Alles Zufall?

von Malte Henk

Zwölf Menschen sterben bei einem Terroranschlag. Warum gerade sie? Eine Frau findet die große Liebe. Warum gerade jetzt? Ein Mann wird vom Blitz getroffen – und überlebt. Warum gerade er? Ein Essay über die Macht des Unberechenbaren.

Der Mann, den es erwischt hat, ist 47 Jahre alt. Wie er aussieht, kann ich nicht sagen. Er liegt auf einem OP-Tisch, Schlauch im Mund, Körper abgedeckt, Gesicht auch. Den Schädel haben sie in einem Metallgestänge fixiert, die Kopfhaut durchschnitten und nach oben geschoben, sodass sie aufklappte wie ein blutiger Mund, dann haben sie die Knochenplatte entfernt. Jetzt liegt es frei. Das Gehirn.

Mockup des nominierten Textes von Malte Henk von der Zeit-Website
Die Zeit / BDZV

Hinter dem OP-Tisch sitzt der Neurochirurg Oliver Heese, Chefarzt an der Helios-Klinik Schwerin. Grüner Kittel, Unterarme abgestützt, in den Händen irgendwelche nadelartigen Instrumente, so schaut Heese durch ein Mikroskop, das von der Decke hängt, in den Temporallappen des Patienten. Ich darf an diesem Tag mitschauen.

Ich sehe etwas sehr Abstraktes, das mich an ein Bergwerk erinnert. Einen gigantischen Tagebau, beleuchtet in der Nacht. Die komplexeste Struktur des Universums. 100 Milliarden Neuronen, so viele, wie es Sterne in der Milchstraße gibt. Die Oberfläche pocht und blinkt, das sind die Adern. Steil geht es in die Tiefe, Zentimeter um Zentimeter gräbt sich Heese mit seinen Instrumenten hinab, denn die Materialmasse namens Gehirn, Ursprung von Gedanken und Gefühlen, attackiert sich manchmal selbst. Hirntumor.

Glasig-fleischig fühle sich der Tumor an, den er herausholen will, murmelt Heese, er könne da wirklich nur seinem Gefühl folgen, zu sehr bleibe der Tumor mit dem Gehirn verschmolzen. Der Tumor ist das Gehirn. Es hat ihn produziert, so wie andere Hirne die Relativitätstheorie hervorgebracht haben, die Zauberflöte oder die Pläne für eine Boeing 747. Ein Bürgerkrieg des Bewusstseins, den kein Arzt der Welt stoppen kann. Egal wie viel Gewebe Heese herausschneidet, am Ende wird der Feind gewinnen. Niemand überlebt einen bösartigen Hirntumor.

I. Pech in der Lotterie

Frank Becker. Der Mann, in dessen Kopf ich geschaut habe, hat einen Namen, und er hat ein Gesicht, ein sehr sympathisches und lebenskluges. Er ist ein Maschinenbauingenieur, der sich zum Chefplaner eines Zahnrad-Unternehmens in Brandenburg hocharbeitete. Vor fünf Jahren lernte er seine Heike kennen. Im vergangenen Frühjahr fingen sie an, ein Haus auszubauen, ein Gehäuse für ihre Liebe, Marmor, Fußbodenheizung, geplanter Einzug: rund um Weihnachten. An einem sonnigen Wochenende im Juli überfiel ihn der erste Kopfschmerz, und jetzt sitzt Becker im dämmrigen Krankenhauszimmer, Rollstuhl, Trainingsanzug, Resopaltisch, und das Karussell der Mutmaßungen dreht sich und dreht sich und will gar nicht mehr stillstehen. Nie geraucht, nie viel getrunken, immer gesund gewesen. Gibt es vielleicht doch schlechte Gene in der Familie? Was ist mit Lebensmittelzusätzen? Pestiziden? Lampen mit Quecksilber? Wo stand das nächste Atomkraftwerk?

»Das Handy könnte ich akzeptieren«, überlegt Becker. »Einfach nur Zufall, das wäre schlimmer.«

Während ich zusehe, wie der Neurochirurg Schicht um Schicht ein Loch aushebt, das der Krebs wieder füllen wird, muss ich daran denken, was er mir über solche Tumore erzählt hat. Sie heißen Glioblastome, pro Jahr erkranken 5 von 100 000 Menschen daran. Genetische Einflüsse spielen keine Rolle, in unzähligen Studien wurden auch keine Umweltfaktoren gefunden. Dem Glioblastom ist es egal, wie viel Fleisch ein Mensch isst, wie oft er in der Sonne liegt, welche Gifte er einatmet. Hirntumore gibt es, weil es Gehirne gibt. Jedes Hirn braucht Zellen, die sich vermehren. Sie teilen und teilen sich, millionenfach, alles geht gut, und irgendwann passiert ein Fehler. Eine blöde Mutation, und der Krebs ist da.

»Das mag ich an diesem Tumor – er macht alle gleich«, sagte Oliver Heese. Ein Multimillionär wird mit exakt derselben Wahrscheinlichkeit daran sterben wie der besoffene Obdachlose, den ich morgens auf dem Weg zur Arbeit sehe. Das Glioblastom ist ein Raubvogel, der über einer mittelgroßen Stadt kreist und sich jedes Jahr seine fünf Opfer holt.

Wenn Heese in seinem Chefarztzimmer Ich-habe-schlechte-Nachrichten-für-Sie-Gespräche führt, dann ist es ihm wichtig, die Rolle des Zufalls zu betonen. Er hat sich sogar einen Begriff ausgedacht: »negativer Lotteriegewinn«. Heese hofft darauf, dass sich seine Patienten nicht mit der Frage nach dem Warum foltern, wenn er ihnen erklärt, dass sie schlicht sehr, sehr viel Pech hatten. Und er weiß: In den allermeisten Fällen hofft er umsonst.

»Für mich ist es umweltbedingt«, sagt Heike Fuchs.

»Man macht sich so seine Gedanken«, sagt Frank Becker. »Handystrahlung. Ich hab auf der Arbeit zu lange in mein altes Handy geredet.«

Ich finde, das ist ein sehr interessanter Satz. Frank Becker und Heike Fuchs sind schlaue Menschen, sie verdrängen nichts, sie wissen um das schwarze Loch, das sich vor ihnen auftut. Es dürstet sie jetzt nach Gründen, sie wollen verstehen, warum das Leben ihnen diesen Horror auf die Tagesordnung gesetzt hat. Und Oliver Heese liefert ihnen ja einen Grund: den Zufall. Einfach nur den Zufall. Klingt wie eine Kränkung, irgendwie. Fühlt sich falsch an.

