Bis zum Umfallen

von Katrin Langhans

4,1 Millionen Milchkühe, 26 Milliarden Euro Umsatz: Deutschlands Milchindustrie ist die größte in der EU. Aber wie geht es eigentlich den Tieren? Eine Leistungsbeschreibung.

An die toten Kühe gewöhnt man sich. An aufgedunsene Bäuche, glasige Augen und rote Zungen, die quer aus dem Maul hängen, an das Wasser, das aus den Körperöffnungen läuft. Ja sogar an den Geruch, süßlich faul, so als hätte man einen Topf Gemüsesuppe wochenlang in der Sonne stehen lassen. Aber die toten Kälber, sagt Tadjana Lenhard, die vergisst man nicht so leicht.

Mockup des nominierten Textes von Katrin Langhans von der SZ-Website
Süddeutsche Zeitung / BDZV

Lenhard lenkt den orangefarbenen Lastwagen um die Kurve. Es ist sieben Uhr morgens, ein lauwarmer Tag im September. Die Kranfahrerin hat nichts gefrühstückt, nippt ab und zu an ihrer Fanta, links und rechts liegen Maisfelder, Allgäuer Dörfer mit weiß verputzten Häusern, Wälder, spitze Kirchtürme.

Lenhard, 50 Jahre alt, kastanienfarbenes Haar, grüner Blaumann, mag die Ruhe am Morgen. Vorn in ihrem Fahrerhäuschen, gleich vor der Glasscheibe steht ein Schild mit der Aufschrift „Speedy Maus“. Ein Geschenk von Freunden. Hinten am Wagen steckt eine gelbe Quietschente auf der Anhängerkupplung, die hat sie selbst gekauft. Ihr Handheld, ein Computer groß wie ein Smartphone, zeigt die ersten Aufträge für diesen Tag an: eine Kuh, ein paar Ferkel. Zwei Kälber.

Lenhard wirft nur selten einen Blick auf das Navigationsgerät. Seit mehr als zehn Jahren sammelt sie in der Gegend tote Kälber, Kühe, Schweine, Ferkel ein. Manchmal auch Pferde, Wildschweine, Schafe. Sie kennt die Wege, sie kennt die Bauern. Montags bis freitags fährt sie übers Land und lädt die Kadaver in der Tierkörperbeseitigungsanlage ab. Dort werden die Tiere verbrannt und zu Tiermehl verarbeitet.

Lenhard biegt in einen privaten Seitenweg ein, parkt vor einem Hof, steigt aus, geht ein paar Schritte auf eine weiße Plastikplane zu. Die wölbt sich wie ein kleiner Hügel. Lenhard zieht das Plastik weg. Da liegt die tote Kuh. Sie stinkt. „Im Sommer riechen die noch viel schlimmer“, sagt Lenhard und kramt die Fernbedienung für den Kran aus dem Fahrerhäuschen. Sie öffnet die oberen Klappen der Ladeflächen, ein Greifarm streckt sich in die Höhe, fährt runter, umfasst den aufgeblähten Bauch der toten Kuh, hebt sie hoch. Das Tier hängt wie ein schlaffer Halbmond am Kran, Wasser tropft aus dem Maul. Lenhard lenkt die Kuh über die Ladefläche, sie öffnet den Klammergriff, der Kadaver fällt herunter.

Unter einem Backstein liegt der Pass der Kuh. Darauf steht die Nummer ihrer Ohrmarke. Jede Kuh in Deutschland kann identifiziert werden. Die Behörden wissen, wo das Tier geboren ist, wer es aufgezogen hat und wo es verstirbt. Warum die Tiere sterben, das erfassen sie nicht.

Auf dem nächsten Hof sammelt Lenhard ein paar Ferkel aus einer blauen Tonne ein, die in Plastiktüten stecken, blutverschmiert. Dann steigt sie in den Wagen, fährt weiter, vorbei an Wäldern, Kuhweiden, Dorfmetzgereien. Jetzt kommen die Kälber.

Zwei Kleinkinder in Allwetterjacken starren mit weit geöffneten Augen auf den Lastwagen, den Lenhard mitten auf dem Hof parkt. Die Kälber liegen im Gras, sie sind kaum größer als ein Labrador, ihr Fell ist noch flauschig und feucht. Sie tragen keine Ohrmarken, erst im Alter von sieben Tagen müssen Kälber identifizierbar sein.

