Mein letztes Buch

Von Malte Herwig

Vor ein paar Monaten habe ich mir eine Guillotine besorgt. So nennt man in England Geräte, mit denen man große Mengen Papier schneiden kann. In Deutschland heißen sie „Stapelschneider“ und sind irrsinnig teuer. In China dagegen werden Guillotinen massenweise hergestellt, und so eine verkaufte mir der englische Händler für 200 Euro.

Das Ding wiegt 25 Kilogramm, und der Paketbote hatte Mühe, es hoch in meine Wohnung zu schleppen. Jetzt steht es da in einer Ecke und riecht nach Öl und Metall. Kein Qualitätswerkzeug, sondern ein Massenprodukt. Aber das Messer ist scharf, sehr scharf.

Der erste Versuch: Ich nehme ein Taschenbuch von 300 Seiten aus meinem Bücherregal und spanne es in den Rahmen. Die Guillotine gleitet durch das Papier wie durch Butter und trennt den Rücken vom Buchblock. Ich stecke die losen Blätter in einen schnellen Scanner, der pro Minute zwanzig Doppelseiten einliest. Nach weniger als zehn Minuten taucht der Text auf dem Bildschirm des angeschlossenen Computers wieder auf. Das Papier werfe ich fort, der abgeschnittene Buchrücken wandert in einen Karton. Eine Software zur Texterkennung wandelt die Scans wieder in Buchstabenfolgen um und zaubert sie im letzten Schritt drahtlos auf den Bildschirm meines E-Book-Readers.

Einspannen, abschneiden, einscannen, konvertieren. Wie leicht das war. Kein Widerstand, kein Laut außer dem Schmatzen der Guillotine und dem Surren des Scanners. Beim ersten Hardcover habe ich noch ein mulmiges Gefühl: Ich muss den Einband vom Buch reißen, bevor ich es auf die Guillotine lege. Aber zerstört wird ja nur der Träger, nicht der Text.

Noch am gleichen Tag erlöse ich ein halbes Dutzend weiterer Bücher aus ihrer irdischen Existenz und schicke sie ins virtuelle Jenseits. In meine neue, meine entleibte Bibliothek.

Die Revolution, die ich meine

So geriet ich unter die Revolutionäre. Aber nicht aus Neigung, sondern aus Neugier. Ich habe beschlossen, meine Bibliothek innerhalb eines Jahres bis auf ein Buch aufzulösen, zu verschenken, zu spenden - oder eben einzuscannen.

Die Revolution, die ich meine, hat ja längst begonnen: Das Buch ist tot, es lebe das E-Book, tönt es immer wieder aus Internetforen und Blogs. Letztes Jahr sind ein Million Neurerscheinungen auf den Markt gekommen, darunter immer mehr E-Books. Der Internet-Buchhändler Amazon verkaufte letztes Jahr in den USA schon mehr elektronische als gedruckte Bücher.

Auch auf der Frankfurter Buchmesse wird das gute alte Buch nun nicht nur von E-Books zunehmend Konkurrenz bekommen. Auch die lustigerweise „Non-Books“ genannte Abteilung wird wieder gewachsen sein, in der es um das Geschäft mit den „Nichtbüchern“ geht – all dem Lesezeichen-, Duftkissen- und Briefbeschwerer-Nippes, der in den Filialen der Buchhändlerketten die schwindenden Absätze im Traditionsgeschäft ausgleichen soll.

Die Guillotine

Aber mich interessieren weniger Statistiken und Branchenzahlen. Ich will wissen, wie sich für uns Leser die Welt von morgen anfühlt, wenn gedruckte Bücher so selten sein werden wie heute Telefonzellen. Bei Zeitungen und Magazinen haben wir uns schon dran gewöhnt, Artikel online zu lesen. Aber Romane, Gedichte, dicke Wälzer? Wie fühlt sich das an, wenn man auf einmal mehr Hemden im Schrank hat als Bücher an der Wand? Das Verschenken ist leicht. Bücher gibt man gerne weiter, Bücher scheinen gerade zum Teilen erfunden worden zu sein. Bei E-Books würde der gleiche Vorgang gleich wieder eine Diskussion unter Buchbranchenvertretern über digitales Rechtemanagement auslösen.