Aber warum? Ist Heeses Erklärung zu simpel? Zu abstrakt? Welche Rolle spielen Zufälle in dieser Welt? Wenn sich sogar die komplexeste Struktur des Universums dem Zufall ergibt – kann es dann sein, dass der Mensch viel mehr von Zufällen gelenkt wird, als er sich klarmacht? An wie vielen Lotterien des Lebens nehme ich täglich teil, ohne es zu ahnen?

II. Jeder Mensch ein Sherlock Holmes

Im Foyer der Schweriner Klinik steht eine Kreidetafel, auf der jemand, rührend um Schönheit bemüht, die Geburten dieses Tages verzeichnet hat. Anastasia 4.05 Uhr, Chlara 4.36 Uhr ... Es gibt einen berühmten Psychologen namens Daniel Kahneman, der womöglich einmal vor einer ähnlichen Tafel stand. In seinem Buch Schnelles Denken, langsames Denken, einer Art Bibel der Sozialpsychologie, zeigt Kahneman anhand des Beispiels neugeborener Babys, wie schwer Menschen sich damit tun, den Zufall zu verstehen.

Nehmen wir, sagt Kahneman, sechs Säuglinge, die nacheinander zur Welt kommen. Schauen wir uns nur ihr Geschlecht an, J für Junge, M für Mädchen, wobei jedes Baby natürlich unabhängig vom nächsten geboren wird, der Zufall also die Reihenfolge bestimmt. Hier zwei mögliche Abfolgen:

M-M-M-M-M-M

J-M-J-J-M-J

Sind die beiden Reihenfolgen gleich wahrscheinlich? Die meisten Menschen antworten auf diese Frage intuitiv mit Nein. Sie sehen in der Nur-Mädchen-Reihe etwas Besonderes. Dabei ist die Wahrscheinlichkeit, dass die erste Folge herauskommt, keineswegs geringer als die Wahrscheinlichkeit von Folge zwei. Sondern exakt identisch.

Der Mensch leidet unter einem Vorurteil. Er glaubt zu wissen, wie Zufälle aussehen sollten, zufällig eben, und versteht nur schwer, dass Zufallsprozesse auch Strukturen erzeugen können, die sich seiner Erwartung widersetzen. Steve Jobs, der Gründer von Apple, hat dazu einmal eine Geschichte erzählt. Als sie vor Jahren den iPod auf den Markt brachten, hatten sie die Shuffle-Funktion eingebaut, die Songs wahllos abspielte. Werbeslogan: Life is random, das Leben ist zufällig. Bald beschwerten sich Kunden, die direkt hintereinander dieselben Songs oder Songs vom selben Sänger gehört hatten. Das sei gar nicht zufällig!

Doch, war es. Es fühlte sich nur nicht so an. Apple programmierte die Funktion dann um, »weniger zufällig, damit sie zufälliger wirkte«, wie Steve Jobs später verriet.

Erbarmungslos leuchtet die Psychologie die Schwachstellen des Wesens Mensch aus. Klassisches Experiment: Man lässt nacheinander verschiedenfarbige Kreise auf einem Bildschirm erscheinen, zum Beispiel Rot und Schwarz, der Ablauf folgt keinerlei Muster. Allerdings kommt eine Farbe häufiger als die andere vor. 75 Prozent Rot, 25 Prozent Schwarz. Aufgabe: Sagen Sie vorher, was als Nächstes aufblinkt.

Viele Menschen bilden sich nun ein, doch ein Muster entdeckt zu haben, sie tippen mal auf Rot, dann wieder auf Schwarz und schneiden furchtbar schlecht ab. Nur wenige wenden die korrekte Strategie an: konsequent Rot nennen und in drei Viertel aller Fälle richtigliegen. Ratten schaffen das. Ratten! Der Mensch erkennt den Zufall schlechter als ein Nagetier.

Als Mensch, so die Einsicht der Sozialpsychologie, gehe ich durchs Leben wie mein eigener Sherlock Holmes. Ohne es zu merken, bin ich auf der Suche nach Zusammenhängen, ich stürze mich auf alles, wovon ich annehme, dass ich es ergründen kann. Ich halluziniere Strukturen in Prozesse hinein, die chaotisch sind. Ich sehe im Fernsehen, wie eine Fußballmannschaft dreimal unglücklich verliert, und glaube den Sportreportern, wenn sie den Trainer infrage stellen. Ich behandle meinen Schnupfen mit Vitamin-C-Tabletten, und sobald es mir besser geht, weiß ich, woran das liegt. So glaube ich, die Dinge zu durchschauen. Ich sehe Kausalketten – wenn A, dann B, dann C – oder irgendeine Instanz, die dieses oder jenes auslöst. Sechs Mädchen in Folge, vielleicht steckt da was dahinter!

Frank Becker, in seinem Krankenzimmer, hat mir gesagt: »Wenn es das Handy wäre – das könnte systematisch untersucht werden.«

Ich und Frank Becker und wir alle, wir sind ziemlich gut darin, Sherlock Holmes zu sein, besser als jede Ratte. Viel zu gut für den Zufall, dessen Rolle wir am liebsten ausblenden. Besonders neigen dazu übrigens zwei Gruppen von Menschen: die Paranoiden und die Einfühlsamen. Wer sich mehr als gewöhnlich in ein (eingebildetes oder echtes) anderes hineinversetzt, das handelt und Dinge bewirkt, der macht sich blind für das, was einfach so passiert.

Alexander Horn muss ständig nachvollziehen, warum ein Mensch so und nicht anders gehandelt hat. Ich habe eine Ahnung bekommen, welche Mühe es kostet, darüber den Zufall nicht zum Hintergrundrauschen zu degradieren, als ich ihn in seinem Büro in München besucht habe. Horn, 43 Jahre alt, ein aufrechter Mensch mit klarem Blick, leitet seit bald zwei Jahrzehnten die Fallanalyse der Polizei Bayern, er hat bei Hunderten Tötungsdelikten die Ermittler vor Ort beraten. In Amerika und in deutschen Fernsehserien würde man ihn einen Profiler nennen. Horn mag den Begriff nicht, weil er mehr nach Psycho-Hokuspokus klingt als nach kriminalistischer Facharbeit. Alexander Horn ist ein sehr nüchterner Mensch, er muss das sein.