Lenhard schleift eines nach dem anderen an den Hinterbeinen über den Boden und hievt die Kälber in eine Schaufel, die elektrisch hochfährt und einklappt. Eine Frau kommt auf den Hof gelaufen, schiebt die Kinder in den Kuhstall.

Im Ungewissen

Verendet ein Kalb, so wie hier, bevor es eine Woche alt ist, erfassen Behörden in der Regel weder seinen Tod noch die Ursache. Als die Politik in den Neunzigerjahren eine Datenbank für Rinder in Auftrag gab, war das Ziel, Seuchen künftig besser zu bewältigen, gerade erst hatte die BSE-Krise weltweit etwa 190 000 Rinder befallen. Der Tierschutz spielte keine Rolle. An die toten Kälber hat niemand gedacht. Und das, obwohl es in Deutschland mehr als vier Million Milchkühe gibt, mehr als in jedem anderen Land in der EU. Umso erstaunlicher ist es, dass ein Überblick über die Gesundheit der deutschen Durchschnittskuh bis heute fehlt. Daten werden lückenhaft erhoben oder gar nicht, so als wären die Behörden in den Neunzigern stecken geblieben.

So gibt es kaum belastbare Antworten auf eine einfache Frage: Wie geht es der Milchkuh?

Die Süddeutsche Zeitung hat zahlreiche Studien und Daten über den Zustand der Milchkuhhaltung in Deutschland ausgewertet. Viele der Zahlen sind bereits veröffentlicht, wurden aber noch nicht miteinander in Zusammenhang gebracht; noch unveröffentlichte Daten wurden bei Verbänden und Behörden angefragt, die oft nur zögerlich reagierten. Das könnte an den Ergebnissen liegen, die sich aus der Auswertung der Daten ergeben. Wenn man etwa die Prozentzahlen der Kälber in Bayern errechnet, die das erste Lebensjahr nicht überstehen: Mehr als eines von neun Kälbern überlebt die ersten drei Monate nicht. Totgeburten miteingerechnet werden 13 Prozent der Kälber kein Jahr alt. In der Summe sind das allein in Bayern 1,9 Million Tiere seit 2008.

Als Grund für die hohen Zahlen sehen Experten vor allem Probleme im Management und der Betreuung der Tiere. Der Milchpreis ist im Keller, ein Kalb ist nicht viel wert. „Landwirte stehen immer wieder vor der Entscheidung zu überlegen, ob sie den Tierarzt noch holen oder nicht, was daran liegt, dass eine Behandlung schnell mehr kosten kann, als das Tier wert ist“, sagt Elke Rauch, Fachärztin für Tierschutz an der Ludwig-Maximilians-Universität München. „Durch besseres Management vor allem bei der Fütterung und Tränkehygiene und verbesserten Haltungsbedingungen könnte die Kälbersterblichkeit verringert werden.“

Totgeburten wird es immer geben, aber viele Todesfälle wären vermeidbar. Wenn man nur mehr über die Tierhaltung wüsste. Aber niemand untersucht systematisch die Tiere, die in Tierkörperbeseitigungsanlagen verbrannt werden, niemand erfasst, wie viele Kälber und Kühe in Deutschland qualvoll verenden.

Elisabeth große Beilage, Fachärztin an der Tierärztliche Hochschule Hannover, begutachtete 2016 tote Schweine und Ferkel, die lastwagenweise in vier verschiedene Tierkörperbeseitigungsanlagen in der Bundesrepublik geliefert wurden. Ferkel wurden in solchen Mengen aus den Transportern gekippt, dass die Forscherin irgendwann aufgab, die Tiere zu zählen. Eines von fünf Schweinen, so das Ergebnis ihrer Studie, verendet, noch bevor es zum Schlachter kommt, das sind 13,6 Million Schweine jedes Jahr. Bei jedem zehnten Schwein fand die Wissenschaftlerin klare Anzeichen, dass das Tier vor seinem Tod lang anhaltende, starke Schmerzen gelitten hat. Für Kühe gibt es diese Erhebung nicht.