Die zweite Möglichkeit: Spenden. Um meinen Soll zu erfüllen, stelle ich mich einmal pro Woche mit einem Karton vor die Bücherregale und suche mindestens zehn Bände heraus, die ich bei Oxfam abgebe. Als Buchjunky auf Entzug habe ich mir strenge Regeln für die Übergabe verordnet: Ich gebe meine Spende ab, ohne das Bücherregal im Laden zu beachten. Die Versuchung zum Impulskauf wäre zu groß.

Und schließlich: die Guillotine. Vor ein paar Monaten habe ich damit angefangen. Zuerst heimlich. Das Bücherzerschneiden, fürchtete ich, gilt unter Bildungsbürgern als Frevel. Die Bibliothek aus Papier und Tinte gehört da zum guten Ton. Dann offenbarte ich mich einem guten Freund. Das hier ist mein Coming-out.

Bald entdeckte ich Gleichgesinnte. Im Internet fand ich Foren von Scan-Aktivisten, die ihre Erfahrungen beim Digitalisieren von Büchern austauschen. Professionelle Buchscanner kosten mehrere tausend Euro. Aber auf Webseiten wie diybookscanner.org gibt es Baupläne zum Selberbasteln. Mit kostenloser Software wie dem Programm „calibre“ kann man die eingelesenen Daten dann ins passende E-Book-Format umwandeln.

Ich kaufte für 150 Euro Holzleisten, Schrauben und eine Plexiglasplatte im Baumarkt und baute daraus mit einer alten Digitalkamera meinen ersten Buchscanner. Wohlgemerkt: zum Eigenbedarf. Ich scanne nur Bücher, die ich auch bezahlt habe und stelle sie auch nicht auf Tauschbörsen ein.

Das Billy-Regal

Wer verstehen will, wie schnell sich die Buchkultur verändert, muss sich nur die Regalhersteller anschauen. Der IKEA-Katalog ist ja das verlässlichste Kursbuch gesellschaftlichen Wandels. Und IKEA hat seit kurzem das „Billy“, also den Klassiker aller Buchregale, in einer tieferen Version im Programm. Einer Version für Leute, die keine gedruckten Bücher mehr haben, sondern Vasen, Designobjekte und anderen Krimskrams.

Ich habe nichts gegen Bücher. Wenn Sie das glauben, unterliegen Sie einem Missverständnis. Im Gegenteil, ich lese gern und viel: Sachbücher, Belletristik, Thriller, Gedichte, was mir unter die Finger kommt. Ich liebe meine Bibliothek. Aber ich lege keinen Wert darauf, vor Lederbänden fotografiert zu werden. Die bürgerliche Buchtapete kenne ich aus meiner Kindheit. Auf den Regalen meines Vaters stehen noch immer Enzyklopädien, Kunstbände, Briefeditionen von Goethe bis Adenauer. In keines dieser Bücher hat er je hineingeschaut. Dafür hat er jeden Abend mit Hingabe Kriminalromane gelesen. Die standen in der zweiten Reihe, hinter den Lederbänden versteckt.

Auch bei mir stehen die Bücher in zwei Reihen, aber aus Platznot. Irgendwann sind es in den letzten 30 Jahren einfach zu viele geworden. Sie verstopfen die Regale, lagern im Keller und werden bei jedem Umzug ein-, aus- und umgepackt. Aber nicht gelesen. Im richtigen Moment liegt das richtige Buch immer irgendwo in der hintersten Kellerecke.

