-Seite. „2017 hast du mir nicht nur völlig ohne Gegenleistung beim Umzug geholfen. Sondern mich mit einem Strauß Rosen und einem Schild ‚Willkommen in Chemnitz‘ zu Tränen gerührt. Alles, ohne mich zu kennen.“ Ein Mann schreibt, er hoffe das Beste für Adel. „Du hast so vielen Gutes getan in den letzten 10 Jahren hier in Chemnitz.“
Von den Spenden kann Adel Matar erst mal eine Weile leben, Futter für die Tauben kaufen. Aber er weiß, dass das Geld seine Probleme nicht löst, dass er jederzeit abgeschoben werden kann. Nach Jordanien, das Land, in dem er geboren wurde, das er vor zehn Jahren verlassen hat.
Er sagt, dass er bei der Armee war. Er habe Zollkontrollen gegen Schmuggler durchgeführt, sie hätten ihn danach mit dem Tod bedroht, unterstützt von korrupten Polizisten. Er habe Angst, auch nach so langer Zeit noch. Es ist der Teil seiner Geschichte, der vage bleibt, sich nicht überprüfen lässt. Adel Matar legt keine Belege vor. Sein Anwalt sagt, das sei nichts Ungewöhnliches in Flüchtlingsangelegenheiten.
Für seine Unterstützer ist das ohnehin nebensächlich. Für sie zählt, dass Adel Matar längst einer von ihnen geworden ist. „Er hat immer hart gearbeitet und sich hier ein Leben aufgebaut“, sagt Silke Markert. „Seine Freunde schätzen ihn und er ist mit seinen Tauben überall willkommen.“
Auf seinem Spaziergang über den Sonnenberg ist Adel Matar in einem arabischen Imbiss angelangt. Er bestellt eine Sprite in der Dose und ein Sandwich. Bis das Essen fertig ist, wartet er draußen, die Zigarette in der Hand. Später, als er isst, kommt ein Mann zur Tür rein, zwei Köpfe größer als er. Der Mann sieht Adel Matar nicht, der sich anschleicht, ihm auf die Schulter tippt. Es folgt ein großes Hallo, die beiden umarmen sich lange. Es sind Momente, wie man sie immer wieder erlebt, wenn man mit Adel Matar über den Sonnenberg wandert.
Die Geschichte, die seine Unterstützer im Netz erzählen, ist die eines Helden. Ein verzerrtes Bild. Adel Matar ist kein Held. Er ist ein Mann, der Fehler gemacht hat. Er hat gegen Gesetze verstoßen, die verhindern sollen, dass Menschen in Deutschland leben, die nicht die sind, als die sie sich ausgeben. Die Asyl bekommen, ohne dass sie darauf Anspruch hätten. Die kriminell sein könnten oder sogar gefährlich.
Nach allem, was man weiß, trifft das auf Adel Matar nicht zu. Gegen ihn liegen keinerlei Urteile wegen Gewalttaten, Drogen, islamistischer Vergehen oder Ähnlichem vor, das bestätigt die Stadtverwaltung. Sein Freund Ahmed Bejaoui stammt aus Tunesien – und ist für die Grünen wie für den Schwulen- und Lesbenverband aktiv.
„Seine Tauben sind das Symbol für Frieden“, sagt die Chemnitzerin Silke Markert über Adel Matar. „Der Himmel wird leer sein ohne Adels Tauben.“