Unter Kontrolle

Die regelmäßige Begutachtung der Tiere in Beseitigungsanlagen zählt bis heute nicht zu den Aufgaben der Veterinäre. Staatliche Kontrolleure testen tote Rinder immer noch auf BSE, aber eben nicht auf Tierschutzverstöße. Gabriele Pflaum, 59, Amtstierärztin aus Oberfranken, kann bei der Spätschicht von ihrem Seuchenprüfplatz aus in die Halle sehen, auf den Berg toter Tiere. Dass ihr da immer wieder Kühe auffallen, die tiefe Wunden oder veränderte Gliedmaße aufweisen, ist dem Zufall geschuldet, nicht der Kontrollpflicht. Es sind Stichproben. „Systematisch ist das für uns nicht leistbar“, sagt Pflaum, zu wenig Personal. Die Ärztin trennt verletzte Klauen ab, schickt sie in die Pathologie.

Die Ärztin fotografiert die kranken Tiere, ihre wunden Gelenke oder tennisballgroßen Geschwüre. An ihrem Rechner klickt sie sich nun durch die Bilder, zeigt schwarzverkrustetes abgestorbenes Gewebe, handballengroße Eitergeschwüre, wunde Liegestellen. Es bräuchte ein systematisches Monitoring der Tierkadaver, sagt sie, man sollte jeden Befund prüfen. Wurde das Tier behandelt? Hat es lang gelitten? War sein Tod vermeidbar? Gibt es noch andere Tiere, die leiden? „Wenn ich dann erhebliche pathologische Veränderungen feststelle, kann ich gezielt in den Betrieb gehen und sagen, das ist aufgefallen, ich will deinen restlichen Bestand sehen.“

Sie klickt weiter durch die Bilder, zeigt Kühe, bei denen der Betäubungsschuss aus Versehen in die Nasenhöhle traf statt ins Gehirn. Eine abgemagerte Kuh, deren Rippen hervortreten wie die Tastatur eines Klaviers. „Ich kann jeden Knochen erkennen, da muss ich gar keine Sektion machen, die Dornfortsätze der Wirbelsäule sieht man deutlich, den Sitzbeinhöcker, es ist überhaupt keine Muskulatur mehr vorhanden, da ist ein Tier, das verhungert ist“, sagt Pflaum. Das kann viele Ursachen haben. Vielleicht war die Kuh krank, von Parasiten befallen, oder sie hat nicht genug Futter bekommen, um ihren Energiebedarf zu decken.

Warum geht es Kühen oft so schlecht, Frau Pflaum? „Ich denke, man kann die Leistung der Tiere nicht unendlich nach oben schrauben, die Kuh ist ein Lebewesen, das ist keine Maschine, die ich hochtunen kann“, sagt die Ärztin.

An der Maschine

In den Fünfzigerjahren gab eine Kuh etwa 2500 Liter Milch im Jahr, heute im Schnitt mehr als dreimal so viel. Die Hochleistungskühe der Rasse Holstein geben im Schnitt etwa 9000 Liter, Spitzentiere bringen schon mal 19 000 Liter. Der Milch selbst geht’s gut, ihre Qualität wird beflissen kontrolliert. Auf die Gesundheit der Kuh, jahrelang auf maximale Milchleistung gezüchtet, wird bei Zuchtvereinen aber erst allmählich geachtet.

Auf den Menschen übertragen läuft die Kuh dreimal am Tag einen Marathon, und dabei soll sie gesund bleiben.

Um einen Liter Milch zu erzeugen, muss die Kuh je nach Klima und Haltung etwa zwei bis drei Liter Wasser trinken, etwa 700 Gramm fressen, 500 Liter Blut durch das Euter jagen. Eine deutsche Durchschnittskuh gibt am Tag etwa 30 Liter Milch. Die Kuh ist eine Hochleistungssportlerin.

„Auf den Menschen übertragen läuft die Kuh dreimal am Tag einen Marathon, und dabei soll sie gesund bleiben“, sagt Holger Martens, graue Haare, kariertes Hemd, Professor an der Freien Universität Berlin. Er sitzt in seiner Altbauwohnung, hat den Laptop aufgeklappt, immer wieder zitiert er Zahlen und Studien. Martens forscht seit Jahrzehnten zur Gesundheit der Kuh. „Wir dürfen von den Tieren keine Leistungen fordern, die sie nicht erbringen können“, sagt er, sonst drohten Euterkrankheiten, Stoffwechselstörungen, Klauenkrankheiten, Lahmheiten, Fruchtbarkeitsstörungen.