Eine Welt, gelenkt vom Zufall? »Undenkbar«, sagt die literarische Figur Sherlock Holmes im Abenteuer mit dem Pappkarton.

»Den Zufall muss man immer mit einkalkulieren«, sagt der Fallanalytiker Alexander Horn in seinem Büro.

In Hamburg geschah es vor Jahren, dass ein Kind in einem Treppenhaus starb, nach Tritten an den Kopf. Die Wohnung, in der die Familie lebte, lag gleich über dem Tatort. Die Polizei war sich sicher: Der Vater, ein cholerischer Alkoholiker, hatte den Fünfjährigen getötet. Hatte er aber nicht. Der Täter war ein Geisteskranker, der sich im Hauseingang vertan hatte und ein fremdes Kind erblickte, das die Treppe herabgerannt kam, genau auf ihn zu. Und ausrastete. Nichts als Zufall.

Ein Fallanalytiker wie Alexander Horn ist kein Genie, das einsam über seinem Schreibtisch brütet. Horn arbeitet in einem Team mit vier Fachkollegen, die ständig ihre eigenen Hypothesen infrage stellen. Sich an den Pfeilern von Methodik, Fachwissen und Wahrscheinlichkeiten entlanghangeln und im Kopf behalten, dass alles auch anders sein könnte, so beschreibt Horn die Arbeit des ältesten deutschen Fallanalyseteams.

Auch in dem Fall, der ihn so lange wie kein anderer beschäftigt hat, stand er vor dieser Frage: Zufall oder nicht? Was sehe ich hier – Ereignisse, die so wenig verknüpft sind wie die Geburten von Babys in einem Krankenhaus? Oder etwas, das auf eine gemeinsame Ursache hinweist? In Norddeutschland verschwinden über neun Jahre hinweg drei Jungen, einer aus einem Internat, einer von einem Zeltplatz, ein dritter aus dem Schullandheim. Die Leichen der ersten beiden werden in Sanddünen vergraben gefunden, die dritte taucht in einem Gebüsch auf. Die Ermittler aus Niedersachsen bitten Horn dazu, und nach einer Debatte, die von halb acht morgens bis nach Mitternacht dauert, entscheidet sich die Gruppe unter seiner Leitung für die Suche nach einem Serientäter.

Sie dauert mehr als zehn Jahre und wäre vielleicht nie zu Ende gegangen, hätte nicht irgendwann ein Angestellter eines Fertigungsbetriebes Nachtschicht gehabt, hätte er nicht in der Pause den Fernseher eingeschaltet und wäre nicht zufällig gerade die Sendung Ungeklärte Morde wiederholt worden. Der Angestellte sieht ein Foto von einem der Opfer und meint sich zu erinnern: Das ist der Junge, der ihm fast neun Jahre vorher mit einem Unbekannten in einem Opel Omega auffiel.

Die Polizei macht 7000 Halter eines Opel Omega ausfindig, aber wollen sie die alle überprüfen? In dieser Situation entscheidet sich Horn, mit dem Fall und der neuen Spur noch einmal an die Öffentlichkeit zu gehen. Am Abend nach der Pressekonferenz trifft um 22.28 Uhr die Mail eines weiteren Zeugen ein – von einem Opel weiß er nichts, aber er erinnere sich auf einmal an einen seltsamen Betreuer, vor 16 Jahren bei einer Ferienfreizeit ... Diese Mail bringt die Ermittler auf die Spur des Mörders, des berüchtigten »Maskenmannes«.

Es war tatsächlich ein Serientäter. Nur Opel Omega ist der Maskenmann nie gefahren. Erst der Zufall brachte die Ermittler auf seine Spur. Eine falsche Erinnerung setzte eine Kette an Ereignissen in Gang, die zum richtigen Ziel führte.

Alexander Horns Erfahrung nach Hunderten Tötungsdelikten: »Der Mensch ist nicht so kompliziert. Sein Verhalten folgt schon Mustern. Keiner fällt vom Himmel und wird Sexualmörder. Das Bedürfnis, jemanden zu töten, ist nicht zufällig. Aber die Umstände, die können es sein.«

Zufall und Struktur – es war ein Aha-Moment in der Geschichte des Nachdenkens über die Welt, als man begriff, dass sie miteinander in Beziehung stehen. Es geschah im 18. Jahrhundert. Gelehrte fingen damals an, Menschen beim Glücksspiel zu beobachten. Vielleicht sahen sie zu, wie Münzen geworfen wurden, sahen in den Gesichtern der Spieler die fiebrige Spannung. Das Ergebnis schien rein zufällig; war es auch. Aber den Gelehrten fiel auf, was passiert, wenn man eine Münze viele Male hintereinander wirft: Wie oft Kopf und Zahl auftauchen, ist dann nicht mehr willkürlich. Macht man eine Strichliste, sieht man es. Je häufiger die Münze fällt, desto eindeutiger nähert sich das Kopf-Zahl-Verhältnis dem Idealwert von 50 : 50.

Zufällige Einzelereignisse, in ihrer Gesamtheit, unterliegen Regeln. Ich habe gelesen, dass diese revolutionäre Erkenntnis alles möglich machte, was heute irgendwie mit Statistik zu tun hat. Aber wenn ich ehrlich bin, muss ich sagen, dass es mir schwerfällt, sie nachzuvollziehen. Ich möchte eben, dass Zufälle zufällig wirken und Strukturen rein von Zufällen bleiben. Trifft das eine auf das andere, ist ein kühler Kopf wie Alexander Horn vielleicht nicht verwirrt. Ich schon.

Wenn wundersamerweise in der Klinik 83 männliche Babys nacheinander zur Welt kamen, dann muss doch, ganz bestimmt, das 84. ein Mädchen ... Nein. Das einzelne Ereignis, unverbunden mit dem davor, bleibt zufällig. Nur steigt eben mit jeder Wiederholung die Chance, dass die Gesamtschau am Ende eine 50 : 50-Verteilung zeigt. Ich scheine nicht der Einzige zu sein, der sich anstrengen muss, das zu erfassen. Es gibt Roulettespieler, die glauben, sie müssten alles auf Rot setzen, wenn zehnmal Schwarz dran war. Man sollte dazu wissen, dass die Erkenntnis der Gelehrten ihren Namen nicht umsonst hat. Sie heißt »Gesetz der großen Zahlen«. Man braucht nicht ein paar Dutzend, man braucht schon Tausende Münzwürfe, um mit großer Sicherheit das 50 : 50-Muster zu erreichen.