Die Verlegerin Inge Feltrinelli hat berichtet, dass Umberto Eco über 30.000 Bände in seiner Mailänder Wohnung hortet und mit Gleichgesinnten einen Zirkel von Bibliophilen gegründet hat. Ich wette, er hat eine eigene Bibliothekarin engagiert, die ihm die Bücher alphabetisch ordnet. Mit Ecos Sammelwut kann ich nicht mithalten, und meine chaotische Buchsammlung gleicht eher dem Labyrinth der Klosterbibliothek, die Eco in Der Name der Rose beschreibt. Auf halsbrecherische Weise übereinander gebaute Billy-Regale türmen sich im Flur unserer Wohnung 3,40 Meter hoch bis zur Decke. Ich habe gezählt: neun Regale, jedes hat zehn Fächer mit ungefähr 50 Büchern in zwei Reihen. Das macht rund 4.500 Bücher. Selbst wenn ich die alle lesen würde, müssen sie unbedingt auf dem Regal sitzen?

Prachtexemplare

Auf meinen E-Book-Reader passen bis zu 3.000 Bücher. Im Bett ist es besonders bequem, das leichte Ding in der Hand zu halten. Dank der elektronischen Tinte hat man auch nicht das Gefühl, auf einen Bildschirm zu starren. Sogar in der Badewanne kann ich damit lesen – ein verschließbarer Gefrierbeutel, in den ich das Gerät stecke, macht es möglich. Als erstes lese ich die Originalausgabe von Jonathan Steinbergs grandioser Bismarck-Biografie. Auf deutsch ist sie da noch gar nicht erschienen, und das gedruckte Buch hätte mit der Post zwei Wochen von den USA aus gebraucht. Als nächstes nehme ich mir Banesh Hoffmanns Einstein-Buch vor, das ich gerade eingescannt habe. Meine Taschenbuchausgabe hatte nicht mal ein Register, aber im E-Reader kann ich den Volltext und sogar auf das eingebaute Wörterbuch zugreifen.

Dann stehe ich wieder an der Guillotine. In der Zeit, in der Sie diesen Text lesen, kann ich drei Bücher enthaupten und meiner virtuellen Bibliothek einverleiben. Es ist mir egal, ob Sie mich für einen digitalen Jakobiner halten: Das ancien régime des Buchdrucks liegt nach einem halben Jahrtausend in den letzten Zügen. Natürlich wird es nie endgültig verschwinden. Es werden sich immer noch hier und da schöne Prachtexemplare von Büchern finden, alte Inkunabeln und bedeutende Zeugnisse der Druckerkunst werden überleben. Das Versailler Schloss steht schließlich auch noch. Aber regiert wird von dort aus schon lange nicht mehr. Die Verlage versuchen, sich auf den radikalen Wandel einzustellen; manche schneller, manche langsamer. Keine Idee scheint zu verrückt, um das gute alte Buch aus Pappe und Papier weiterhin unter die Nochleser zu bringen. Der Goldmann-Verlag verteilt Leseproben von Tahereh Mafis Roman Ich fürchte mich an Kinokassen in 30 Großstädten (Motto: „Persönliche Übergabe an die Zielgruppe“). Dem Suhrkamp-Verlag gelingt sogar das Kunststück, leere Bücher zu verkaufen: Für 7,99 Euro kann man Notizbücher im Design der legendären Suhrkamp-Reihen erstehen.

Aber noch sind die meisten Bücher nicht elektronisch erhältlich, und der technologische Wandel favorisiert erst einmal Massenware. Kein Wunder, dass ein Buch wie 50 Shades of Grey ganz oben auf den Bestsellerlisten steht. Die Sadomaso-Schmonzette ist vor allem deshalb als E-Book so beliebt, weil keiner sieht, was man gerade auf seinem Kindle liest. Für digitale Josefine Mutzenbachers ist das E-Book also wie gemacht: Hardcore schlägt Hardcover.

