Der Glaube an den Rechtsstaat ist auf der Strecke geblieben

Von Karin Götz

Von einem Tag auf den anderen bricht die Welt einer Kleinbottwarer Familie zusammen - Amtsgericht Besigheim entzieht den Eltern die Personensorge, ohne ein Fachgutachten

Menschen schwören sich ewige Liebe, gründen eine Familie und schweben auf einer rosaroten Wolke in die gemeinsame Zukunft. Der Traum vom großen Glück ist zum Greifen nah. Auch für Thomas S. (Name der Redaktion bekannt), als er 1995 vor den Traualtar tritt und im selben Jahr Tochter Sabine (Name der Kinder geändert) geboren wird. Drei Jahre später kommt Sohn Stefan zur Welt, fünf Jahre später macht Nesthäkchen Simon das Glück perfekt. Doch die heile Welt beginnt schon bald zu bröckeln und geht im Dezember 2007 vollends zu Bruch, als seine Frau ihm erklärt, dass sie sich von ihm trennen möchte. Das Paar einigt sich darauf, weiter gemeinsam im Haus in Kleinbottwar zu wohnen - allerdings in getrennten Bereichen. Vor dem Familiengericht Besigheim verständigen sich die beiden auf eine Umgangsregelung: Montags und dienstags liegt die Verantwortung für die Kinder bei der Mutter, donnerstags und freitags beim Vater. Den Mittwoch und das Wochenende will sich das Paar im 14-tägigen Wechsel teilen.

Doch die Absprache funktioniert nicht. Die Kinder berichten dem Vater von lautstarken Auseinandersetzungen und von Gewaltausbrüchen der Mutter. Die Situation spitzt sich zu. Am 7. April 2008 schlägt die Mutter der 13-jährigen Sabine im Streit ein blaues Auge - sagt die Tochter. Das Hämatom unterhalb des linken Auges hat sich der Teenager selbst zugefügt - sagt die Mutter. Thomas S. ist verzweifelt und hilflos. "Ich selbst war nie dabei, aber die Situation ist immer wieder so eskaliert, dass sowohl die Kinder als auch meine Frau die Polizei riefen."

Sabine, Stefan und Simon wenden sich immer mehr von ihrer Mutter ab. Machen deutlich, dass sie beim Vater bleiben und auf keinen Fall voneinander getrennt werden wollen. Auch in Anhörungen vor Gericht. Mit einer räumlichen Trennung könnten sich die Wogen glätten, hofft Thomas S. und bietet seiner Frau an, ein in der Nachbarschaft frei werdendes Haus zu kaufen, um wenn schon nicht unter einem Dach, dann doch nur ein paar Meter voneinander entfernt zu leben. "Aber meine Frau hielt davon nichts."

Die Auseinandersetzung um das Sorgerecht beginnt. Eine Auseinandersetzung, wie sie tausendfach geführt wird. Eine Auseinandersetzung, bei der meist die Kinder die Verlierer sind. In der Sorgerechtssache macht der beim Amtsgericht Besigheim zuständige Richter alle zu Verlierern. Er setzt eine Verfahrenspflegerin als "Anwältin der Kinder" ein, zu der die Geschwister keinen Draht finden. Mehr noch: Sie misstrauen ihr. Hinterfragen ihre Neutralität. Sehen sie an der Seite der Mutter stehen.

Thomas S. hat wenig Kontakt zu der Sozialpädagogin. "Sie kam in der Regel nur, wenn man sie angerufen hat, weil es Schwierigkeiten gab, und die hatten meine Kinder und ich nicht." Mit dem Bericht, den die Verfahrenspflegerin schließlich dem Gericht vorlegt, beginnt für die Familie ein nicht enden wollender Albtraum. Stefan und Simon sollen zur Mutter, Sabine - da ihr Verhältnis zur Mutter zu zerrüttet ist - zum Vater, so der Vorschlag der Kirchbergerin.