Damals im hoffnungsvollen 18. Jahrhundert, als die Gelehrten dem Zufall ihr Gesetz abrangen, schien plötzlich vieles möglich. Man müsste die Welt nur genau genug studieren, müsste bis ins letzte Detail »die Bewegungen der größten Himmelskörper und des leichtesten Atoms« erfassen, dann wäre es vorbei mit dem Zufall. Es gibt ihn nämlich gar nicht. Er ist nur ein Wort für das, was noch niemand verstanden hat. Er ist, mit einem Bild des Philosophen Spinoza, das »Asyl der Unwissenheit«. Der Fortschritt wird ihn überflüssig machen.

So dachten die großen Gelehrten der Aufklärung. Dreihundert Jahre später ist der Zufall immer noch da.

Ich glaube, das liegt daran, dass die Denker damals eine simple Wahrheit übersehen haben. Leben bedeutet, dass unfassbar viele Dinge passieren. Trillionen von Ereignissen, jeden Tag, in jeder Minute. Wie viele Male hat ein Kind ein Fahrrad bestiegen, seit es Fahrräder gibt? In Finnland fuhr ein Kind vor Jahren mit seinem Rad los und starb, als es von einem Lkw erfasst wurde, und eine Stunde später kam sein Zwilling auf genau die gleiche Weise zu Tode. Wie viele Male hat am Himmel ein Blitz gezuckt, seit es Menschen auf der Erde gibt? Walter Summerford wurde im Februar 1918 vom Blitz aus dem Pferdesattel geworfen und überlebte. 1924 wurde er wieder vom Blitz getroffen, diesmal beim Angeln, und 1930 noch mal, beim Spazierengehen. Er überlebte.

Wie viele Menschen träumen manchmal von ihrem Tod und leben ganz normal weiter? Ich bin einer von ihnen. Abraham Lincoln träumte von seinem Tod, wenige Tage bevor er ermordet wurde.

Und wie viele Menschen waren in diesem Winter auf deutschen Weihnachtsmärkten? Wie viele wurden dort getötet? Es kommt mir vor, als habe der Attentäter von Berlin nicht nur den gekaperten Lkw, sondern auch die Gesetze des Zufalls als Waffe eingesetzt. Mit der winzigen Chance, dass auch du und ich gegen alle Wahrscheinlichkeit zum Terroropfer werden könnten – damit hat er in diesem Land sehr viele Menschen getroffen.

Ich kann eine Münze tausendmal werfen, dann schließe ich mit nahezu absoluter Sicherheit aus, dass nur Kopf kommt und niemals Zahl. Werfe ich aber die Münze viele, sehr viele Jahre lang, billionenfach, dann kann es schon sein, dass ich irgendwann zwischendurch eine Wahnsinnsserie hinlege: tausendmal Schwarz!

Komische Dinge passieren. Weil so vieles passiert.

Meine Chance als 40-jähriger Mann, morgen zu sterben, ist 1835-mal höher als die, den Jackpot zu knacken. Trotzdem spielen Leute Lotto. Manche gewinnen sogar. Andere Leute kriegen einen Hirntumor. Oder sie setzen genau in der falschen Hundertstelsekunde einen Funkspruch ab.

III. Die Sehnsucht nach Antworten

Das mit dem Funkspruch hat mir Jörg Kujack erzählt, er ist Kapitän bei der Lufthansa. Kujack, ein Mann von 59 Jahren mit Radiomoderatorenstimme und dieser abgeklärten Pilotenart, von der man sich sofort beruhigen lassen will, fliegt Menschen um die Welt, nach Kapstadt, Hongkong, Vancouver. Ich habe ihn in seiner Heimatstadt Baden-Baden getroffen, einen langen Abend haben wir über Abstürze geredet. Kujack spricht gern und viel über Flugzeugabstürze. Es dauerte ein wenig, aber dann fand ich das ganz beruhigend.

Ausgangspunkt: »Du fliegst in stockdunkler Nacht ohne Sicht mit 800 Sachen durch minus 60 Grad kalte Luft. Dabei sitzt du auf 100 000 Liter Sprit. Da willst du nicht, dass dir der Zufall in die Quere kommt.« Auf Englisch sage man ja nicht umsonst by accident über etwas Unvorhergesehenes. Accident bedeutet Unfall.

Den wollen sie bei der Lufthansa natürlich vermeiden, dabei stehen sie vor zwei Problemen. Erstens, sie fliegen sehr oft, ungefähr 1800-mal am Tag. Sie gehen quasi ständig ins Kasino. Rund um die Uhr fordern sie den Zufall heraus, und irgendwann, das wissen sie, wird er sie überraschen, so wie ein Mensch jahrelang jeden Morgen seine Haustür ins Schloss zieht und eines Tages merkt: Jetzt habe ich drinnen den Schlüssel vergessen. Zwischenfälle oder gar das, was sie »Totalverlust« nennen, bleiben extrem selten, das ist gut, aber es schafft auch methodische Schwierigkeiten. Einer von Kujacks Kollegen, der bei der Lufthansa über Strategien für unfallfreies Fliegen nachdenkt, drückt es so aus: »Solange wir nicht abstürzen, wissen wir auch nicht, wie sicher wir sind.« Sie leiden an ihrem eigenen Erfolg, wie ein Schüler, der dauernd Einsen schreibt und nicht weiß, was er tun soll, um noch besser zu werden.

Sie versuchen es, so wie alle im Flugverkehr es versuchen. Studieren jedes Triebwerkstottern, zählen Vogelschläge, schauen sich Abstürze anderer Airlines an. Deshalb beruhigt es mich, wenn Jörg Kujack offen über Katastrophen spricht. Er ist Teil eines Systems, das zum Zufall eine Hassliebe entwickelt hat. Es verabscheut ihn. Aber es braucht ihn auch, weil es ein lernendes System sein möchte.

