7. Oktober

Von Thorsten Schmitz und Peter Münch

Protokoll zweier Familien, aus Gaza und aus Israel, deren Leben durch den 7. Oktober 2023 verändert wurde.

Familie Abu Khater
privat

Familie Abu Khater

Nor Abu Khater ist Mutter von drei Kindern.
Sie hatte ein Haus in Chan Yunis,
jetzt liegt es in Trümmern, Vater und Cousine sind tot.
Protokoll eines Kriegsjahres in Gaza

Von Peter Münch

Samstagfrüh, 7. Oktober 2023. Tausende Hamas-Terroristen stürmen die Grenzanlagen nach Israel. Sie massakrieren, entführen Geiseln in den Gazastreifen. Und Nor Abu Khater tut, was sie immer frühmorgens tut: Frühstück für die Kinder zubereiten und den an Prostatakrebs erkrankten Vater pflegen.

  Nor Abu Khater ist zu Hause in Chan Yunis, der Stadt im Süden des Gazastreifens. Sie ahnt nichts von den Gräueln an jenem Tag – bis die Nachrichten die Runde machen und die ersten Menschen in den Straßen ihrer Stadt das Blutbad feiern, den großen Schlag gegen den Erzfeind Israel. Da weiß sie, dass es Krieg gibt, wieder einmal Krieg.

  „Wir haben doch nichts damit zu tun“, sagt sie ein paar Tage später am Telefon. „Wir können doch nichts dafür.“

  Nor Abu Khater ist 42 Jahre alt, eine palästinensische Mutter von drei Kindern, mit denen sie getrennt von ihrem Mann im Haus der Eltern lebt. Kais, der Älteste, ist 18 Jahre alt. Als er klein war, wollte er Pilot werden, ausgerechnet. Die einzigen Flugzeuge am Himmel über Gaza sind die Kampfjets der israelischen Armee. Haya, die Tochter, 15 Jahre alt, malt gern. Beim letzten Besuch, im Sommer vor dem Krieg, hat sie einem als Geschenk ein Bild gemalt mit bunten Fischen, die in einer Glaskugel schwimmen. Auch Lara, mit zehn Jahren die Kleinste, hat ein Blatt bemalt mit einem Zaun, hinter dem sich eine Berglandschaft erstreckt, darüber die Sonne, umkreist von Vögeln.

  Fische, Berge, Flugzeuge, davon träumen diese Kinder im Gazastreifen, die nichts anderes kennen als Krieg. Auch Nor, die Mutter, hat einen Traum. Einen Fluchtpunkt für ihre Sehnsucht: Deutschland, genauer gesagt Münster, 3000 Kilometer entfernt von Chan Yunis. Jeden Tag denkt sie an Münster, dort ist sie aufgewachsen. Sieben Jahre war sie alt, als die Familie 1990 von Chan Yunis aus dorthin flüchtete. Neun Jahre ist sie in Münster in die Schule gegangen. Und als die Eltern 1999, als es noch Hoffnung auf Frieden im Nahen Osten gab, die Entscheidung trafen, mit einer von der Bundesregierung ausgelobten Rückkehrprämie wieder heimzukehren in den Gazastreifen, da sprach sie besser Deutsch als Arabisch.

  Vor 13 Jahren, im Dezember 2011, hat die SZ zum ersten Mal über Nor Abu Khater geschrieben. Gestrandet in Gaza, gefangen im falschen Leben. Es war eine dieser Recherchen, bei denen man sich angefreundet hat. Seither steht ein Besuch bei der Familie Abu Khater in Chan Yunis auf dem Programm bei jeder Reise nach Gaza, in diesem Haus, das mit dem deutschen Rückkehrer-Geld gebaut wurde. Unverputzt ist es bis heute geblieben, für teure Möbel fehlte stets das Geld. Aber der Garten war ein kleines Paradies, bunt bepflanzt von einem der Brüder, der dort auch Tauben züchtete.

  Unzählige Male haben wir zusammen auf den zum Sitzen und zum Schlafen ausgelegten Matten im Wohnzimmer gesessen. Nor war stets gehüllt in einen langen Mantel, mit strengem Kopftuch. Immer saßen ihr Vater oder einer der Brüder mit im Raum, das gehört sich so, und die Mutter war in der Küche damit beschäftigt, den Gast mit Köstlichkeiten zu bewirten. Gefüllte Weinblätter sind ihre Spezialität.

  Nor war immer froh, endlich wieder Deutsch zu sprechen. Die Sätze sprudelten nur so aus ihr heraus. Was in Deutschland los ist, wollte sie wissen. Was ihr in Gaza passierte, hat sie erzählt, und selbst bei schlimmen, traurigen Geschichten hat sie versucht zu lächeln. Wir saßen in diesem Wohnzimmer, wenn längere Phasen der Ruhe ein wenig Hoffnung auf ein besseres Leben genährt haben. Und auch, wenn draußen die Bomben fielen, wie im Krieg von 2014.

  „So einen Krieg haben wir hier noch nie erlebt“, sagte Nor Abu Khater damals voller Entsetzen, mit der kleinen Lara im Arm, die gerade zweieinhalb Monate alt war. „Ich habe die Toten nicht mehr gezählt. Meine Mutter sagt, wahrscheinlich kommen wir morgen oder übermorgen dran.“ Fünfzig endlose Tage hatte dieser Waffengang 2014 gedauert, 2000 Palästinenser wurden getötet.

  Aber was ist das im Vergleich zu heute, wo der Krieg schon ein Jahr lang tobt ohne Aussicht auf ein Ende, wo alles verwüstet ist und fast jeder der 2,3 Millionen Bewohner von Gaza auf der Flucht, wo inzwischen mehr als 41 000 Menschen ihr Leben verloren haben, darunter viele Frauen und Kinder?

  2014 war der Gazastreifen während des gesamten Kriegs offen gewesen für Reporter, die eine Pressekarte der israelischen Regierung vorweisen konnten. Man konnte die Angriffe erleben, ihre Folgen sehen. Man konnte die Familie Abu Khater in Chan Yunis besuchen. Heute ist der Gazastreifen für internationale Medienvertreter gesperrt. Niemand kann aus dem Kriegsgebiet direkt berichten, niemand kann die Menschen dort besuchen. Was bleibt, sind Telefongespräche und Textnachrichten, die sich meistens, so wie hier, nur um ein Thema drehen: um Sorgen, Not und Ängste.

„Liebe Nor, ich mach mir große Sorgen, meld Dich doch mal, wenn es irgendwie geht.“

„Hallo lieber Peter, es hat diesmal wieder lange gedauert, bis ich Internet finden konnte, und es ging uns gesundheitlich überhaupt nicht gut, aber jetzt geht’s wieder besser.“

Das ganze Jahr des Krieges über ist die SZ in Verbindung gewesen mit Nor Abu Khater, so oft und so eng es ging. Am Anfang meist per Telefon, da konnte man noch anrufen unter ihrer Handynummer mit der palästinensischen Vorwahl +970, und sie ging ran.

  Dann wurde es schwieriger zu reden, das Handynetz wurde immer wieder abgeschaltet oder beschädigt, der Strom zum Aufladen der Telefone wurde knapp. Was blieb, waren Whatsapp-Nachrichten, in denen sie über die neuesten Wendungen schrieb, die nächsten Katastrophen.

„Ich bin am Ende, Peter, ich kann wirklich nicht mehr mit ansehen, wie meine Kinder leiden.“

„Jetzt ist eine wirklich schlimme Zeit, danach wird es besser, das weiß ich. Haltet durch, bitte.“

Was soll man schreiben außer guten Wünschen und Durchhalteparolen? Und über was kann sie berichten außer über das Leiden? So hat sich im Laufe

eines Jahres dieser Chat zu einem Protokoll des Grauens in Gaza verdichtet.