Forscher sprechen von Produktionskrankheiten, Brancheninsider von Berufskrankheiten. Uneins ist man sich über die Ursachen. Ist es vor allem die Zucht auf Leistung? Die Haltung? Das Futter? Das Management?

Es gibt nicht viele einschlägige Untersuchungen, eine Ausnahme ist eine EU-weite Studie aus dem Jahr 2017, die sich mit der Gesundheit von Bio-Kühen beschäftigte. In Deutschland lahmt demnach jedes fünfte Tier – europaweit waren es lediglich 14 Prozent. Aus anderen Studien weiß man, dass die Lahmheitsraten bei konventionellen Kühen mitunter noch viel höher sind.

Wenn eine Kuh lahm geht, beugt sie ihren Rücken, humpelt, um das Bein nicht zu belasten und bewegt den Kopf auf und ab. Jeder Tritt schmerzt. „Die Lahmheiten gehen mir wirklich unter die Haut“, sagt Martens, „weil das so sichtbar ist, dass die Tiere leiden.“

Ein weiterer Befund der EU-Studie: Es gibt in Deutschland nicht die Tierhaltung. Die Unterschiede sind enorm, in manchen Ställen gab es kein einziges lahmendes Tier, in anderen lahmten bis zu

79 Prozent. So hohe Werte gab es in keinem anderen untersuchten Land. Das Problem ist der Politik längst bekannt. Vor vier Jahren kam der wissenschaftliche Beirat Agrarpolitik, der die Bundesregierung berät, zu einem vernichtenden Urteil: Die Tierhaltung im Land sei nicht zukunftsfähig.

Gegenwärtig ist das Leben einer Kuh streng getaktet. Zwei Jahre lang wird sie gemästet und dann das erste Mal geschwängert. Eine Kuh gibt nur Milch, wenn sie ein Kalb gebärt, im Schnitt bekommt sie pro Jahr eines. Das Kalb nimmt man ihr kurz nach der Geburt weg, damit sie keine enge Bindung aufbaut. Das Kalb wird in eine Einzelbox gesteckt, die Mutter schon bald an den Melkroboter. Landwirte erzählen, die Schreie der Kuh seien kaum auszuhalten, wenn man Mutter und Kalb erst nach ein paar Tagen trennt.

Die Kuh gibt fortan 305 Tage Milch, währenddessen schwängert man sie erneut, nach ein paar Wochen Pause gebärt sie das nächste Kalb. Das nimmt man ihr weg, die Kuh gibt Milch. Und so weiter.

Die Kuh ist eine gute Mutter, die macht alles für ihr Kalb.

Martens nimmt ein Blatt Papier und einen Stift, zeichnet eine Linie. „Wenn das die Geburt des Kalbes ist, dann ist der Peak der Milchleistung ungefähr bei sechs bis acht Wochen“, sagt er und malt mit dem Stift einen Hügel, bevor die Milchleistung wieder abfällt. „Seit Jahren weiß man, dass die Kuh in dieser Zeit zu wenig frisst, sie verbraucht mehr Energie, als sie zu sich nimmt“, sagt Martens.  

„Die Kuh ist eine gute Mutter, die macht alles für ihr Kalb“, sagt Martens. „Sie steckt mehr Kraft in die Milchproduktion, als sie besitzt.“ Was bedeutet das für die Kuh? Martens nimmt ein Blatt Papier zwischen seine Hände. „Das Blatt ist die Fettschicht zwischen Knochen und Klauensohle“, sagt er. „Das Tier baut funktionelles Fett ab.“ Fettreserven, die Menschen etwa abbauen, wenn sie verhungern. Das führe bei der Kuh zu Klauenleiden, „manchmal setzt auch ihr Zyklus aus“, sagt Martens. „Wie bei einer Balletttänzerin. Die Kuh ist energetisch am Rand.“ Trotz dieses Wissens schraube man die Milchleistung der Kuh immer höher.