Kujack erzählt vom furchtbarsten Unglück der zivilen Luftfahrt, 27. März 1977, Teneriffa. Zwei riesige 747, eine aus den Niederlanden und eine aus Amerika, warten hintereinander am einen Ende der Startbahn. Beide hierher umgeleitet, wegen Bombendrohung in Gran Canaria. Dichter Nebel, viel Verkehr, alle wollen schnell weg. Der Tower lässt die Niederländer bis zum anderen Ende der Bahn rollen, dort dreht die 747, bereit zum Start. Die Amerikaner rollen jetzt auch über die Bahn, der Befehl lautet, an Ausfahrt drei abzubiegen, aber im Nebel finden sie die Ausfahrt nicht und rollen immer noch die Bahn hinunter, den Niederländern entgegen. Der Tower sagt den Niederländern, wohin sie nach dem Start fliegen sollen, dabei fällt das Wort take-off. Der Pilot hört es und denkt, er darf abheben, er löst die Bremsen. Die 747 gewinnt an Tempo, sie rast genau auf die andere 747 zu. Sogar jetzt hätte die Ereigniskette vielleicht noch unterbrochen werden können, alle Beteiligten, der Pilot aus Holland, der Pilot aus Amerika und der Mann im Tower, wollen jetzt miteinander sprechen. Nur sprechen sie gleichzeitig, 17.06 Uhr, 19 Sekunden, 39 Hundertstelsekunden, die Funksprüche blockieren einander, die Piloten hören wohl nur ein Rauschen, und das Unglück nimmt seinen Lauf. 583 Tote.

Heute darf der Ausdruck take-off erst fallen, wenn es wirklich losgeht. Während Kujack noch auf der Bahn herumrollt, fragt der Tower also nicht: Are you ready for take-off? Sondern: Are you ready for departure? Weil take-off eben nach »Bahn frei« klingt. Allerdings löst in komplexen Systemen eine Maßnahme gegen das Risiko manchmal neue Risiken aus. Nach dem 11. September verbarrikadierten die Luftlinien alle Cockpittüren. Ohne diese Vorschrift hätte der Germanwings-Pilot Andreas Lubitz niemals seinen Kollegen aussperren können. Neue Vorschrift heute: Wenn ein Pilot mal muss, dann setzt sich eine Stewardess ins Cockpit, intern »Klopilotin« genannt. Diese Regel wird befolgt; beliebt ist sie nicht. Auch eine verrückte Stewardess kann Schlimmes anrichten.

Komische Dinge passieren. Und mit zunehmender Absicherung gegen sie nimmt paradoxerweise ihre Wirkung zu: Wenn es dann mal so weit ist, scheint es besonders fatal zu sein, wie der Angriff einer fremden Macht.

Jörg Kujack hat mir noch etwas erzählt, das mich berührt hat. Ein Freund von ihm, auch Pilot, der ihn vor vielen Jahren überredet hatte, sich bei der Flugschule zu bewerben, dieser Lebensfreund starb eines Tages bei einem Absturz in der Türkei. Am Grab bekam Kujack von der Witwe den Namensanhänger des Pilotenkoffers. Heute fliegt der Anhänger in Jörg Kujacks eigenem Koffer mit, nach Kapstadt, Hongkong, Vancouver. Als Glücksbringer. Als Schutz gegen das Unberechenbare.

Ein Pilot, Großmeister des rationalen Handelns, der sich einen letzten Rest Magie erlaubt. Ein Tumoropfer, das einen Schuldigen braucht, also ein Gegenüber, und sei es nur ein Handy. Den Soziologen Hartmut Rosa überraschen solche Geschichten nicht. An seinem Lehrstuhl in Jena haben die Wissenschaftler viele ganz normale Menschen gebeten, ihre Biografie zu erzählen. Fast immer leuchtete aus der Art, wie die Leute auf ihr Leben schauten, eine tiefe Sehnsucht: Das, was mir geschieht, soll mir nicht zufällig geschehen. Grausamer noch als die Erfahrung, ins kalte Räderwerk des Zufalls zu blicken, scheint die Furcht davor zu sein, sein Dasein nicht zu begreifen, sagt Rosa. »Jemand verliert ein Bein bei einem Unfall und findet: Es musste so sein. Es war gut für mich. Ständig ist da dieses Motiv: Das Schicksal will mir etwas mitteilen. Es meint mich.«

Rosa zitiert einen Ausdruck des Philosophen Karl Jaspers: »der Sinn für das Umgreifende«. Jaspers beschreibt damit die grundlegende Art, wie der Mensch mit der Welt um ihn herum in Beziehung tritt, gerade mit den Teilen, die sich der Beherrschung und dem Verfügbarmachen entziehen. Vielleicht ging es schon los mit dem Kampf gegen den Zufall, als der Mensch die erste Hütte errichtete, um sich in Sicherheit zu bringen vor den Unwägbarkeiten dieser Welt. Der Mensch baute Schiffe und Hochhäuser und Flugzeuge und überzog die Erde mit dem Kreislauf des Geldes, er plant seine Zukunft und will Kontrolle. In den Studien der Psychologen glauben Probanden eher an einen Sieg bei einer Lotterie, wenn sie die Lose selber ziehen dürfen. Der Mensch ist schon ein seltsames Wesen.

Man kann im Leben aber nicht alle Lose selber ziehen. Deshalb, sagt Hartmut Rosa, wirbelt auch im modernen Menschen »dieses Bedürfnis, in die Welt hineinzurufen – und eine Antwort zu bekommen«.

Und sei es in Form einer Frühstückstüte und eines roten Regenschirms.

An einem Sonntagmorgen vor einigen Wochen setzt sich eine Bekannte von mir, Eva, 27 Jahre alt, in Rom in die Bahn. Es geht ihr nicht gut, »ich habe ein echt beschissenes Jahr gehabt«, wird sie mir später erzählen. Eva ist Deutsche, sie promoviert in Italien in politischer Philosophie. Im Frühjahr durchlitt sie eine schlimme Trennung und floh heim nach Deutschland, jetzt ist sie in Rom bei einer Fachkonferenz. An diesem Morgen hat sie sich vorgenommen, ein Kloster zu besichtigen, es liegt auf einem Berg weit außerhalb der Stadt. Kann man ja mal hochwandern, denkt Eva.

Eva stammt aus einer weltoffenen und toleranten Familie, in der der Glaube eine große Rolle spielt. Sich selbst beschreibt sie als Atheistin, aber eine suchende. »Ich habe schon immer damit gerungen: mit der Religion, Gott, den Geschichten aus der Bibel.«

So ein Mist, denkt Eva in der Bahn. Geld zu Hause vergessen. Hunger habe ich auch, und gestern Abend, das war wohl doch zu viel Alkohol. Eva beschließt, umzukehren. Sie steigt aus, geht auf den Bahnsteig gegenüber, weil dort der Zug in die andere Richtung fährt – da liegt auf der Wartebank eine Tüte vom Bäcker, mit einem frischen Sandwich darin. Wer das bloß hier vergessen hat. Sie wechselt zum zweiten Mal den Bahnsteig, setzt ihre Fahrt fort und isst das Sandwich.