  In den Telefonaten zu Beginn des Kriegs erzählt Nor Abu Khater von den Einschlägen der Bomben und Raketen, die sich nicht mehr wie Explosionen anfühlten, sondern „wie ein Erdbeben“. Berichten zufolge hat Israels Luftwaffe Bomben mit einer Sprengladung von bis zu 1000 Kilogramm über dem dicht besiedelten Gazastreifen abgeworfen.

  Nor klagt über die hohen Preise für Lebensmittel, die sich kaum noch einer leisten könne im Gazastreifen, Tomaten oder Pita-Brot kosten plötzlich das Zehn- oder Zwanzigfache – und bald schon gibt es auch das kaum noch auf den Märkten.

  Sie erzählt von ihrer stundenlangen Suche nach Lebensmitteln und auch davon, dass Hilfskonvois immer wieder von bewaffneten Banden geplündert werden, sobald sie in den Gazastreifen einrollen. Als Frau steht sie hilflos daneben, wenn sich Stärkere im Überlebenskampf um die Hilfsgüter balgen. Die Folge für sie und ihre Kinder: Sie leiden Hunger. Ein einzelnes, trockenes Pita-Brot müsse manchmal für den ganzen Tag reichen, erzählt sie in einem der letzten Telefonate zu Jahresbeginn. Der Sohn Kais, normalerweise von kräftiger Statur, habe seit Kriegsbeginn 15 Kilogramm abgenommen.

  Israels Regierung behindert, als Druckmittel im Krieg und in der Geiselfrage, immer wieder die Einfuhr der dringend benötigten Lebensmittel. In dieser Regierung sitzen Leute wie Finanzminister Bezalel Smotrich, der jüngst sagte, es sei „gerechtfertigt und moralisch“, wenn zwei Millionen Zivilisten in Gaza den Hungertod sterben würden.

  Zuletzt telefoniert haben wir Ende Februar. Da tobte der Krieg schon fast fünf Monate, und ihre Stimme klang ängstlich, deprimiert, verzweifelt. Danach blieb die Leitung meist tot oder es verwies eine arabische Ansage darauf, dass der Teilnehmer am anderen Ende nicht erreichbar ist.

  Whatsapp-Nachrichten sind das, was bleibt. Doch auch Whatsapp ist ein schwieriger Kommunikationskanal. Fragen danach, wie es allen in der Familie geht, bleiben oft tagelang, später sogar wochenlang unbeantwortet. Ein durchgängiges Bild darüber, was alles passiert, lässt sich so nicht zeichnen. Es sind nur Fragmente. Wenn das Internet ausfällt, steht neben der neuesten Chatnachricht quälend lange nur ein einzelnes graues Häkchen, weil sie nicht zugestellt werden konnte. Dann weiß man, dass es ihnen nicht gut geht. Mehr weiß man nicht. Nicht einmal, ob sie noch leben.

  Der Umstieg auf Whatsapp begann schon im November. Am 4. November 2023 schreibt Nor Abu Khater noch: „Die Verbindung ist schwach. Uns geht’s Gott sei Dank gut, nur das Problem mit meinem Vater wegen der Blutspende, die er braucht, haben wir bis heute nicht gelöst.“ (Anm. der Red.: Die auf Deutsch geschriebenen Chats wurden für diesen Artikel in einigen Fällen orthografisch und grammatikalisch korrigiert.)

  Der Krieg wird zu diesem Zeitpunkt längst schon nicht mehr nur aus der Luft geführt. Seit Ende Oktober sind in großer Zahl auch israelische Bodentruppen im Einsatz, zunächst noch vorrangig im Norden des Gazastreifens. Chan Yunis liegt im Süden, eine immer schon lebhafte bis chaotische Stadt, mit Hamas-Bannern an jeder Straßenecke, mit einer gen Himmel gerichteten Raketenattrappe als Kunstobjekt im Kreisverkehr und vielen schrottigen Autos, die sich in den überfüllten Straßen um Eselskarren herumschlängeln müssen. Nun wird dieser Moloch geflutet von Flüchtlingen aus den Kampfzonen im Norden.

  Ein Vorrücken der israelischen Truppen auch auf Chan Yunis ist da nur mehr eine Frage der Zeit. Die Stadt ist eine Hochburg der Hamas und dazu noch die Heimat des Anführers Jahia Sinwar, dessen Versteck die Israelis hier in einem der unterirdischen Tunnel vermuten. Anfang Dezember 2023 dann ist es so weit: Israelische Bodentruppen rücken auf das Zentrum von Chan Yunis vor.

„Mir geht’s einfach grauenhaft. Wir mussten vor einer Woche unser Gebiet verlassen und in Richtung Rafah an der Grenze zu Ägypten gehen. Ich konnte nicht mal mit meinen Geschwistern und der Familie flüchten, jeder ist seinen Weg gegangen, und das Schlimmste ist, dass ich mich nicht von Papa verabschieden konnte. Wir haben ihn bei der Frau meines Bruders im Krankenhaus in die Intensivstation getan, weil es ihm gar nicht gut ging und er eine Blutspende brauchte, was er nicht gekriegt hat und deswegen leider starb.“ (11. Dezember)

Man stirbt nicht nur durch Bomben in diesem Krieg im Gazastreifen.

  Die Gesundheitsversorgung ist früh schon zusammengebrochen. Die Vereinten Nationen stellen bereits Anfang November fest, dass zwei Drittel der Einrichtungen für die medizinische Grundversorgung und die Hälfte aller Krankenhäuser nicht mehr funktionsfähig sind. Sie wurden zum Ziel israelischer Angriffe, weil die Armee dort Kommandozentralen und Kampfstellungen der Hamas vermutet.

  Als Beweis präsentiert Israels Militär immer wieder seine Funde aus den Kliniken: Waffen und weitverzweigte Tunnelsysteme. Weltweit für Aufsehen sorgte der Sturm auf das Al-Schifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt im November. Aber auch das Nasser-Krankenhaus in Chan Yunis, in dem der Vater von Nor Abu Khater bei der Flucht zurückgelassen werden musste, wird zur Kampfzone.

„Es tut mir unendlich leid, dass ich ihm nicht helfen konnte, und das letzte Wort, was er mir sagte, war, dass er Angst hat, dass ihn keiner begraben wird. Uns wurde gesagt, dass er begraben wurde, aber wo, das weiß ich nicht. Das tut meinem Herz so weh, wenn ich daran denke.“

Bis heute haben sie kein Grab gefunden.

  Nach der ersten Flucht im Dezember wird es lange dauern, bis Nor Abu Khater mit ihren Kindern wieder ins Haus nach Chan Yunis zurückkehren kann. Unterschlupf finden sie in Rafah erst in einem Haus mit vielen anderen Flüchtlingen, später dann in einem Zelt. Hunderttausende Menschen harren wie sie dort aus.

  Sie schreibt, wie „unbeschreiblich schlimm“ die Lage ist:

„Ich hatte gar nichts zu essen, meine kleine Tochter hat vor Hunger die ganze Zeit geweint, dann haben uns gute Menschen hier was zu essen gegeben. Ich bin am Ende, ich kann wirklich nicht mehr mit ansehen, wie meine Kinder leiden.“ (11. Dezember 2023)

Im Februar dann, im neuen Jahr, verdichten sich die Gerüchte, dass Israels Truppen nun auch das letzte Rückzugsgebiet der Hamas in Rafah einnehmen wollen. Nor Abu Khater ist verzweifelt.