Doch die Parteien können sich nicht einigen. Mit Beschluss vom 18. Juni entzieht das Familiengericht den Eltern die Personensorge für ihre Kinder und überträgt sie auf den Fachbereich Sozial- und Jugendhilfe im Landratsamt Ludwigsburg. Das seelische Wohl der Kinder sei gefährdet, heißt es in der Begründung des Gerichtes. Die Mutter sei der gegenwärtigen Situation nicht mehr gewachsen und neige zu unüberlegten Handlungen. Es fehle ihr an der notwendigen Besonnenheit. Der Vater versuche, die Kinder von der Mutter zu entfremden. In Situationen, in denen die Kinder die Mutter beleidigen, schreite er nicht aktiv ein. Das Gericht stützt sich auf das von der Verfahrenspflegerin diagnostizierte Parental Alienation Syndrome (PAS). Eine in wissenschaftlichen Fachkreisen höchst umstrittene Diagnose, die einer eingehenden Begutachtung der betroffenen Kinder und ihres Umfelds durch einen Experten bedarf. Dass eine solche Fachausbildung der Verfahrenspflegerin jedoch fehlt, spielt für den Familienrichter keine Rolle.

Der Gerichtsbeschluss wird Thomas S. am 19. Juni zugestellt. Die Kinder sind in der Schule, der 43-Jährige arbeitet an diesem Tag nicht im Büro zuhause, sondern in seiner Firma. "Der Gerichtsvollzieher sagte mir am Telefon, dass er die Kinder aus der Schule abgeholt hat und der entsprechende Beschluss in meinem Briefkasten zuhause ist", erinnert er sich. Das Prekäre an der Situation: Besagter Gerichtsvollzieher ist der Fußballtrainer von Stefan. Eine Person, der die Kinder vertrauen. Nur eine von vielen Ungereimtheiten im Fall S.. Begleitet wird Stefans Trainer von einem Vormund - einer Mitarbeiterin des Landratsamtes.

Die Kinder werden die Erinnerungen an den 19. Juni ihr Leben lang belasten. Ohne Vorwarnung werden Sabine, Stefan und Simon aus dem Unterricht gerissen. "Ich hab' gerade eine Grammatikarbeit geschrieben, als plötzlich die Tür aufging und ich herausgerufen worden bin. Es ging alles ganz schnell", erzählt Stefan mit leiser Stimme. Wenig später gerät auch Sabines Welt aus den Fugen. "Mir wurde gesagt, dass meine Brüder schon abgeholt worden sind und wir alle in ein Heim kommen. Ich wollte Papa anrufen, aber das durfte ich nicht. Es war furchtbar", erinnert sich die 13-Jährige und schaut Hilfe suchend zu ihren Brüdern.

Thomas S. setzt sich sofort ins Auto und nimmt Kontakt mit seinem Anwalt auf. Dass der Jurist die Aktion als "unangemessen" bewertet, hilft dem aufgewühlten Vater nicht weiter. "Ich hatte gehofft, dass die Kinder, so wie sie es sich gewünscht haben, bei mir bleiben dürfen. Und ich habe mich einfach nur hilflos gefühlt." Ein Gefühl, das sich in den darauf folgenden Stunden mit Wut, Trauer und Hoffnungslosigkeit vermischt. Denn dass seine Kinder in die Evangelische Jugendhilfe Hochdorf gebracht werden, erfährt Thomas S. erst, als der Vormund und der Gerichtsvollzieher Stunden später Kleider und persönliche Gegenstände der Kinder abholen. Die Mitarbeiterin des Landratsamtes versichert dem verzweifelten Vater, dass die Kinder gut untergebracht sind. "Sie sagte mir, dass sie psychologisch betreut werden - aber das stimmte nicht. Sie hat mich bewusst angelogen ", ist er sich sicher.