Jede vierte Kuh wird geschlachtet, weil ihre Fruchtbarkeit gestört ist. Der Lobbyverband Rind und Schwein führt Buch darüber, warum Landwirte Kühe aussortieren. Die Landwirte selbst melden die Gründe. Kaum eine Kuh wird demnach aus Altersgründen aussortiert. Mehr als 40 Prozent der Tiere müssen zum Schlachter, weil in der Vergangenheit Klauen- und Euterkrankheiten aufgetreten sind oder Stoffwechselstörungen. Wie schlimm die Krankheit war, wird nicht erfasst. War die Klaue schief gewachsen oder das Bein schmerzhaft lahm? War das Euter leicht entzündet oder brannte es?

Eine Milchkuh wird etwa fünf Jahre alt, dabei könnte sie locker dreimal so alt werden. Schuld daran ist nicht nur die Gesundheit der Tiere, sondern auch simple Mathematik. Wenn eine Kuh pro Jahr ein Kalb gibt, verdoppelt sich die Herde. Wo sollen all die Tiere hin? In der Regel ziehen Landwirte den eigenen Kuhnachwuchs groß und tauschen pro Jahr etwa ein Drittel der Herde aus. Macht ein Tier Stress, wird es also zu oft krank, ersetzt der Bauer die Kuh einfach durch eine neue.

Der Verkauf der Kälber lohnt sich jenseits der wenigen Zuchttiere kaum. In Deutschland ist das Angebot an Kälbern groß, die Nachfrage gering. Denn zur Mast eignet sich die Milchkuh nicht so gut, da gibt es andere Rassen, die schneller Fleisch ansetzen. Die männlichen Tiere, Abfallprodukte der Milchindustrie, kosten etwa 50 Euro bei der Rasse Holstein; schwache Kälber werden mitunter gar an Viehhändler verschenkt. Ein wertloses Tier.

Im Stall

Auf einem Familienhof in Niedersachsen, weit mehr als hundert Kühe. Mittendrin: René Pijl, Blaumann, kantige Brille, kräftige Oberarme. Er hebt die Flex an. Vor ihm steht eine Kuh in einem Metallgestell, das einem Käfig ähnelt. Ihr Hinterbein steckt in einer Gummischlaufe. Pijl schleift Horn von der Hufe, braunweiße Späne fliegen meterweit durch die Luft. Draußen scheint die Herbstsonne.

„Zwei Mal im Jahr muss die Kuh zur Pediküre“, sagt Pijl, der in den Niederlanden geboren ist und seit mehr als 30 Jahren in Deutschland lebt und als Klauenpfleger arbeitet. Er beugt so Klauenleiden wie Lahmheiten vor. Die Tiere stehen zu viel auf hartem Boden im feuchten Kot.

Im Laufstall drängeln ein paar Dutzend Kühe hinter einer Absperrung. Einige gucken interessiert zu Pijl, der seine Flex beiseitelegt und der Kuh, die er gerade behandelt hat, einen grünen Strich auf den Rücken malt. So weiß er, dass sie schon dran war. Weiter hinten im Stall schrubbt eine Kuh ihren Rücken an einer Bürste.

Andere Kühe stehen Schlange am Melkroboter. Ihre Euter sind prall, größer als ein Medizinball, die Adern treten hervor. Vorne läuft nun eine Kuh in die Melkvorrichtung und senkt den Kopf, das Gerät gibt ihr Futter. Saugarme stülpen sich über das Euter und pumpen. Die Kuh frisst, die Milch läuft.

Weiter hinten liegen ein paar Tiere in Liegeboxen auf hartem Boden, Stroh gibt es nicht. Der Landwirt zieht an einem Strick, den er der Kuh mit der Nummer 66 um den Kopf gelegt hat. Die Kuh soll als Nächstes in den Klauenschneider, aber sie will nicht. Sie drückt die Beine durch, lehnt ihren Körper zurück, streckt den Hals. Der Sohn des Bauern schiebt die Kuh von hinten an. Mit einem Ruck macht sie einen Satz nach vorne, zwei Metallgreifer fahren dicht an ihren Hals heran, Kuh 66 reißt die Augen auf. Ein Gummiband fährt unter ihren Bauch, hebt die Kuh leicht an, ein weiteres Band zieht ihre Beine in die Höhe, erst das rechte, dann das linke. Pijl sprüht grünblaues Antibiotikaspray auf die Hufe, schleift das Horn.

Es riecht nach Verwesung, eine Flüssigkeit läuft aus der Klaue. Sie blutet.