„Ich weiß nicht, wohin ich jetzt flüchten soll, wie ich das, was ich noch habe, tragen soll, obwohl ich alles verloren habe. Nicht mal einen zweiten Anzug hat jeder von uns, aber unsere Decken, Matratzen und Dosen zum Essen muss ich tragen.“ (20. Februar 2024)

Sie bleibt mit ihren Kindern dann doch in Rafah, aus Mangel an Alternativen, aus Angst, dass es anderswo noch schlimmer kommen könnte. Im Winter ist es in den Zelten kalt und feucht, Krankheiten breiten sich aus.

„Habe mich seit Langem nicht gemeldet, weil ich und meine Kinder an einer Leberinfektion leiden.“ (27. März 2024)

Grund dafür ist das verschmutzte Trinkwasser, das im Gazastreifen zu einer Welle von Hepatitis-Fällen führt. Auch Krätze, Masern, Mumps und Meningitis breiten sich aus, später kommt noch das Poliovirus dazu. Schon im Februar hatte die Weltgesundheitsorganisation WHO gewarnt, dass im Gazastreifen am Ende mehr Menschen durch Krankheiten als durch den Krieg sterben könnten.

  Nor Abu Khater selbst leidet seit Langem schon an den Augen. Sie sieht immer schlechter und hat Angst zu erblinden. Nach langer Wartezeit hatte sie noch vor dem Krieg einen OP-Termin zugesagt bekommen für Dezember.

„Leider ist mein Augenarzt nach Amerika geflüchtet, einen anderen guten Arzt finde ich zurzeit nicht. Alles Schlimme ist auf einmal gekommen. Kann wirklich nicht mehr, bin körperlich, seelisch am Ende und die größte Sorge sind meine Kinder. Hoffe, dass dieses Elend bald ein Ende hat.“ (9. April)

Ein Ende aber ist nicht abzusehen, der Krieg zieht immer weitere Kreise. Zwei Tage zuvor, am 7. April, hatte Israels Armee zwar offiziell das Ende der Kämpfe in Chan Yunis erklärt, die Hamas-Einheiten dort seien zerrieben worden. Der Rückzug der Truppen jedoch, so heißt es, sei lediglich eine „Umgruppierung“. Die Kämpfe verlagern sich also nur, von Chan Yunis nach Rafah.

  Die ganze Welt warnt eindringlich vor einem Einmarsch in Rafah, wo inzwischen 1,5 Millionen Menschen Zuflucht gesucht haben. Doch Israels Führung beharrt darauf, in diesen Kampf zu ziehen, um die vermeintlich letzte Brigade der Hamas zu besiegen. Am 6. Mai beginnt die Bodenoffensive in Rafah. Die Flüchtlinge werden von der israelischen Armee aufgerufen, sich in das als „sichere Zufluchtsstätte“ ausgewiesene Gebiet Al-Mawasi zu begeben.

  Nor Abu Khater und ihre Familie fragen sich, ob eine Rückkehr nach Hause nun möglich, ob sie sicher ist.

„Ich habe erst vor ein paar Stunden erfahren, dass Menschen nach Chan Yunis zurückgekehrt sind, aber ich und viele andere hier fragen uns, wer die Erlaubnis gegeben hat und ob das wahr ist oder Gerüchte sind.“ (9. April)

Sie ist vorsichtig, sie bleiben zunächst im Zeltlager von Rafah. Am 22. April schreibt sie: „Ich werde erst dann zurückkehren, wenn es Wasser gibt.“ Zugleich hat sie Angst, zurückzugehen. Sie will darauf warten, dass das israelische Militär eine offizielle „Erlaubnis zur Rückkehr von Zivilisten“ gibt.

  Anfang Mai schließlich, unmittelbar vor dem israelischen Einmarsch in Rafah, kündigt sie an, am nächsten Tag aufzubrechen:

„Ich werde morgen zurück nach Chan Yunis kehren, mir wurde gesagt, dass heute die Wasserleitungen repariert worden sind, es wird noch lange dauern, bis es Internet dort gibt, ich hoffe aber, dass man anrufen kann.“ (4. Mai)

Zurück nach Hause, nach fünf Monaten auf der Flucht.

„Die Wohnung meiner Eltern ist leider zerstört, wir alle leben in der Wohnung von meinem Bruder, Gott sei Dank besser als ein Zelt, aber wie lange, das weiß niemand.“ (16. Mai)

Wenig später schickt sie zwei Videos. Das eine zeigt die Verwüstungen im Elternhaus, ausgelöst durch Bomben, die in der Nachbarschaft explodiert sind. Zu sehen sind eingerissene Mauern, Schuttberge und zertrümmerte Möbel auf den Fußböden, Fensterhöhlen ohne Rahmen und Glas.

  Das zweite Video ist aufgenommen vom Dach ihres Hauses. Der Blick geht über ein Trümmerfeld, das einmal ein dicht besiedeltes Wohngebiet war. Zerschossene Fassaden ragen in den Himmel. Tiefe Krater wurden in den Boden gebombt. Zwischen den Ruinen laufen einzelne Menschen umher wie aufgeschreckte Ameisen.

„Es sieht in Wirklichkeit noch schlimmer aus als auf den Bildern.“

Als Flüchtlinge im Zelt konnten sie noch von der Rückkehr ins eigene Zuhause träumen. Doch woran soll man sich noch festhalten, wenn das Zuhause in Trümmern liegt? Nor Abu Khater sieht schon länger nur noch einen Ausweg: Sie will raus, weg aus Gaza.

  Der einzige Weg führt über Ägypten. Über den Grenzposten Rafah konnten seit Kriegsbeginn immer wieder Palästinenser aus dem Gazastreifen ausreisen: Schwerverletzte und Kranke, die dringend Behandlung im Ausland brauchten, dazu noch Menschen mit ausländischen Pässen – und dann noch solche, die genug Geld hatten, um Mittelsmänner einzuschalten und Zöllner zu schmieren.

„Ich habe dieses Programm auf Facebook gefunden (‚Go Fund Me‘), das Spenden für Menschen sammelt, die notwendige Hilfe brauchen. Ich brauche dringend diese Spende, weil ich aus Gaza flüchten möchte, und die Ägypter verlangen, wie du weißt, von jeder Person wenigstens 5000 Dollar. Ich möchte mit meiner Familie flüchten, weil ich hier nicht mehr leben kann. Unser Haus wurde halb bombardiert, Schulen für meine Kinder gibt’s nicht, keine Krankenhäuser usw. (1. Mai)

Und sie schreibt:

„Ich denke jeden Tag, dass heute mein letzter Tag ist.“

Das Internet ist voll mit Berichten von Palästinensern, die mit Hilfe von „Go Fund Me“ – beworben als „führende Crowdfunding-Plattform“ – genug Geld sammeln konnten für die Flucht aus Gaza. Doch in Ägypten sind diese Flüchtlinge nicht willkommen, für die meisten ist es eine Sackgasse. Nor Abu Khater aber weiß, wo sie am liebsten hin will: nach Deutschland, wo sie aufgewachsen ist, wo sie die Sprache spricht, wo sie glücklich und in Frieden gelebt hat.

  Über Whatsapp schickt sie Fotos von Unterlagen, die sie aus den Trümmern zieht. Sie schickt alles, was sie noch finden kann: Den rosafarbenen deutschen Führerschein des Vaters, ausgestellt von der Stadt Münster unter der Nummer A247/91, „Gültigkeit unbefristet“. Die Geburtsurkunde der Schwester Nasrun, zur Welt gekommen am 9. September 1991 um 4.58 Uhr im Clemenshospital zu Münster.