Am nächsten Tag kann Thomas S. das erste Mal mit Sabine, Stefan und Simon sprechen. Der Kontakt ist genau geregelt. Täglich eine halbe Stunde lang darf telefoniert werden. So sehr sich die Kinder auf diese Minuten, die ihnen Kraft zum Durchhalten geben, freuen, so sehr fühlen sie sich dabei wie in einem Gefängnis. Denn während der Gespräche ist immer ein Mitarbeiter des Heimes mit im Zimmer. Nach zwei Wochen wird der Kontakt eingeschränkt. Nur noch zwei Mal in der Woche dürfen die Drei beim Vater anrufen. Nach einer Viertelstunde müssen sie das Gespräch beenden. Aus Zeitgründen seien häufigere Telefonate nicht mehr zu stemmen, wird Thomas S. von der Heimleitung als Begründung mitgeteilt.

Besuchen darf der 43-Jährige seine Kinder einmal pro Woche. Aber auch in dieser Stunde sind die Vier nicht allein. Begleitender Umgang wird die Regelung genannt. "Wir haben miteinander gespielt, uns aneinander gekuschelt oder sind spazieren gegangen - immer mit jemandem im Nacken, der uns in zwei Meter Abstand gefolgt ist." Thomas S. fühlt sich wie ein Schwerverbrecher. Den Kindern nimmt das Heim die Luft zum Atmen. Sie fühlen sich eingesperrt, misstrauen jedem, kapseln sich von ihrer Umwelt ab. Einzig und allein die Anwesenheit der Geschwister gibt Halt. Obwohl jeder sein eigenes Bett hat, klammern sich die Drei in den Nächten in einem Bett aneinander. Simon beginnt wieder einzunässen, Sabine und Stefan werden aggressiv. Die zugesagte psychologische Beratung gibt es nicht.

Thomas S. ist verzweifelt. "Meinen Anträgen auf eine psychologische Betreuung wurde nicht entsprochen." In mehr als 150 Briefen an den Vater versuchen die Kinder Antworten auf ihre Fragen zu bekommen, um das Unfassbare zu begreifen. Der Inhalt ist stets derselbe: "Warum sind wir hier? Hol' uns raus aus dem Gefängnis." Mit jedem Hilfeschrei, den Thomas S. erreicht, wird die Last noch schwerer.

Eine Zusammenarbeit zum Wohl der Kinder mit Vormund und Heim scheint nicht möglich. Als Stefan am 9. September zehn Jahre alt wird, fährt Thomas S. nach Hochdorf. Als Sohn Simon drei Tage später acht Jahre alt wird, bittet er um ein weiteres Besuchsrecht. Doch der Bitte wird "aus organisatorischen Gründen" nicht entsprochen.

Die Großeltern dürfen ihre Enkel in all der Zeit weder sehen noch sprechen. Ihr Antrag auf Umgangsrecht bleibt erfolglos. Auch der CDU-Landtagsabgeordnete und Murrer Bürgermeister Manfred Hollenbach kann nichts für sie erreichen. Helga und Ewald S. geht es von Tag zu Tag schlechter. Ohne Antidepressiva können sie ihren Alltag nicht bewältigen. Als die Kinder mit den Erziehern aus dem Heim für ein paar Tage an den Ammersee fahren, setzen sich die Großeltern ins Auto, um die Enkel wenigstens aus der Ferne zu sehen. Doch auch dies ist nicht erlaubt. Helga und Ewald S. werden von den Erziehern nachhause geschickt. Für Sabine, Stefan und Simon hat die Freizeit ein jähes Ende. Die Drei werden ins Auto gesteckt und zurück nach Ludwigsburg gebracht. Wohin, das wird dem Vater nicht gesagt. Und so fährt Thomas S. in seiner Verzweiflung zig Einrichtungen ab. Als er an der Karlshöhe Ludwigsburg vorbeifährt, entdeckt er seine Kinder zufällig am Fenster und ist erleichtert. "Ich wusste wenigstens, wo sie sind."