Es surrt. Das Bein der Kuh wird heruntergefahren, die Metallgreifer fahren zur Seite, Kuh 66 läuft zaghaft vorwärts. Sie humpelt, hinterlässt Blutspuren auf dem Boden. „Die funktioniert noch“, sagt der Bauer.

  „Wie lange die es noch macht, zeigen die nächsten Monate“, sagt Pijl. „Die humpelt, da kommen noch mehr davon, ich kann nicht alle retten“, sagt er. „Wenn du hier drei Wochen barfuß laufen würdest auf dem Boden, hättest du auch Füße, die faulen. Hochleistungskühe sind anfälliger, krank zu werden.“

  Pijl geht zu seinem kleinen Computer, gibt das Klauenleid der Kuh ein. Seit mehr als vierzig Jahren sammelt Pijl die Daten der Kühe, die er behandelt. Er kennt ganze Kuhfamilien. „Früher war ich vor allem zur Vorbeugung da, heute muss ich primär behandeln“, sagt er. Bei acht von zehn Kühen findet er Probleme, Kuh 66 gehört zu den schwereren Fällen.

„Die Kuh ist eine Künstlerin. Die ist so nett zu uns“, sagt Pijl und wischt sich Horn von der Stirn. „Wir sollten keine lahmen Kühe haben. Schau, 66 schleppt sich noch so dahin.“ Die Kuh humpelt durch den Kot. „Die leistet noch, obwohl sie krank ist“, sagt Pijl.

  „Aber nicht todkrank“, sagt der Bauer.

  „Stroh hätte Vorteile“, sagt Pijl.

„Wie soll das wirtschaftlich sein?“, fragt nun der Bauer. „Ich würde denen ja gern Auslauf geben, mehr Platz, größere Boxen, aber dann kann ich nicht effizient produzieren. Was viele vergessen: Der Gesetzgeber gibt den Rahmen vor, in dem wir uns bewegen. Der Weg muss von der Politik geebnet werden.“

Im Tierschutzgesetz steht seit 2002, dass kein Tier unnötig leiden soll. Diese Definition ist schwammig und juristisch schwer zu fassen. Wann ist ein Leid unnötig? Ist es unnötig, wenn man eine Kuh auf einen Boden stellt, der Lahmheiten bedingt? Ist das Leid unnötig, wenn man die Kuh auf mehr Leistung züchtet anstatt auf Gesundheit? Die Bundestierärztekammer will nun prüfen, ob es sich bei der Rasse der Holstein-Kuh um eine Qualzucht handelt, seit Ende vergangenen Jahres gibt es zu diesem Thema einen Arbeitskreis. Von Qualzucht spricht man, wenn Züchter Merkmale in ein Tier hineinzüchten, die zu vermeidbarem Leid bei den Nachkommen führen. Qualzucht ist verboten.

„Die Tierärzteschaft hält es für dringend erforderlich, sich bei Nutztieren mit dem Thema auseinanderzusetzen“, sagt Sylvia Heesen, die den Arbeitskreis leitet. „Die Tiere müssen das Ergebnis rein leistungsorientierter Zucht ausbaden und wir uns in der Folge mit den Krankheiten befassen.“ Der Arbeitskreis hat eine Dissertation zum Thema ausgeschrieben, die Datensammlung läuft. „Noch können wir nicht sagen, wer schuld ist, aber dass es Milchkühen oft nicht gut geht, da sind sich alle einig“, sagt Heese.

Unter Beobachtung

Wer wissen will, wie es den lebenden Kühen geht, muss sich die Toten ansehen. Per Gesetz ist vorgeschrieben, dass jeder Schlachtkörper im Schlachthof untersucht werden muss, um zu prüfen, ob alle Organe hygienisch einwandfrei sind. Amtliche Veterinäre untersuchen jede tote Kuh, sie prüfen, ob Leber, Lunge, Darm und Herz in den Handel gelangen dürfen.

Sie finden Lungenschäden, deformierte Nieren, Darmbeschädigungen. Die aussortieren Körperteile der Kühe geben mitunter Hinweise, an welchen Krankheiten sie zu Lebzeiten gelitten haben.