  Doch für die deutschen Behörden sind ihre Jahre in Münster kein Kriterium für eine Einreiseerlaubnis. Die Suche nach einem legalen Weg führt ins Gestrüpp der Paragrafen. Eine Anfrage bei der deutschen Botschaft in Kairo bleibt unbeantwortet. Nor Abu Khater sitzt mit ihren drei Kindern im Bombenhagel von Gaza fest und nirgends ist Rettung in Sicht.

„Ich bin einfach enttäuscht, dass es nicht geklappt hat, obwohl ich die Hoffnung hatte, dass es klappen würde wegen dem Krieg in Gaza. Geht es denn überhaupt nicht, wenn sie Besuchervisa für uns alle machen, und dann würde ich von dort aus nach Neuseeland oder Irland reisen oder irgendwo, wo man Englisch sprechen kann, damit das für uns nicht schwierig wird? (...) Ich weiß nicht, warum alle Türen plötzlich vor meinem Gesicht geschlossen werden.“ (24. Juni)

  Die Leberinfektion begleitet Nor Abu Khater und ihre Kinder noch immer, seit Monaten, Medikamente sind nicht zu bekommen. Besonders schlimm erwischt es die Tochter Haya, 15 Jahre.

„Sie wird nicht gesund, sie liegt die meiste Zeit auf der Matratze und kann schwer laufen. Ich war heute im Krankenhaus, morgen muss ich wieder zum Krankenhaus und weiß nicht, weiß ich tun soll, wegen der Notlage gibt es so gut wie keine gute Behandlung. Wir haben alle diese Krankheit, aber uns geht’s besser als Haya.“ (24. Juni)

Eine knappe Woche später schreibt sie, dass Haya nicht mehr essen könne, dass sie „ganz gelbe Augen und Haut“ habe. „Ich renne fast jeden Tag von einem Krankenhaus zum anderen und bete, dass sie gesund wird.“

  In ihrer Verzweiflung fasst sie immer neue Ziele ins Auge, dabei ist inzwischen auch der Übergang Rafah nach Ägypten dicht, nachdem die Israelis das Grenzgebiet im Mai unter ihre Kontrolle gebracht hatten. „Ob man nach Indonesien ohne Probleme reisen kann?“, fragt sie am 30. Juni.

  „Wenn es sogar nach Somalia sein müsste, Hauptsache, dass ich keine Bombardierung höre, weil ich nicht mehr kann“, schreibt sie später einmal.

  Doch Gaza bleibt ihr Gefängnis, und nirgends sind sie dort sicher. Bald schon brechen die Bodenkämpfe in Chan Yunis wieder los.

„Wir mussten wieder unsere Gebiete verlassen, und als wir die Nachricht erfahren haben, war es am späten Abend. (...) Es waren wirklich Hunderttausende Menschen, Alte, die mir leidgetan haben, die kaum laufen konnten, und kleine Kinder wie meine Töchter, die am Weinen waren, weil wir zu Fuß gelaufen sind, bis wir einen sicheren Platz gefunden haben. (...) Es gab keine Fahrmöglichkeit, Karren und Autos wollten Tausende Schekel als Lohn, volle Ausnutzung. Es ist unbeschreiblich schlimm, was mit uns abgeht.“ (5. Juli)

Sie schickt zwei kurze Videos von der Flucht. Man sieht sie mit der Zehnjährigen Lara, beide mit einem kleinen Rucksack auf dem Rücken und Plastiktüten in der Hand. Langsam und schweigend laufen sie durch die Nacht. Man hört ihre Schritte auf dem Boden knarzen und im Hintergrund das Stakkato von Schüssen.

  Nach ein paar Tagen können sie wieder zurückkehren nach Chan Yunis, aber dies wird nicht die letzte Flucht bleiben vor den israelischen Truppen.

„Wir wurden wieder von unserer Stelle verscheucht, und diesmal war es noch schlimmer als das vorige Mal. Die haben uns keine Chance gegeben, unsere Sachen mitzunehmen. (....) Die haben direkt angefangen, auf uns zu schießen und zu bombardieren, wir sind wirklich nur durch ein Wunder entkommen.“ (29. Juli)

Wenig später, Anfang August, schreibt sie von ihrer Cousine, taub und schwerbehindert, die weniger Glück hatte.

„Sie hört natürlich nicht, dass draußen geschossen und bombardiert wird, nur ein paar Schritte ist sie gelaufen, und wurde in den Kopf geschossen. Es wollten zwei Männer sie retten und wurden leider auch neben ihr erschossen. Ihre Leichen lagen zehn Tage in der tödlichen Hitze auf der Straße, bis sie verwesten. Ich habe diese Nachricht erst eine Woche nach ihrem Tod erhalten, seitdem weine ich ohne Pause. (...) Ich frage mich die ganze Zeit, ob sie gelitten hat oder sofort starb.“ (5. August)

„Fünfmal in weniger als zwei Monaten“, so schreibt sie am 8. September aus Chan Yunis, habe sie von einem Ort zum anderen flüchten müssen. Sie schickt Fotos von neuen Zerstörungen am Elternhaus, davon, wie sie mit ihren Töchtern aufräumt in diesem Chaos. Und sie bedankt sich am 10. September dafür, dass man sich um sie sorgt. „Das gibt mir das Gefühl, dass wir es doch noch verdienen zu leben, weil ich manchmal denke, dass wir von der ganzen Welt gehasst werden“, schreibt sie.

„Das ist unfair, dass die Unschuldigen auch damit bezahlen müssen.“

Die Welt schaut gerade auf die Auseinandersetzung mit der Hisbollah in Libanon und mit Iran. Das Leiden in Gaza aber dauert an. Nor Abu Khater meldet sich weiter alle paar Tage, soweit es die Lage und das Internet erlauben. Sie berichtet vom sechsstöckigen Haus in ihrer Nachbarschaft, das bombardiert und dem Boden gleichgemacht wurde nach einer Vorwarnung der israelischen Armee, weshalb sie die Nacht „auf der Straße“ verbrachte. Nach ihrer Heimkehr am 14. September schreibt sie:

„Außer, dass die Wohnung ein bisschen zerstört wurde, ist alles in Ordnung.“

Die vorerst letzte Nachricht stammt vom 28. September. Da schreibt sie von einer neuen Flucht aus dem Elternhaus, von einem Zelt, in dem sie nun wieder mit den Kindern lebt. Danach bleibt es still, und im Chat steht unter ihrem Namen die Zeile: „zul. online Sa. um 19:06“.

Familie Levy

Almog ist drei Jahre alt.
Seine Mutter ist von Hamas-Terroristen ermordet worden,
sein Vater wird im Gazastreifen gefangen gehalten.
Über das Leben nach dem Überleben.

Von Thorsten Schmitz

Freitag, 6. Oktober 2023, in Rischon Lezion, einer Stadt nahe Tel Aviv. Almog ist erschöpft vom Trubel in der Wohnung seiner Großeltern, der Zweijährige muss ins Bett. Sie haben Simchat Tora gefeiert, einen jüdischen Festtag, und es ist schon spät.

  Almogs Mutter Eynav Levy, 32, trägt den Sohn ins Gästezimmer, ihr Mann Or, 33, singt das Gutenachtlied. Die Eltern umarmen ihren Sohn, küssen ihn, schnell schläft Almog ein. Kurz danach gehen auch die Eltern schlafen, sie wollen früh raus am nächsten Morgen, zu einem Rave fahren in der Wüste Israels. Ihre Handywecker klingeln um fünf Uhr, zwanzig Minuten später verlassen sie die Wohnung von Eynav Levys Eltern. Im Auto schreibt sie ihnen eine Whatsapp, Mamusch, gegen 16 Uhr sind wir wieder zurück.