Gegen die Entscheidung des Amtsgerichtes Besigheimes hat Thomas S. über seine Anwältin bereits zwei Wochen nach der Herausnahme der Kinder beim Oberlandesgericht Beschwerde eingelegt, eine Korrektur des Beschlusses im Eilverfahren und die Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge beantragt. Das Oberlandesgericht zeigt dem Kollegen in Besigheim die rote Karte: Das Amtsgericht hätte aufgrund der Stellungnahme einer Verfahrenspflegerin ohne entsprechende Ausbildung die Kinder nicht in ein Heim geben dürfen. Der Senat holt das Versäumte nach und fordert ein kinderpsychologisches Gutachten ein, das laut Beschluss zeitnah vorliegen soll. Fünf Monate später, am 11. Dezember, liegt die schriftliche Stellungnahme einer Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie vor. Jene Expertenmeinung, auf das das Amtsgericht in Besigheim verzichtet hat.

Die Gutachterin kommt nach Gesprächen mit den Kindern und den Eltern zu dem Schluss, dass sowohl Mutter als auch Vater uneingeschränkt erziehungsgeeignet sind, zu Thomas S. jedoch engere Bindungen bestehen. Er vermittele einen höheren Grad an Sicherheit und Zuverlässigkeit. Dem Wohl der Kinder entspreche es, wenn sie in der Obhut des Vaters bleiben. Der eingelegten Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichtes wird stattgegeben. Doch das Landratsamt bleibt sich treu. Das Umgangsrecht wird nicht gelockert. Auch über die Weihnachtsfeiertage gibt es keine Ausnahmeregelung. Eine Stunde dürfen die Vier an Heiligabend zusammen verbringen - im Heim.

Endgültig vorbei ist der Albtraum am 6. Februar. Um 12.30 Uhr erreicht Thomas S. ein Fax seiner Anwältin, in dem steht, dass er seine Kinder im Heim abholen kann. Die folgenden Stunden erlebt der 43-Jährige wie in Trance. "Wir sind uns einfach nur in den Armen gelegen, haben uns festgehalten und Weihnachten gefeiert. Den Baum, den wir dann zusammen schmückten, hatte ich für diesen Moment die ganze Zeit über im Garten bereitgestellt, und die Geschenke wollten die Kinder erst haben, wenn sie wieder zuhause sind." Am Abend zündet der Vater dann ein kleines Feuerwerk.

Die Eingewöhnung in den Alltag versucht Thomas S. seinen Kindern so leicht wie möglich zu machen. "Ich habe mit der Schule und den Verantwortlichen vereinbart, dass das Ganze nicht thematisiert wird und es hat eigentlich auch alles ganz gut geklappt." Dass Zeit jedoch längst nicht alle Wunden heilt, ist aber auch Thomas S. klar. "Totschweigen wäre nicht der richtige Weg, deshalb sind wir als Familie auch in psychologischer Betreuung." Eine gemeinsame Kur in den Pfingstferien soll darüber hinaus helfen, das Erlebte zu verarbeiten und ein Stückchen Unbeschwertheit zurück zu bekommen.

Unbeschwertheit, die auch Thomas S. verloren gegangen ist. "Ich bin nicht mehr der, der ich einmal war. Und ich habe meinen Glauben an den Rechtsstaat und an die Gesellschaft verloren, denn in unserer Gesellschaft, ist die Rolle der Mutter unantastbar."

Die Einrichtung der Jugendhilfe Hochdorf nimmt zum Fall S. keine Stellung. Ebenso wie das Landratsamt. Auch die Anfrage, wie das Besuchsrecht grundsätzlich gestaltet werden kann und wie groß der Spielraum der Behörde in vergleichbaren Fällen ist, bleibt unbeantwortet.

Marbacher Zeitung vom 09.05.2009