„Desinformation tötet“

Warum Journalismus viel mehr ist als ein Beruf – Gedanken zum Tag der Pressefreiheit

Der bekannte Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen (Eberhard Karls Universität Tübingen) hat exklusiv für die Zeitungen in Deutschland einen Essay über die Gefahr von Fake-News verfasst.

Bernhard Pörksen
privat

Manchmal, in dunklen, pessimistischen Momenten, denke ich: Was muss eigentlich noch passieren, bevor eine lethargische Bildungspolitik – trotz des Desinformationsgewitters der Gegenwart – aus ihrem Tiefschlaf erwacht? Was braucht es, bevor die Medienpädagogik ihr oft anspruchsloses, verdruckst-opportunistisches Herumgefloskel über irgendwelche Digitalkompetenzen einstellt und endlich zu einer klaren Sprache findet? Und was muss geschehen, bevor die offene Gesellschaft begreift, dass sie mit ihrer Weigerung, Medienbildung mit normativer Entschiedenheit zu betreiben, sehenden Auges ihre eigenen Grundlagen zerstört?

Nach den Pro-Brexit-Feldzügen, dem Wahlsieg Donald Trumps mit Hilfe von Putins Trollen, nach der Pandemie-Infodemie und im Gewirbel der Fake-News zum Ukraine-Krieg sind drei Befunde unabweisbar. Erstens destabilisiert die systematische Verschmutzung der Informationskreisläufe überall auf der Welt Demokratien und verleiht Antiliberalen Auftrieb, wie zahlreiche Studien im Detail zeigen. Zweitens sind die asymmetrischen Wahrheitskriege skrupelloser Populisten im Verbund mit den Fehlanreizen der sozialen Netzwerke – Dissens schüren, aufpeitschen, emotionalisieren – geeignet, die Fähigkeit von Politik und Gesellschaft zu untergraben, aktuelle Großkrisen zu lösen. Denn diese Krisen (man denke beispielhaft an den Klimawandel) setzen einen basalen Realitätskonsens, einen gemeinsamen Fokus und ein Denken in der langen Linie voraus. Wenig ist also gerade jetzt so nötig wie die Kombination von Konsens, Kompromissfähigkeit, Konzentration und langfristiger Strategiebildung.

Propaganda unterminiert Gesellschaften

Und doch wird genau diese Gesprächs- und Strategiefähigkeit ganzer Gesellschaften im Zusammenspiel von gezielter Propaganda und algorithmischer Plattform-Logik unterminiert. Und drittens ist längst offensichtlich, dass Desinformation tötet, und zwar ganz direkt und unmittelbar. Denn irgendwann greifen die QAnon-Spinner zu den Waffen oder stürmen das Kapitol. Irgendwann schießen die Reichsbürger um sich. Und nur mal nebenbei: Durchschnittlich 40 Minuten nach der Installation der TikTok-App sind die Userinnen und User das erste Mal mit Falschmeldungen und russischer Propaganda aus dem Ukraine-Krieg konfrontiert. Sie sehen Video-Fakes, aber natürlich auch viele authentische Bilder des Schreckens, Explosionen, Erschießungen. TikTok liefert aktuell hoch emotionales Echtzeit-Fernsehen im Schnipsel-Format für junge Menschen, ein Mischprogramm aus Lüge, Wahrheit und Gewalt, ungefiltert, ohne klärende Einordnung.

Was folgt aus all dem? Muss man den Kampf gegen Desinformation verloren geben? Ich denke nicht. Was mir Hoffnung macht: Es zeichnet sich, von der Öffentlichkeit noch weitgehend unbemerkt, seit ein paar Jahren eine Art Graswurzelrevolution der Medienbildung ab, die aus dem Journalismus kommt. Seit 2019, so berichtet beispielsweise der Verein „Journalismus macht Schule“, war man in Tausenden von Schulen überall in Deutschland. Es gab Schüler- und Lehrermedientage, Online-Workshops, Podcasts, Medien-Projekte und Lehrer-Fortbildungen und Seminare an Volkshochschulen und Unis in gewaltiger Zahl. Dabei sind jede Menge neue, faszinierende Initiativen und Kooperationen entstanden – zwischen regionalen und überregionalen Zeitungen und dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk, den verschiedensten Stiftungen, Bildungseinrichtungen und Medienhäusern. Viele prominente Journalistinnen und Journalisten machen mit, engagierte Lehrerinnen und Lehrer sind dabei, einfach so, oft in ihrer Freizeit, ehrenamtlich. Auch heute, am Tag der internationalen Pressefreiheit, finden verschiedenste Veranstaltungen statt.