  Aber die Mutter, der Vater werden nicht zurückkehren zu ihrem zweijährigen Sohn.

  Um 6.21 Uhr kommen Eynav und Or Levy auf dem Ravegelände nahe dem Kibbuz Re’im an, im Süden Israels. Sie parken das Auto auf dem staubigen Feld am Rande eines Hains, von hier kann man den Gazastreifen sehen. Es gibt einen verwackelten Film, auf dem man Or Levy in der Morgendämmerung sieht, wie er um das Auto läuft, er trägt einen Rucksack, eine Wasserflasche, der Himmel strahlt in Zartrosa. Um 6.30 Uhr, neun Minuten nach ihrer Ankunft, wird der Himmel schwarz vor Raketen und Hamas-Terroristen, die auf Paraglidern in die Menge fliegen. Innerhalb kürzester Zeit töten sie Hunderte Menschen, die eben noch getanzt haben.

  Seit Freitagabend, dem 6. Oktober vor einem Jahr, hat Almog keine Umarmung mehr von seiner Mutter oder von seinem Vater erhalten, keinen Kuss. Seit diesem Freitagabend hat er ihre Stimmen nicht mehr gehört, ihre Körperwärme nicht mehr gespürt. Seinen dritten Geburtstag im Juni hat Almog gefeiert ohne Ima und Aba, ohne Mama, ohne Papa. Er hat gefeiert mit seinen zwei Omas, seinen zwei Opas, den Onkeln und Tanten, denen zum Weinen war an diesem Tag. Für Almog und alle Kinder aus seiner Kindergartengruppe haben sie gelächelt.

  Es gibt Fragen, die ins Fleisch schneiden wie ein scharfes Messer. Tal Levy, 35, dunkelbraune Augen, grauschwarzer Meckischnitt, hat sie sich gestellt, und er stellt sie immer dann, wenn man von ihm wissen möchte, was Almog weiß. Wie, sagt Tal Levy dann, erklärt man einem Zweijährigen, dass seine Mutter getötet wurde und sein Vater im Gazastreifen in Gefangenschaft sitzt?

  Ja, wie.

  Tal Levy dreht sich eine Zigarette, in seinem Wohnzimmer in Jaffa, einem Stadtteil von Tel Aviv. Viele muslimische Araber wohnen hier und immer mehr jüdische Israelis in schicken Lofts, das Zusammenleben funktioniert erstaunlich gut. Seit einem Jahr raucht Tal Levy mehr als sonst, beim Arbeiten kann er sich nicht konzentrieren. Er starrt dann auf den Bildschirm seines Computers, auf das unfertige Drehbuch, das er längst hätte abgeben müssen, und das Einzige, woran er denken kann, ist sein jüngerer Bruder Or, „Licht“ heißt dessen Name auf Deutsch. Der Bruder, mit dem er sich ein Zimmer geteilt hat, als sie klein waren, der die gleichen Augen hat wie er, das gleiche Lächeln, und der womöglich in einem Tunnel gefangen gehalten wird im Gazastreifen und seit einem Jahr keine Sonne gesehen hat. Es ist früher Abend, das Wohnzimmerfenster steht weit auf, die Stimme eines Muezzins hallt durch die Straßen von Jaffa.

  In den ersten Tagen nach dem Massaker am 7. Oktober, in der großen Unsicherheit, die ganz Israel erfasst hatte, das Land, das doch allen Jüdinnen und Juden das Versprechen gegeben hatte, hier seien sie sicher, war Almog verwirrt. Zeigte auf die Fotos am Kühlschrank in der Wohnung der Großeltern, fragte nach Mama, nach Papa. Sagte, er wolle zurück nach Hause, in die Wohnung in Givatayim, östlich von Tel Aviv, weil er überzeugt war, Mama und Papa warteten dort auf ihn. Die Großeltern und die zwei Brüder von Or Levy wussten nicht, wie viel Wahrheit ein Zweijähriger verträgt. Sie berieten sich mit Psychologinnen, alle rieten dasselbe: Ein Kind darf nicht belogen werden.

  „Wir haben Almog also die Wahrheit gesagt, mit Worten, die er versteht“, sagt Tal Levy, der seine Drehbücher jetzt im Wohnzimmer schreibt, weil aus seinem Arbeitszimmer Almogs Kinderzimmer geworden ist, mit Büchern, Fotos, Kuscheltieren. Sie haben Almog gesagt, dass seine Mutter ihn sehr geliebt habe, dass sie aber nicht zurückkehren könne. Sie sei auf einer Reise gewesen und habe sich verletzt. Und dass sie nach Papa suchten, dass sie hoffen, ihn zu finden. „Wir haben ihm nicht versprochen, dass sein Vater zurückkommt“, sagt Tal Levy, „weil wir das ja nicht wissen.“

  Vor ein paar Wochen hat Almog auf einem Spielplatz in Jaffa eine Mutter gesehen mit Kind an der Hand und gesagt: Mama kommt nicht mehr. Manchmal weint er plötzlich. Letztens erst, als die Kindergärtnerin einem anderen Kind sagte, du, wenn dein Papa nachher kommt, wird er dir das noch mal erklären. Und manchmal wird Almog wütend, aus heiterem Himmel, mehr als andere, dann brüllt er, möchte nicht in den Arm genommen werden, obwohl das ja genau das ist, was er braucht, Umarmungen. Eine Psychologin hat das so gedeutet: Almog fühle sich im Stich gelassen von den Eltern, er sei auch wütend auf sie.

  Es gibt ein Israel vor dem 7. Oktober und eines danach. Seit dem schwarzen Schabbat, wie die Israelis den Tag des Massakers nennen, haben viele Menschen im eigenen Land Angst, Hunderttausende haben den Norden verlassen und den Süden. Die Zukunft? Es gibt gerade keine. Seit einem Jahr herrscht Krieg im Gazastreifen, Israel bombardiert Libanon, die Hisbollah und Iran schießen Raketen bis nach Tel Aviv, mitten in die Seifenblase, in der man bislang doch immer ganz gut Krieg, Besatzung, Terror vergessen konnte, wo viele in Luxushochhäusern leben, Tesla fahren, in Restaurants von Robotern bedient werden.

  Aber mit jedem Tag, an dem in Beirut Pager explodieren, Israel Libanon und den Gazastreifen bombardiert, Hisbollah-Raketen Israels Norden in Brand setzen, verblassen die Schicksale der 101 verschleppten Geiseln und ermordeten Israelis ein wenig schneller. In den ersten Wochen und Monaten nach dem Massaker hatten Angehörige der israelischen Geiseln noch eine Lobby, die Welt litt und fühlte mit ihnen. Aber jetzt, ein Jahr später?

  Rechnet die Welt auf, 1200 israelische Tote gegen 40 000 tote Palästinenser.

  Die Geschichte von Or und Eynav Levy und ihrem Sohn Almog, von ihren Familien, die für immer zerstört wurden an diesem 7. Oktober 2023, erzählt von einem Alltag, in dem nichts mehr alltäglich ist. Davon, wie es ist, heimatlos geworden zu sein in der eigenen Heimat.

  Es gibt Momente, in denen Tal Levy nicht mehr kann. „Die Erschöpfung“, sagt er, nippt am Espresso, „nimmt zu.“ Er kümmert sich um Almog, er kümmert sich um seine Eltern Geula und Avi Levy, er geht demonstrieren, fast jeden Samstag, aber hat das was gebracht? „Ich muss sagen“, sagt er und schaut am Fenster in den dunkler werdenden Himmel über Tel Aviv, „ich gebe die Hoffnung langsam auf, dass Or zurückkehrt.“ Die Menschen seien von der Barbarei der Hamas entsetzt gewesen, „aber dann vergessen sie uns, oder sie kaufen T-Shirts mit den Bildern der Geiseln, das war’s“.