Als sie sich dem Berg nähern, beginnt es furchtbar zu regnen. Eva schaut aus dem Fenster, die Welt verschwimmt, das Kloster hüllt sich in Wolken. Wird wohl nichts mit Wandern, denkt Eva jetzt wieder – da fällt ihr plötzlich ein roter Regenschirm auf, ganz einsam im menschenleeren Abteil. Irgendwas will, dass du da jetzt hochgehst. Der Zug hält. Eva schnappt sich den Schirm und wandert in seinem Schutz los.

Sie verbringt an diesem unspektakulären Sonntagvormittag viel Zeit am Kloster. Etwas in ihr löst sich, sie fühlt sich geborgen im »Umgreifenden«. Betet zum ersten Mal seit zehn Jahren. Zündet drei Kerzen an. Und nimmt am Ende ein Geschenk mit ins Tal, das sie seither nicht wieder verloren hat. Eva nennt es »ein bisschen Frieden für diesen Krieg in mir drin«.

Eine mögliche Reaktion auf dieses Erlebnis, Eva weiß das selbst, wäre diese: Hahaha. Klassischer Fall von Zufallsvergessenheit. Da stoßen ihr zwei Dinge zu, recht banale zudem, und der Sherlock Holmes in ihr, dieser Alltagsdetektiv, sieht sofort ein Muster, und das Muster wandelt er dann in eine Botschaft um.

Ich finde aber, das wäre die falsche Reaktion. Eva führt vor, wie man mit dem Zufall umgehen kann, damit er einem guttut. Was mir daran gefällt, ist die Art, wie Eva sich bewusst weigert, Folgerungen abzuleiten. Ihre Reaktion auf den Sonntagmorgen, sagt sie, bestehe nicht darin, sich groß Gedanken zu machen, ob da nicht doch ein Gott ... Sie nimmt ihr Erlebnis einfach an, als Geschenk eben.

Natürlich spielte Gott historisch die Rolle des Begleiters beim Umgang mit dem Unberechenbaren, und er wird nicht sterben, solange der Zufall da ist. Es gibt auch noch einen anderen Begleiter. Die meisten meiner Freunde und Verwandten sind nicht sehr religiös, aber dieses eine Wort höre ich immer wieder: Schicksal. Kann es sein, dass »Schicksal« die Ausflucht derjenigen ist, denen »Gott« zu rauschebärtig vorkommt und die dennoch nicht von einer übergeordneten Instanz lassen wollen? Und kann es sein, dass das ziemlich viele Menschen sind?

Egal welche Forscher ich frage – von der Vision ihrer Vorgänger aus früheren Jahrhunderten, die Struktur der Welt bis ins Feinste zu durchleuchten und so den Zufall zu erledigen, von dieser Vision lassen sie nichts übrig.

Ich sage allen Theologen immer: Selbst der liebe Gott kennt die Ursache nicht, er kann sie nicht kennen.

Der Quantenphysiker Anton Zeilinger erinnert an die Existenz des »objektiven Zufalls«, also daran, dass sich in der Welt des Allerkleinsten manche Ereignisse schlicht nicht vorhersagen lassen. »Ich sage allen Theologen immer: Selbst der liebe Gott kennt die Ursache nicht, er kann sie nicht kennen.«

Der Professor für Psychologie Franz Neyer weist darauf hin, dass sich die Persönlichkeit eines Erwachsenen nicht nur durch stabile Einflüsse erklären lässt, wie etwa das Verhalten der Eltern, dem sich dieser Mensch in seiner Kindheit ausgesetzt sah. Bedeutsam für die Charakterbildung seien auch dynamische Veränderungen im Lauf des Lebens: die Krankheit zur falschen Zeit, die Liebe auf den ersten Blick. Etwa die Hälfte aller möglichen Partner, sagt Neyer, fallen von vornherein weg, sie widersprechen den sozialen und den persönlichen Standards. An wen von den anderen 50 Prozent man sein Herz vergibt, das sei und bleibe nicht vorhersagbar. Also reiner Zufall. Der Satz »Wir waren füreinander bestimmt«, aus Sicht der Fachleute ist er nichts anderes als eine illusionäre Anrufung des Schicksals. (Allerdings eine für die Zukunft der Partnerschaft sehr gesunde Anrufung.)

In Hitlers Leben hat der Zufall eine große Rolle gespielt.

Und der Historiker und ehemalige ZEIT- Redakteur Volker Ullrich, Autor einer Biografie von Adolf Hitler, gibt dies zu bedenken: »In Hitlers Leben hat der Zufall eine große Rolle gespielt.«

München, 9. November 1923: Hitlerputsch. Untergehakt, in langen Reihen, bewegen sich die Nazis um die Mittagszeit auf den Odeonsplatz zu. Da hallen Schüsse durch die Straßen. Der Marschierer neben Hitler, keine Armlänge von ihm entfernt, fällt tot zu Boden. Hitler bleibt unverletzt.

Am Abend des 8. November 1939 hält der Mann, der Europa in den Krieg gestürzt hat, wie jedes Jahr eine Rede zum Gedenken an jenen Tag. Diesmal soll er sterben. Der Kunstschreiner und große deutsche Held Georg Elser hat sich Dutzende Male abends im Bürgerbräukeller einschließen lassen, hat eine Säule ausgehöhlt und darin eine Bombe deponiert. Elser weiß, dass Hitler jedes Jahr von halb neun bis zehn spricht, also stellt er den Zeitzünder auf 21.20 Uhr. An diesem Tag allerdings liegt dichter Nebel über der Stadt. Hitler fliegt nicht wie üblich nach Berlin zurück, er nimmt einen Zug, der schon um 21.31 Uhr abfährt. Als die Bombe hochgeht, die ihn aller Wahrscheinlichkeit nach getötet hätte, ist er gerade auf dem Weg zum Hauptbahnhof. Joseph Goebbels schreibt in sein Tagebuch: »Er steht doch unter dem Schutz des Allmächtigen. Er wird erst sterben, wenn seine Mission erfüllt ist.« So wie später nach dem 20. Juli 1944 sehen die Nazis die »Vorsehung« am Werk. Nein, kein Zufall. Bloß das nicht. Es musste so kommen.

