Industrialisierte Kreativität: Was KI in Redaktionen verändert
Markus Knall über die Transformation der Redaktion durch Künstliche Intelligenz
Künstliche Intelligenz verändert nicht nur die Arbeitsabläufe in der Redaktion. Sie verändert die grundlegende Logik der redaktionellen Produktion. Mit diesem Befund hat Markus Knall, Chefredakteur von Ippen.Media, beim Special Chefredaktionen auf der BDZV-Digitalkonferenz beBETA aufhorchen lassen. Seine zentrale These: Generative KI ist die Industrielle Revolution der Geistesarbeiter. Mit fünf Thesen zeigt Markus Knall die weitreichenden Folgen für Produktion, Prozesse, Inhalte und Führungsverständnis in Redaktionen.

Knalls Vortrag war Teil des Specials Chefredaktionen zum Thema „Deep Dive KI“, gemeinsam mit Stephanie von Unruh, Helene Pawlitzki und Thomas Höppner. Die zentrale Frage: Was gewinnt, was geht verloren, wenn Medienhäuser KI einsetzen? Knalls klare Antwort: Die Medienhäuser gewinnen, die die Chancen erkennen und jetzt handeln. Seine Thesen:
1. Generative KI industrialisiert Wissensarbeit
Was bisher als kreativer Kern journalistischer Tätigkeit galt – Konzepte entwerfen, Zusammenhänge erklären, nuanciert und zielgerichtet kommunizieren – wird zunehmend von Maschinen unterstützt. Knall nennt es „das Fließband des Journalismus“. KI wirkt auf alle Stufen der Wertschöpfung: von Newsgathering über Produktion bis Distribution. Besonders die Produktion gerät unter Druck – künftig zählt nicht mehr primär, was produziert wird, sondern wie effizient und für wen.
„Journalismus bleibt der Kern dessen, was wir tun. Aber die Wertschöpfungskette verschiebt sich grundlegend.“
Für Redaktionen bedeutet das: Sie müssen arbeitsteiliger, schneller – und skalierbarer werden. Wer Inhalte nicht nur erstellt, sondern KI-gestützt orchestriert, wird zum Redaktionsarchitekten.
2. Reversioning als Schlüssel zu individualisiertem Content
KI kann Inhalte nicht nur generieren, sondern auch transformieren. Sie kann Inhalte in Echtzeit für unterschiedliche Zielgruppen anpassen. Knall nennt das „Reversioning“: Aus einem Ursprungsartikel entstehen viele Varianten - in einfacher Sprache, im Dialekt, gegendert, emotional eingefärbt oder markenspezifisch angepasst.
„Der Leser kann künftig selbst wählen, in welchem Stil oder Ton er einen Text konsumieren möchte.“
Damit wird Journalismus personalisierbar, ohne dass Inhalte neu geschrieben werden müssen. Medienhäuser können Inhalte für kleine Zielgruppen und Communitys aufbereiten – und erstmals mit minimalem Aufwand massenhaft differenzieren.
3. Agentische KI schafft neue Rollen und Prozesse
Ein großer Umbruch betrifft die Organisationslogik von Redaktionen. Statt Tools, die auf Kommando arbeiten, setzen Häuser wie Ippen.Media auf agentische KI: autonome Systeme, die Aufgaben erkennen, Entscheidungen vorbereiten und redaktionelle Prozesse eigenständig steuern.
Newsletter, Visuals, Social-Media-Posts und Artikel entstehen so parallel, orchestriert durch KI-Agenten. Die Folge: Schnellere Abläufe, mehr Output und eine höhere Relevanz für Mikro-Zielgruppen.
„Agentenketten sind das neue Redaktionsgerüst. Sie sind schneller, flexibler – und sie lernen aus ihren Fehlern.“
Am Beispiel des KI-gestützten Newsletters „Einfach Fit!“ zeigt Knall, wie Inhalte – von Artikeln über Grafiken bis zu Social-Media-Posts – automatisiert und nahtlos produziert werden können. Anders als herkömmliche Software folgen diese Systeme aber keinen festen Regeln. Sie lernen ständig dazu – und liefern daher nicht immer dieselben, sondern je nach Situation neue, überraschende Ergebnisse.
4. Nur Netzwerke können das volle KI-Potenzial heben
Der journalistische Einzelkämpfer wird es künftig schwer haben. Knall betont: Die wirtschaftlichen Vorteile von KI lassen sich nur im Verbund realisieren. Skaleneffekte, gemeinsame Trainingsdaten, standardisierte Workflows – all das erfordert Allianzen.
„Einzelne Websites oder Teams profitieren nur begrenzt. Nur Netzwerke können echte KI-Vorteile heben.“
Medienhäuser, die sich zusammenschließen, können spezialisierte KI-Agenten trainieren, Modelle gemeinsam entwickeln und Entwicklungskosten teilen. Wer im Alleingang handelt, bleibt zurück, warnt Knall.
5. KI in Redaktionen braucht ein neues Führungsverständnis
Die vielleicht wichtigste Veränderung betrifft die Rolle der Chefredaktion selbst. In der alten Welt war Führung outputorientiert: planen, kontrollieren, steuern. In der neuen Welt müssen Führungskräfte zwei Welten beherrschen: die regelbasierte (Automatisierung, Stabilität) und die stochastische (Agenten, Kreativität). Knall nennt das „Ambidextrie“: die Fähigkeit, gleichzeitig effizient zu führen und kreativ zu experimentieren.
Dabei müssen Redaktionen laut Knall lernen, mit Unsicherheit zu leben. Wenn dieselbe Frage dreimal gestellt wird, gibt es drei verschiedene KI-Antworten. Wer sich dabei an alten Kontrollmechanismen festklammert, wird ausgebremst, meint der Contentchef von Ippen. Auch die menschliche Kontrolle müsse sich verschieben: Weg vom finalen Durchlesen jedes Textes, hin zur vorverlagerten Verantwortung. KI müsse nicht kontrolliert, sondern richtig gefüttert und gesteuert werden.
„Der Leser hat keine Angst vor KI. Er erwartet, dass wir unsere Verantwortung ernst nehmen – unabhängig davon, mit welchen Mitteln wir arbeiten.“
Fazit: Wer früh einsteigt, setzt Standards
Was Markus Knall beschreibt, ist kein Tool-Trend. KI ist kein Werkzeug, das einfach integriert wird – sie erzwingt einen Kulturwandel. Knall spricht vom „iPhone-Moment“: Es geht um neue Produkte, neue Inhalte, neue Rollen. „Dies ist der Beginn industrieller Kreativität.“ Wer KI auf Effizienz beschränke, verschenke das Potenzial. Wer sie als strategischen Hebel versteht, kann den Journalismus neu gestalten. Für alle anderen bleibe später nur noch das Einsammeln von Effizienzvorteilen. Daher, so sein dringender Rat: Chefredaktionen müssen jetzt in Wissen und Strukturen investieren und damit Standards setzen.