  Ein Jahr ist vergangen, „welcher Mensch hält es ein Jahr in einem Tunnel aus, in dem man nicht stehen und nicht atmen kann?“ Sein älterer Bruder Michael, 40, schimpft dann mit ihm, sagt, sie dürften ihrem kleinen Bruder zuliebe nicht die Hoffnung aufgeben. Tal Levy erwidert dann: „Was erwächst aus diesem Krieg? Fans von Israel?“ Er muss dann daran denken, was ihm sein Vater erzählt hat vom Krieg an Jom Kippur und seinem Einsatz als Soldat. Dass sie damals nachts in Häuser von Palästinensern eingedrungen sind, dass er in den Augen der Kinder Angst und Schock gesehen habe und sich damals als junger Soldat gesagt habe: Das werden die Terroristen von morgen sein.

  Nur drei Mal, sagt Tal Levy, habe er im vergangenen Jahr geweint. Noch, sagt er, „bin ich in einem Überlebensmodus“. Was mache ich nur, fragt er sich, wenn Or nicht zurückkommt?

  Am Morgen des 7. Oktober wird Geula Levy, 68, in Rischon Lezion von Raketenalarm geweckt, sie wohnen nicht weit weg von der Wohnung, in der Almog gerade bei seinen anderen Großeltern aufgewacht ist. Es ist halb sieben, ihr erster Gedanke gilt Or, ihrem Sohn, wollten er und seine Frau Eynav nicht auf dieses Festival fahren? Sie ruft ihn an, Mama, sagt er, wir haben gerade geparkt, als der Raketenbeschuss begann, wir haben noch nicht mal getanzt, wir kehren zurück, ich melde mich. Zusammen mit ihrem Mann Avi, 72, geht sie in den betonierten Schutzraum ihres Hauses. Auf ihren Handys sehen sie Nachrichten, die sie nicht glauben können, Tausende Terroristen aus dem Gazastreifen sind nach Israel eingedrungen und morden. Sie ruft Tal Levy an, der noch schläft. Mama, sagt er, mach dir keine Sorgen, Or hat dir doch gesagt, dass sie auf dem Weg zurück sind.

  Aber das sind sie nicht.

  Als die ersten Raketen aus dem Gazastreifen auf dem Nova-Partygelände detonieren, rennen Or und Eynav Levy zurück ins Auto. Es gelingt ihnen, die 200 Meter vom Partyparkplatz auf die Bundesstraße 232 einzubiegen, die parallel zum Gazastreifen in Nordsüd-Richtung verläuft. Was sie nicht wissen können: Die Straße wird zur Falle. Wer auf ihr zu fliehen versucht vor den Raketen, wird von Hamas-Terroristen erschossen. Or und Eynav Levy fahren nur wenige Hunderte Meter, dann stoppen sie, suchen Schutz vor den Raketen. Sie rennen in einen der mobilen Bunker aus Beton, die die Bundesstraße säumen. Er bietet Platz für acht, schnell füllt er sich mit verängstigten Menschen. Or Levy schickt aus dem Bunker einen Film an einen Freund. Man sieht Partygäste, die mit versteinerten Gesichtern Nachrichten schicken auf ihren Handys. Or Levy steht ganz hinten mit seiner Frau. Seiner Mutter sagt Or Levy am Telefon: „Mama, du willst nicht wissen, was hier los ist.“ Drei oder vier Mal sagt er diesen Satz, dann legt er auf. Es ist 7.39 Uhr, als Geula Levy zum letzten Mal die Stimme ihres Sohnes hört.

  Eynav Levy schickt ihrer Mutter eine Nachricht, „wir sind auf dem Weg zurück, sorry, wir können nicht reden“. Es sei zu laut um sie herum, ist Almog okay, fragt die Tochter? Mach dir keine Sorgen, Almog geht es gut, schreibt die Mutter auf Whatsapp. Passt auf euch auf, fügt sie hinzu, ruft an, wenn ihr könnt. „Wir haben angehalten und sind in einem Schutzbunker“, schreibt die Tochter. Es ist ihre letzte Nachricht. Zwei Stunden später, um 9.07 Uhr, fragt Eynav Levys Mutter: Was ist los mit euch?

  Da ist Eynav Levy längst tot und Or Levy im Gazastreifen.

  Die Dashcam eines Autos, das neben dem öffentlichen Schutzbunker parkt, in dem Or und Eynav Levy ganz hinten stehen, zeichnet auf, was passiert. Die Armee wertet sie später aus, israelische Medien veröffentlichen die Szenen. Hamas-Terroristen rasen auf Pick-up-Trucks an den Bunker heran, werfen sieben Granaten in den Schutzraum auf die 24 Menschen, die sich darin in Todesangst drängen. Ein junger Israeli im Bunker, der bis heute in Israel als Held verehrt wird, wirft die sieben Granaten wieder hinaus. Womöglich verdankt ihm Or Levy sein Leben. Die achte Granate der Terroristen explodiert im Schutzraum, der zur Todesfalle wird. Man hört das dumpfe Explodieren. Die Granate tötet Eynav Levy und 16 andere Menschen. Die Terroristen sehen Or Levy und zwei andere junge Männer im Bunker, die lebend unter den Leichen begraben liegen, die weinen, schreien vor Schmerz, einem der jungen Männer hat die Granate den Ellbogen abgetrennt. Die Hamas-Terroristen jubeln. Seid ihr Soldaten, fragen sie. Man hört Or Levy flehen, sie mögen ihn nicht mitnehmen.

  Akribisch haben Michael und Tal Levy recherchiert, was mit ihrem kleinen Bruder und dessen Frau passiert ist. Michael Levy weiß, wie man auf Facebook, Instagram, Tiktok Bilder und Filme sucht und scannt, er arbeitet bei Tiktok Israel. Hunderte Videos hat er in den ersten Wochen nach dem 7. Oktober angeschaut, „manches hätte ich besser nicht gesehen“, sagt er am Telefon. Es sei „fast schon eine Obsession“ von ihm gewesen herauszufinden, wie sein Bruder verschleppt worden ist. Ein Überlebender konnte ihm sagen, er erinnere sich, dass Or und Eynav Levy sich im Bunker umarmt hätten.

  Vier Tage nach dem Massaker klopfen am Mittwoch gegen 23 Uhr zwei Uniformierte an die Wohnungstür von Eynav Levys Eltern. In Israel weiß jeder: Wenn die Armee an Türen von Familien klopft, ist dein Kind tot. Schwer verletzt. Entführt. Eynav Levys Leiche, erfahren die Eltern, ist im Schutzbunker gefunden und identifiziert worden. Am Tag darauf wird die Mutter von Almog, die ein paar Stunden tanzen wollte, beerdigt, während eine Kita-Erzieherin mit dem Zweijährigen in der Wohnung der Großeltern spielt. Am Rande der Beerdigung sagt Geula Levy ihrem Sohn Tal, dass die Armee das Handy von Or Levy im Gazastreifen geortet habe. Tal Levy spürt eine Freude in sich aufkommen. Mein Bruder lebt, jubelt er innerlich – während er trauert, als sie den Sarg seiner Schwägerin in die Erde einbetten.