Die Grundidee dieser Medienbildungsoffensive von unten ist bestechend einfach. Sie besagt: Journalismus ist viel mehr als ein Beruf. Denn in den journalistischen Idealen und Maximen – „Prüfe erst, publiziere später!“, „Analysiere Deine Quellen!“, „Höre auch die andere Seite!“, „Orientiere Dich an Relevanz und Proportionalität!“, „Sei skeptisch!“ – liegt eine konkrete Kommunikationsethik, die heute alle angeht. Natürlich gibt es auch schlechten Journalismus, Herden- und Meutenverhalten, doofes Clickbaiting, sinnlose Skandalisierung, klar. Aber in der Kenntnis der basalen journalistischen Regeln der Informations- und Quellenprüfung steckt tatsächlich eine Chance. Hier sind die Anfänge einer praktischen Utopie zu entdecken. Hier findet sich ein Ausweg aus dem Desinformationsspektakel in Richtung einer redaktionellen Gesellschaft von Bürgerinnen und Bürgern, die medienmächtig sind und medienmündig.

Ist damit alles gelöst? Gewiss nicht. Denn noch fehlen erprobte Konzepte der Plattformregulierung, die einerseits die Kommunikationsfreiheit und den Mündigkeitsgedanken schützen, aber es andererseits erlauben, Hassrede und Falschnachrichten wirklich massiv zu begrenzen. Noch fehlt die effektive Handhabe im Umgang mit professionellen Bullshittern, Spin-Doktoren oder auch Spin-Diktatoren, die ihr eigenes Volk mit einer Kombination aus Propaganda und Terror in eine riesenhafte Sekte verwandeln wollen, eine Gemeinschaft der fanatisiert Gläubigen, die entweder auf Bestellung jubeln oder nach ein paar Schauprozessen in einer Gefängniszelle zum Schweigen gebracht werden.

Schärfere Gegenwehr der offenen Gesellschaft nötig

Ja, es stimmt: Die gewaltigen Desinformationskosten, die in den letzten Jahren offensichtlich geworden sind, erfordern eine entschiedenere, schärfere Gegenwehr der offenen Gesellschaft. Und die Gewaltaufrufe in den Katakomben der Telegram-Kanäle müssen mit anderer Härte und Geschwindigkeit verfolgt werden. Aber im Akt der Bekämpfung von Desinformation verteidigt eine Demokratie immer auch ihre eigene Würde und ihre eigenen Werte. Sie muss also schon in der Art der Auseinandersetzung zeigen, dass sie den Aufklärungsgedanken nicht verloren gibt. Und eben darin liegt die eigentümliche Schönheit jeder Bildungsidee: Sie setzt bis zum absolut endgültigen Beweis des Gegenteils auf das bessere Argument, die Kraft des Diskurses.

Was bleibt also anderes als auf die Mündigkeit des Einzelnen und die Stärkung der Urteilskraft zu vertrauen, die in den Schulen trainiert werden muss, aber eben nicht nur hier? Aus meiner Sicht wäre es, auch jenseits der Schulgebäude, lange schon ein Gebot der Stunde, ein großes Gespräch über publizistische Maßstäbe und die Schulung der Urteilskraft zu initiieren. Es wäre ein Austausch und eine Debatte, die auch dem Journalismus nützen könnte und die eine bestenfalls verschlafene Bildungspolitik inspiriert; diese braucht – jenseits einer bloß naiv-modischen Technikfaszination und des allgemeinen Digi-Blabla – dringend normative Klarheit.

Vielleicht haben Sie, liebe Leserin, lieber Leser, also Lust, am Tag der Pressefreiheit mit ein paar Menschen Ihrer Wahl über die neuartige Macht der Propaganda, den Wert des unabhängigen Journalismus und die besten Wege zur Medienmündigkeit zu debattieren? Damit wäre viel gewonnen, denke ich. Die Idee der redaktionellen Gesellschaft wäre dann, und sei es nur für einen Tag, ein Stück gelebter Wirklichkeit.