Wie bei den Taschenbüchern

Aber meine sechsbändige Schopenhauer-Ausgabe, nach dem Ersten Weltkrieg auf billigem Nachkriegspapier gedruckt und von Fans wie Thomas Mann geschätzt, gibt es nicht als E-Book. Anspruchsvolles in digitaler Form findet man heute selten, jedenfalls auf dem deutschen Buchmarkt, der noch immer von antidigitaler Bedenkenträgerei geprägt ist. Raubkopien, Urheberrechtsverletzungen, Copy-and-Paste statt Copyright: alles immer noch ein Kulturschock für die Mitglieder des gediegenen Börsenvereins des deutschen Buchhandels. Für Hanser-Verleger Michael Krüger, den großen alten Mann der Buchbranche, stellt das E-Book den „Triumph der Entsinnlichung“ dar, und das iPad ist für ihn schlicht eine der „Zerstreuungen des Netzteufels“.

Fortschrittsverächter gibt es auch unter Schriftstellern. Auf einem Literaturfestival verkündete Jonathan Franzen unlängst, er möge E-Books nicht. Das gedruckte Buch sei doch eine tolle Technologie: „Jemand hat wirklich hart gearbeitet, um die Sprache genau so hinzubekommen, wie es gewollt war. Man war so überzeugt davon, dass man es mit Tinte gedruckt hat, aus Papier. Ein Bildschirm fühlt sich immer so an, als könnte man dieses löschen, jenes verändern oder verschieben. Für einen Literaturnarr wie mich ist das einfach nicht beständig genug.“ Seine Romane verkauft Franzen aber natürlich auch als E-Books, und das glänzend.

Vor 50 Jahren lästerten viele genau so über die Taschenbücher, die ich jetzt täglich zerschneide und einscanne, wie Franzen heute über E-Books. Als Penguin in den dreißiger Jahren und später Rowohlt mit den ersten Rotationsromanen rauskamen, galt das Taschenbuch als billig, unbeständig, einfach nicht so schön anzufassen wie ein Hardcover. Und heute wird es als unersetzlicher Bestandteil der Buchkultur verteidigt? Wie oberflächlich ist es eigentlich, einen Roman oder eine Gedichtsammlung danach zu beurteilen, wie sich das Material anfühlt, auf dem sie gedruckt sind? Würden die Bücher von Rosamunde Pilcher oder Konsalik kulturell wertvoller, wenn man sie in feinen Lederbänden herausbringen würde? Das ist letztendlich eine Liebhaberfrage. Selbst der Chef des Grolier Club in New York, der ältesten Vereinigung von Buchliebhabern in Amerika, hat kein Problem mit E-Books: Selbst wenn von heute an nie wieder ein Buch veröffentlicht würde, glaubt Eric Holzenberg, gäbe es auch in den nächsten 200 Jahren noch genug Futter für Buchsammler: „Aber jetzt kann jeder sich selbst entscheiden: Sie können sich ihren Text digital oder physisch besorgen, und dann setzt automatisch die Debatte ein, was wichtiger ist: der Text als Elektronen oder als physisches Objekt“.

Das Entscheidende beim Lesen bleibt das Lesen, nicht das Buch. Das wusste schon Marcel Proust, der sich in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit darüber ärgerte, dass in den viel gelesenen Zeitungen nur der neueste Klatsch über die Herzogin von Guermantes stand, Pascals philosophische Gedanken aber in den ungelesenen Lederbänden im Regal versauerten. Wäre es nicht viel besser, fantasierte Proust, wenn Pascal in der Zeitung stünde und der Klatsch im Regal?

Ich hole mir jetzt meine ungelesenen Bücher aus dem Regal und die ungelesenen Texte aus den Büchern und habe sie dann immer zur Verfügung. Wenn ich nun im Café statt der Tageszeitung Proust oder Pascal oder Franzen lesen möchte, greife ich einfach zu meinem Kindle. Meine Bibliothek habe ich immer dabei, und dazu noch tausend andere, von denen ein Jorge Luis Borges nur hätte träumen können. Das ist nicht Zerstreuung, das ist das wahre Leseglück.