  Ein paar Wochen später, im November, veröffentlichen Hamas-Terroristen einen Film. Erst viele Monate später, im Juni, entscheiden sich die Angehörigen, dass sie den Film auch in Israel veröffentlichen wollen. Die Bestialität der Terroristen soll Druck auf die Regierung ausüben, jede Minute zählt jetzt, um die Geiseln lebend aus dem Gazastreifen zu holen. Auf dem Video sieht man die Terroristen, wie sie Or Levy auf die Ladefläche ihres Pick-up-Wagens schubsen. Er hockt neben Hersh Goldberg-Polin, dessen Unterarm von der Granate zerfetzt wurde. Er weint. Sein Gesicht und seine Arme, die er um sich schlingt, sind blutig. Sein Bruder Tal Levy ist überzeugt: „Das war Eynavs Blut.“ Unter stahlblauem Oktoberhimmel rast das Auto über Sandpisten in den Gazastreifen. Die Terroristen rufen Allahu akbar, reißen an den Haaren des Mannes, dem der Unterarm fehlt, sagen „du Hund“. Sie machen Selfies von sich und den Geiseln.

  Als Tal Levy den Film von der Entführung seines Bruders zum ersten Mal anschaut, empfindet er wieder „einen Moment des Glücks“, sagt er, „ich weiß, das klingt verrückt“. Zu wissen, dass sein Bruder lebt, habe sich „nicht so hilflos angefühlt“ wie die Ungewissheit in den ersten neun Tagen. Inzwischen, nach einem Jahr, sagt Tal Levy, „ist das Gefühl der Hilflosigkeit zurückgekommen“. Tal Levy und mit ihm Hunderte Angehörige der Geiseln im Gazastreifen leben seit einem Jahr in einem Schwebezustand. Sie wissen nicht, was mit ihren Lieben geschieht oder ob sie sie je wiedersehen werden. „Sie sind einfach verschwunden“, sagt Tal Levy über seinen Bruder und seine getötete Schwägerin.

  In den ersten zwei Monaten schaut Tal Levy keine Nachrichten, er kümmert sich um Almog, guckt mit seinen Eltern „Wer wird Millionär“. Sie melden Almog in einem neuen Kindergarten in Rischon Lezion an, weil dort beide Großelternpaare leben. Dort widmen sie den Familientag, an dem die Kinder Fotos von ihren Eltern mitbringen sollen, um in einen Großelterntag. Almog pendelt unter der Woche zwischen den Großeltern und Tal Levy und seinem Mann. Alle zwei Wochen verbringt Almog ein ganzes Wochenende bei seinen Onkeln.

  Früher war Tal Levy mit seinen Filmen beschäftigt, sein Mann mit seiner Kunst. Jetzt rennt Almog morgens um sechs Uhr mit seinen Kuscheltieren ins Schlafzimmer, ruft Tali! Yoavi! Takumu! Tal, Yoav, steht auf! Alles ist aufregend und traurig zugleich in ihrem Leben. Sie lernen, was ein Zweijähriger isst, lesen Bücher vor, gewöhnen Almog die Windel ab, trösten ihn. Auf einem Foto sieht man Almog, wie er auf Tal Levy eingeschlafen ist, kurz nachdem Almogs Eltern aus seinem Leben verschwunden sind. „Ich bin seinem Vater am nächsten“, sagt Tal Levy, „wie ich aussehe, und von der Energie her.“ Etwas, sagt er, sei in diesen ersten Wochen in ihm „aufgeflammt. Ich hatte das Gefühl, Or hat mir eine Nachricht gesendet, Tal, du kümmerst dich jetzt um Almog“.

  Also kümmert sich Tal Levy um Almog.

  Sie fahren an den Strand, weil Almog Sand und Wellen liebt. Am Strand fragt Almog, wo Mama und Papa sind, weil Mama und Papa mit ihm immer am Meer waren. Inzwischen benutzen sie das Wort „tot“, eine der behandelnden Psychologinnen hat ihnen dazu geraten, weil Almog mit drei Jahren mehr verstehe. Tot sein, erklären sie ihm jetzt, das heißt, dass Mama nicht mehr mit dir reden und spielen kann, dass sie dir keine Umarmungen geben kann. Über den Vater im Gazastreifen sagen sie: Papa ist weit weg. Er möchte wahnsinnig gerne zu dir zurückkehren, aber im Moment kann er nicht. Manchmal versteht Almog das nicht. „Ein Kind“, sagt Tal Levy, „denkt ja, Erwachsene könnten alles.“ Schwierig seien die Momente, sagt Tal Levy, in denen Almog nicht fragt, „wo ich spüre, dass er plötzlich abschaltet“. Letztens trafen sie auf der Straße eine Nachbarin und deren Sohn, der so alt ist wie Almog. Almog verstummte. Betrachtete die Frau und das Kind, „und ich habe gesehen, wie es in ihm gearbeitet hat“.

  In Tal Levy und seiner Familie arbeitet es auch, ständig. Gerade sorgen sie sich, dass der Krieg in Libanon die Freilassung der Geiseln in unendliche Ferne rücken wird. Als Filmemacher, sagt Tal Levy, wisse er: „Bilder der Zerstörung sind viel dramatischer als die von einigen Typen, die nach Hause kommen.“ Dass immer erst Frauen, Alte und Kinder freigelassen werden sollten, findet er nicht richtig. „Das hieße ja, dass Menschen wie mein Bruder Jahre in Gefangenschaft verbringen könnten.“ Für ihn und seinen Bruder Michael fühle es sich an, als ob in Israel mittlerweile aufgerechnet werde, ob es sich noch lohne, Tausende hier inhaftierte Palästinenser freizulassen für 101 Geiseln, von denen ein Drittel nicht mehr am Leben sein soll. „Welchen Preis hat menschliches Leben?“, fragt Tal Levy.

  Der Schutzbunker, in dem Or Levys Frau Eynav getötet wurde und 16 andere Menschen, steht noch an der Bundesstraße 232, nicht weit vom Partygelände entfernt. Er ist frisch gestrichen. „Wir werden für immer tanzen“, hat jemand auf die Fassade geschrieben. Michael Levy war vor ein paar Wochen das erste Mal dort, mit seinem Vater. Ob Eynav ihrem Mann noch etwas hat sagen können, bevor sie gestorben ist, haben sie sich gefragt. Das Partygelände ist zu einem Wallfahrtsort geworden. Hunderte Menschen betrachten die Fotos der Getöteten, die an Schildern befestigt sind, fotografieren, lesen auf Schautafeln, wie die Hamas-Terroristen die Kühlschränke der Bar durchsiebt haben, in denen sich Menschen versteckt hatten. Auf der Bundesstraße sieht man bis heute schwarze Flecken im Asphalt, von verbrannten Autos.

  Seit einem Jahr war Michael Levy kaum zu Hause. In den vergangenen Monaten habe er nie mehr als drei Stunden am Stück geschlafen. Er erkennt sich im Spiegel kaum wieder. Seine drei Töchter wollten manchmal nicht in die Schule, weil sie Angst hätten, dass auch ihren Eltern etwas zustoßen könnte. Michael Levy zu treffen, ist schwierig. Allein in den letzten beiden Wochen war er in New York, Paris, London, sogar den Papst hat er getroffen. Als die Armee ihm und den Eltern mitgeteilt hatte, dass Or Levy in den Gazastreifen entführt worden ist, versprach Michael Levy seinen Eltern, er werde alles dafür tun, dass sein kleinerer Bruder Or zurückkehrt. Seinen Job bei Tiktok Israel lässt er pausieren. Es fühle sich an, sagt er, als würde er das Leben eines anderen leben.