Mir kam diese Reaktion immer wie eklige Propaganda vor. War sie natürlich auch. Aber sie offenbart auch den zutiefst menschlichen Drang zur nachträglichen Sinnstiftung. Der Zufall fordert ein Denken im Konjunktiv, eine Was-wäre-wenn-Umleitung. Menschen denken aber gern bequem. Sie blicken zurück, sehen ein paar Punkte entlang des Weges, den ihre – oder die – Geschichte genommen hat, und konstruieren sich eine einigermaßen kohärente Erzählung zusammen.

Ich glaube, letztlich macht es jeder so, der über sein Leben nachdenkt. Vielleicht liegt der Grund dafür in der Unfähigkeit des Menschen, sich vorzustellen, nicht zu sein. Die größte Story, die ich mir erzählen kann, handelt davon, dass alles auf mich zulaufen musste. Auf genau den Menschen, der ich bin. Leider entspricht diese Story nicht der Wahrheit. Ich will nicht begreifen, dass es eine Welt geben könnte, in der ich nicht bin? Natürlich ist diese Welt sehr leicht denkbar.

Man muss sich nur durch das Dunkel seiner Familiengeschichte nach hinten tasten. Hätte Georg Elser Hitler aus dem Weg geräumt, hätten die Deutschen vielleicht nicht Frankreich angegriffen, dann wäre nicht am 9. Juni 1940 der erste Ehemann meiner Oma in der Champagne gefallen, dann hätte nicht meine Oma meinen Opa geheiratet. Die Dominokette, an deren Ende ich selbst stehe, wäre unterbrochen worden. So viele winzige Wendepunkte, so viele Sekunden des Schicksals. Über die Generationen hinweg akkumulieren sich die Zufallseffekte, dass einem ganz schwindlig werden kann davon. Sie tun das natürlich in jeder Familie.

Und dann: der Moment der Zeugung. Eine Eizelle. 400 Millionen Spermien. Ich dachte immer, alle diese Spermien seien identisch, aber das stimmt nicht. Die genetische Information unterscheidet sich von Spermium zu Spermium, und zwar massiv. 400 Millionen Möglichkeiten. Hätte in jener Hundertstelsekunde irgendein anderes sein Ziel erreicht, ich wäre ein anderer als der, der ich bin.

Der Zufall ist nichts, was nur von außen auf mich hereinstürzt wie ein Unfall oder ein Regenschirm in einem leeren Abteil. Er steht am Grund meiner Existenz.

IV. Glück in der Lotterie

Kalt und klar ist die Nacht, und sehr still. Ein Mann läuft durch einen Wald, nur eine kleine Taschenlampe weist den Weg, schwarze Bäume am Wegesrand. Der Mann bleibt stehen, zeigt stumm nach vorn. Umrisse eines Gebäudes, rund wie die Nacht. Rumpeln durchbricht die Stille, das Dach des Gebäudes fährt auf, ein heller Lichtspalt dringt heraus, und ich erkenne ein gigantisches Fernrohr. Es schaut in den Himmel. Da bleibe ich stehen und richte meinen Blick nach oben.

Die Thüringer wussten schon, was sie taten, als sie ihre Landessternwarte, eine der größten in Deutschland, hier oben in die einsamen Hügel über der Saale bauten. Die Nacht funkelt ungestört vor sich hin.

Bevor Eike Guenther und ich aufbrachen, habe ich den Nachmittag bei ihm und seinen Astronomenkollegen verbracht. Es sind fast nur Männer, die in Zweckbauten abseits der Kuppel zusammensitzen, sie tragen gestreifte Pullover und Sandalen, sie strecken Köpfe in Nachbarbüros und sagen Sätze wie diesen: »Kümmerst du dich morgen um meinen jungen massiven Stern?« Vielleicht ist es die Ruhe, die über diesem Zauberberg liegt, oder der ungeheure Raum, der hier täglich in Gedanken durchmessen wird. Jedenfalls drehen sich Gespräche schnell ums Wesentliche.

Eike Guenther ist Teil einer Suchaktion. Hier und an anderen Sternwarten in aller Welt bewegen sich Wissenschaftler an der Grenze des Messbaren, sie forschen nach Planeten, die der Erde ähnlich sind. So ähnlich, dass es dort Leben geben könnte. Hartmut Rosa, der Soziologe unten in seinem Tal in Jena, würde sagen: Sie rufen ins All hinein und warten auf Antwort.

»Warum gibt es Leben?«

»Ist Leben im All selten? Ist es häufig?«

»Ist es vielleicht ein zufälliges Ereignis?«

Das waren die Antworten, die ich bekam, als ich Eike Guenther und seinen Institutschef fragte, was die großen Rätsel sind. Einige Tausend Kandidaten haben sie schon, größere und kleinere Planeten, lauter potenzielle Zwillinge der Erde, von denen jeder um einen Stern kreist, der unserer Sonne ähnelt, irgendwo da draußen.

Eike Guenther öffnet die Tür der Sternwarte. Er betritt einen Raum unterhalb der Kuppel, mit schrabbeligen Holztischen aus DDR-Zeiten und einem Kaffeeautomaten für einsame Kämpfe gegen den Schlaf. Und, na klar, Computerschirmen. Ein älterer Kollege hat diese Nacht Dienst und sitzt schon da. Noch einmal rumpelt es, über uns dreht sich das Teleskop einem winzigen Ausschnitt des Himmels entgegen, und dann erscheint auf dem Schirm vor uns ein Kamerabild.Punkte. Überall kleine Punkte. Keinen davon würde ich mit bloßem Auge erkennen, nicht von hier oben im Wald und schon gar nicht aus einer Stadt. Aber die Punkte sind doch da. Manche Menschen schauen in den Himmel, und zurück schaut ein Löwe oder ein Wagen. Mich blickt etwas an, das mich an die Struktur im Kopf des Tumorpatienten Frank Becker erinnert. Zellen in einem Hirn. Sind miteinander verbunden. Bringen die seltsamsten Dinge hervor.