Der niederländische Konzern Vion ist einer der größten Schlachtkonzerne Deutschlands. Jedes Jahr werden an sieben Standorten in Deutschland insgesamt etwa 750 000 Rinder geschlachtet. Im Schnitt sind das etwa 2000 Rinder pro Tag. Seinen deutschen Hauptsitz hat das niederländische Schlachtunternehmen in Buchloe, umgeben von Wiesen und Trauerweiden. Am Haupteingang prangt auf einem Schild das Firmenlogo: ein grünblaues Herz.

Anne Hiller, 38, Fachtierärztin für Fleischhygiene, ist für die Qualitätssicherung im Unternehmen verantwortlich. In einem Konferenzsaal präsentiert sie grünblaue Tortendiagramme. Demnach werden die Prüfer bei etwa jedem fünften Organ der Kühe fündig. Am häufigsten sind Lungen und Leber auffällig. Bei Schweinen sind die Raten noch höher, jedes dritte Organ wird aussortiert.

Zwar geben die Schlachtbetriebe diese Befunde an die Landwirte weiter – aber weder erfährt der Bauer, ob es seinen Tieren schlechter geht als dem Schnitt, noch wird systematisch geprüft, ob die Betriebe Konsequenzen ziehen und die Haltung der Tiere, das Management oder die Zucht verändern.

Seit drei Jahren fordert die Bundestierärztekammer eine zentrale Gesundheitsdatenbank. Dort könnte man die Zahlen zusammenführen. Schlachtbefunde, Daten aus Tierkörperbeseitigungsanlagen, Medikamentenmonitoring, die Ergebnisse von Tierschutzkontrollen. Veterinäre könnten das Wissen nutzen und gezielt in Betriebe gehen, in denen sich Probleme häufen. Sie könnten schauen, warum es den Tieren so schlecht geht – und Lösungskonzepte erarbeiten.

Aber dazu muss es die Politik auch wollen. Bereits 2005 forderte der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik, Tierbestände, Befunde und Behandlungen besser zu erfassen. Schon damals hieß es, man brauche ein besseres Gesundheitsmonitoring.   Aber erst seit diesem Jahr erarbeitet das Thünen-Institut im Auftrag der Bundesregierung Kriterien, um die Gesundheit der Kühe und das Tierwohl im Stall deutschlandweit zusammenzuführen. Im besten Fall ist die Politik fünfzehn Jahre zu spät.

Am Ende

Spricht man mit den Menschen, die fast täglich in der Praxis mit dem Leid der Tiere konfrontiert sind, hört man immer wieder das Gleiche: Sie essen weniger Fleisch, am liebsten von einem Bauern, den sie kennen. „Ich esse es nur selten“, sagt Tanja Lenhard, die Frau, die im Lastwagen, die Kühe in die Beseitigungsanlage bringt. „Kalbfleisch rühr ich nicht mehr an.“

Manchmal gehen ihr die Bilder der toten Kälber noch am Abend durch den Kopf. Manchmal denkt sie noch über die Gespräche nach. „Mei, wenn der Bauer gerade da ist, dann erzählt er dir die ganze Lebensgeschichte von dem Tier“, sagt Lenhard. „Wann es auf die Welt gekommen ist, wie viele Tierarztkosten sie reingesteckt haben, wie es dann doch gestorben ist.“ Einmal habe ein Landwirt auf seinem Mastrind gelegen, geweint, er wollte die Kuh nicht gehen lassen.

Der nächste Hof liegt mitten in einem kleinen Allgäuer Dorf. Die Bäuerin fährt das tote Kalb in der Schubkarre aus dem Holzschuppen. Lenhard öffnet die Klappe, lädt das Tier ein, steigt wieder ins Auto. „Ich sag immer, es ist ein Kommen und ein Gehen. Was ich aber nicht machen könnte, wäre ein lebendiges Tiere zum Schlachthof fahren.“

Lenhard fährt mit dem Lastwagen auf eine Anhöhe und parkt direkt vor einem weißen Iglu, in der ein wenige Wochen altes Kalb steht. Das Tier schaut neugierig zu, als Lenhard die Kuh mit dem Kran einlädt. Der Bauer erzählt, der Tierarzt sei dreimal da gewesen. Jetzt hilft nichts mehr.

„Die war a gute, wer weiß, wie die nächste wird“, sagt der Landwirt und blickt zur toten Kuh. Neben ihm steht das Kalb.