  Es gibt Tage, erzählt Michael Levy beim Zoom-Call, da schaffe er es nicht aus dem Bett, so sehr lähmt ihn das Bild von seinem blutverschmierten, weinenden Bruder auf dem Pick-up-Wagen der Terroristen. Morgens überlistet er sich manchmal selbst. Heute kommt Or frei, sagt er sich dann, heute wird die Armee anrufen und sagen, man habe Or befreit, in ein paar Stunden könne er ihn in die Arme schließen. Und immer wieder kriecht in ihn die Hoffnungslosigkeit, dann wird er wütend, appelliert öffentlich an die Regierungsmitglieder, sich das grauenhafte Hamas-Video anzuschauen, das Entsetzen in den Gesichtern von Or, Hersh und Elia.

  Erst vor ein paar Wochen, im Juli, hat sich Michael Levy zum ersten Mal in die Wohnung seines Bruders und seiner Schwägerin getraut. Freunde hatten die Möbel dort mit Plastikfolien überzogen, den Kühlschrank vom Strom genommen, den Briefkasten geleert. In der Küche fand Michael Levy Kekse seiner Mutter, in Almogs Zimmer stand er vor dessen Kinderbett, in das Almog heute nicht mehr reinpasst. Was macht man mit der Wohnung einer Familie, wenn die Mutter tot ist, der Vater in einem Tunnel gefangen gehalten wird? Sie bezahlen seit einem Jahr die Miete und den Internetanschluss.

  Ein Freitagmittag in einem Hotel in Herzlija-Pituach, einer kleinen Küstenstadt nahe Tel Aviv, wo Botschafter residieren und Rentner in Sieben-Sterne-Altenheimen. Tal Levy, sein Mann und Almog und ein paar andere Familien sind übers Wochenende hierhin eingeladen worden, von Menschen, die ihnen eine Freude bereiten möchten. Almog liebt es im Hotel, den Pool, das Meer, das Büfett mit Süßigkeiten und Obst. Er greift sich eine Birne, dann nimmt er Tal Levy an der Hand, er will den Clown sehen am Pool. Der Clown soll die Kinder zum Lachen bringen, deren Eltern am 7. Oktober getötet worden sind.

  Geula und Avi Levy winken Almog hinterher. Die Großeltern sind für ein paar Stunden ins Hotel gefahren, übernachten werden sie nicht. Sie möchten zu Hause sein, wenn die Armee an ihrer Tür klingelt. „Ich spüre, dass Or lebt“, sagt Geula Levy, 68, schwarzes Hemd, schwarze Hose, schwarze Schuhe. Seit dem 7. Oktober trägt sie nur Schwarz. Auf ihrem Handybildschirm ist ein Foto von Or zu sehen, sie küsst es, sagt sie, „hundert Mal am Tag“. Ihr Mann Avi, 72, weiße Haare, Dreitagebart, Jeans, schaut seinem Enkelsohn nach, Tränen in den Augen. „Wenn ich Almog sehe und über ihn spreche, weine ich.“ Er denkt dann an seinen Sohn, der bestimmt jede Minute an Almog denke. Wie er durch die Tage kommt, seit einem Jahr? „Man tut alles, um die nächsten Stunden zu überleben.“ Nur mit Schlaftabletten könne er einschlafen. Er hat mit Pilates angefangen, geht schwimmen, und jeden Samstagabend auf die große Demonstration in Tel Aviv. „Ich muss das Haus verlassen“, sagt er, „sonst werde ich verrückt.“ Geula Levy hört ihrem Mann zu, knetet das Handyband, sagt: „Es tut so weh, wie an einem klaren sonnigen Tag eine ganze Familie zerbrechen kann.“ Sie selbst habe „nicht das Privileg“, zusammenbrechen zu können, „ich muss stark sein für Or und Almog“. Vor Almog tue sie so, als wäre alles normal, „aber nachts weine ich“.

  Letztens hat Almog auf ein Foto am Kühlschrank von Geula und Avi Levy gezeigt, Or und seine Frau Eynav sind darauf. „Michael“, hat Almog gesagt. Die Großeltern haben ihn korrigiert, nein, Moggi, das sind dein Papa und deine Mama. Papa wird gesucht. Almog überlegte kurz, dann hat er gefragt: „Kommt Papa wirklich zurück?“ Avi Levy sagt, er habe Angst, dass Almog vergessen könnte, wer sein Vater ist, wer seine Mutter war. Und Almog? Hat nach der Frage um einen Keks gebeten. „Moggi holt uns ins Leben zurück“, sagt Geula Levy.

  Sie sitzt in dem klimatisierten Hotelraum, draußen sieht man Menschen im türkisfarbenen Meer surfen und schwimmen. Als der Preis von Hüttenkäse gestiegen ist in Israel, sagt sie, „da gingen alle auf die Straßen“. Aber jetzt, ein Jahr nach dem 7. Oktober? Ich dachte, sagt sie, wir Israelis halten zusammen. Ich verzweifle an meinem eigenen Land, sagt Avi Levy, „wir sind doch immer in dem Glauben aufgewachsen, wir lassen nie einen entführten Juden im Stich!“ Im Judentum, sagt Geula Levy, müsse jeder Mensch gerettet werden. „Warum ist mein Sohn immer noch im Gazastreifen? Was geht Netanjahu durch den Kopf? Ist ihm sein Sitz wichtiger als mein Sohn?“

  Es gebe Leute, sagt Geula Levy, die sagten ihr „ins Gesicht: Geiseln zurückholen, aber nicht um jeden Preis“. Sogar zwei Brüder von ihr dächten so. Sie versteht das nicht. Für den israelischen Soldaten Gilad Schalit, der fünf Jahre im Gazastreifen gefangen gehalten wurde, hat Israel 2011 tausend inhaftierte Palästinenser freigelassen. Sie schweigt, sagt: „Es ist nicht leicht.“ Vor ein paar Tagen hat sie von Or geträumt, dass er schwimmt. In vielen Kulturen, hat man ihr gesagt, bedeute Wasser Leben. Vor ein paar Wochen ist ihr Sohn 34 geworden, in einem Tunnel im Gazastreifen.

  Tal Levy kommt in den Raum, fragt, ob seine Eltern hungrig seien. Almog ist am Pool eingeschlafen, er habe viel gelacht über den Clown. Er schaut aufs Meer und den blauen Himmel, wie friedlich das alles aussieht, sagt er. Tal Levy hat viele Fotos gemacht von Almog und der Clownin, und alle Fotos auf das Handy seines Bruders geschickt. Jeden Tag whatsappt Tal Levy seinem Bruder Fotos von Almog, auf das Handy, das die Armee im Gazastreifen geortet hat. Damit Or Levy nach seiner Rückkehr sehen kann, wie Almog sich entwickelt hat.

  Am Abend werden sie Almog früh schlafen legen, so ein Tag am Strand schlaucht. Sie werden ihn duschen, ihm die Zähne putzen und ein Buch vorlesen, so wie sie das jetzt schon ein Jahr lang tun. Im Moment mag Almog am liebsten die Geschichte von „Ayelet metajelet“, Ayelet reist, ein Buch, das jedes Kind in Israel kennt. Das Mädchen Ayelet begibt sich auf einen Ausflug, ganz allein, und als sie nach Hause zurückkehrt, mit Giraffe, Schnecke, Hund, öffnet ihre Mutter die Arme ganz weit und Ayelet rennt auf sie zu, gleich wird die Mutter sie in ihre Arme schließen.

  Das letzte Mal, als Tal Levy Almog diese Geschichte vorgelesen hat, wollte Almog nicht, dass er das Buch schließt. Er betrachtete die Seite mit der Mutter und der Tochter und sagte: Da ist die Mama! Da ist die Mama! Tal Levy hat Almog dann fest in die Arme genommen und ihn gefragt, ob er seine Mutter vermisse. Almog hat nicht geantwortet. Er hat das Buch umarmt.