Die Forscher haben angefangen, die Kandidaten zu untersuchen, so sorgfältig, wie das nur geht über Hunderte Lichtjahre hinweg. Bis jetzt jedes Mal Enttäuschung. Mal stimmte die Masse nicht. Oder die Temperatur. Atmosphäre, stabile Bahn, Wasservorkommen – wie im Spiegel, sagt Guenther, erkennen die Astronomen, dass in der Elementarzeit der Erde unermesslich vieles zusammenkam, bevor der Prozess starten konnte, an dessen Ende das Leben stand.

Je lauter der Mensch ins All ruft, desto tiefer die Stille, die ihm antwortet. Desto wundersamer wird es, dass es ihn gibt.

Leben. Ein Astronom sagte mal: Die Chance, dass es entsteht, ähnelt der Chance darauf, dass ein Taifun über einen Schrottplatz rast, und aus den aufgewirbelten Teilen setzt sich ein Jumbojet zusammen. Vielleicht ist das ein zweites Mal geschehen, irgendwo in der Tiefe hinter den Punkten auf dem Schirm. Neulich auf einer Tagung haben die Planetensucher abgestimmt, da waren vier Fünftel der Meinung, es werde schon noch was auftauchen. Aber wohl nur Einzeller. Dass aus solchen Billigprodukten des Lebens automatisch Menschenartiges hervorwächst, daran glaubt so gut wie kein Forscher, der sich mit diesen Fragen befasst.

Früher in der Schule gab es in unseren Biologiebüchern diese Darstellung zur Evolution: Zuerst ist da ein Affe, dann richtet er sich ein wenig auf, der Kopf wird weniger kantig, das Wesen verliert sein dichtes Haar, geht noch aufrechter, und am Ende der Reihe steht da – ein Mensch wie du und ich. Die Darstellung legt nahe, dass man den Homo sapiens mit einem iPhone vergleichen kann. Auf das iPhone 4 folgte das iPhone 5, mit verbesserten Funktionen, dann das noch bessere iPhone 6 und schließlich das iPhone 7.

Wäre nicht ein Himmelskörper auf der Erde eingeschlagen und hätte den hier ausgerottet, dann würde er wohl heute regieren. Und nicht wir Säugetiere.

Ein Besuch bei dem Biologen Johannes Vogel, dem Direktor des Berliner Naturkundemuseums, hat mich davon überzeugt, dass es nicht so einfach ist. Vogel, ausgerechnet, aber natürlich nur aus Zufall verheiratet mit einer Ururenkelin von Charles Darwin, redete viel über die verschlungenen Wege der Evolution, die nichts anderes sein können als zufällig. Dann führte er mich in einen seiner riesigen Säle, schaltete das Licht ein, und ich stand vor einem Tyrannosaurus Rex und fühlte mich klein. Vogel zeigte auf das gigantische Skelett. »Wäre nicht ein Himmelskörper auf der Erde eingeschlagen und hätte den hier ausgerottet, dann würde er wohl heute regieren. Und nicht wir Säugetiere.«
Kein Sieger glaubt an den Zufall, schreibt Nietzsche.

Muss das immer stimmen? Ich stelle mir unsere Erde und das Leben darauf und uns selbst, dieses Augenzwinkern in der Ewigkeit, nach meiner Recherche als einen gigantisch unwahrscheinlichen Gewinn im Glücksspiel vor. Überall im Universum fallen die Würfel, Milliarden Jahre lang und an Milliarden Orten und immer wieder. Mindestens einmal hat es geklappt. Ich habe gelesen, dass Menschen, die ihre sozialen Erfolge – Karriere, Geld, Chefposition, solche Dinge – eher auf den Zufall als auf eigene Leistung zurückführen, mehr Glück empfinden und mehr für gute Zwecke spenden. Auch das hat mich ermutigt, die allumfassende Rolle des Zufalls am Ende für etwas Segensreiches zu halten.

Und dies: Sogar Frank Becker, dem Mann mit dem Hirntumor, hat die Lotterie des Lebens nicht nur Schlimmes gebracht.

Der beste Computer auf der Welt hätte nicht vorhersagen können, was im brandenburgischen Pritzwalk an Silvester vor sechs Jahren geschah. Heike Fuchs und eine Freundin wollten eigentlich zu Hause bleiben, dann gingen sie doch in die Alte Mälzerei. Silvestertanz. Frank Becker hatte mit Freunden einen Tisch gemietet. Heute sagt er, es war Liebe auf den ersten Blick. Damals sagte er sich: An Silvester ist man doch mutig. »Willste mit mir tanzen?« Sie tanzten den ganzen Abend lang, und das neue Jahr war schon ein paar Stunden alt, als er sie fragte, ob er sie nach Hause bringen dürfe. Sie schreckte zurück und ging allein.

Aber sie bekam ihn nicht aus dem Kopf. Zufälligerweise arbeitete ihre Nichte in seinem Betrieb. Die Nichte legte ihm ihre Telefonnummer auf den Schreibtisch. Am 8. April 2011 trafen sie sich wieder. Waren beide länger allein gewesen. Sind es seit jenem Abend nicht mehr.

Er: »Ich möchte kein Pflegefall sein.«

Sie: »Schatz, du bist es ja schon.«

Sie stützt ihn, wenn er ein paar Schritte machen möchte, und er streichelt ihr den Rücken, wenn sie nachts im Bett weint, aus Angst davor, was kommen wird. Anfang Dezember fuhr sie jeden Tag ins Krankenhaus. Nach der Operation, bei der ich in Frank Beckers Hirn geschaut hatte, teilten ihr die Schwestern nach dem Aufwachen mit: Keine neurologischen Schäden, alles gut im Moment, gehen Sie ruhig zu ihm, da erwartet Sie was Schönes. Sie betrat sein Zimmer. Er lag da, erkannte sie und sagte: Schatz, jetzt wird geheiratet.

Hinter der Geschichte

Ausgangsfrage: Welche Rolle spielt der Zufall in der Welt?

Gesprächspartner: An ihrer Auswahl war auch der Zufall beteiligt. Mal hatte der Autor früher irgendetwas gelesen, das ihm nun wieder einfiel, mal hatte ein Kollege eine spontane Idee, mal half die Suchmaschine im Netz.

Literatur: Daniel Kahneman beschreibt in »Schnelles Denken, langsames Denken«, wie Menschen von ihrer Intuition in die Irre geführt werden. Außerdem: Alexander Horn, »Die Logik der Tat«, über seine Arbeit als Fallanalytiker; Volker Ullrich, »Adolf Hitler. Die Jahre des Aufstiegs«.