"Die Transition von Nadine zu Nils - Wie lange willst du noch damit warten?"

Von Ingo Bach, Sophie Peschke und Team

Nils Mertins wurde 1976 als Nadine geboren. Mehr als 40 Jahre später lässt er sein angeborenes Geschlecht an sein empfundenes anpassen. Sein Lebensweg erzählt viel über das Leben als trans Mann in Deutschland.

Nils
Marcus Glahn für den Tagesspiegel

Der Tagesspiegel hat monatelang die Transition des trans Mannes Nils Mertins begleitet. Dabei entstand ein in dieser Form wohl einmaliges Projekt. In einem Zeitraum von acht Monaten trafen wir Nils Mertins immer wieder, verfolgten seine Entwicklung, fragten nach seinen Erfahrungen, waren bei den Operationen dabei. Einzigartig ist auch die Vielzahl der Kanäle, auf denen die Redaktion die Interviews, Videos und Fotos zugänglich machte.

Am Anfang dieses Projektes stand die große Operation, in der mehrere Chirurgenteams parallel die einzelnen Schritte der körperlichen Transition an einem Tag durchführten. Diese Operation fand am 1. September 2023 in der privaten Meoclinic an der Friedrichstraße statt.

Wer so etwas über sich ergehen lässt, der meint es ernst. Der Körper von Nils Mertins wird nach dieser Operation mit erheblichen Wunden bedeckt sein. Ihm werden die Brüste amputiert und die inneren weiblichen Geschlechtsorgane entfernt. Die Vagina wird stückchenweise entnommen und danach die Vulva vernäht. Am linken Unterarm wird großflächig die Haut abgeschält und daraus ein Penis gerollt, der oberhalb der ehemaligen Vulva verpflanzt wird. Die Wunde am Unterarm wird verschlossen mit der präparierten Haut einer der entfernten Brüste.

Das alles verursacht einen großen Aufwand. Drei Operationsteams werden größtenteils parallel arbeiten, um diese All-in-One-Operation in weniger als zehn Stunden über die Bühne zu bringen – also in deutlich kürzerer Zeit als so manche Erstgeburt.

Und irgendwie ist das, was hier im OP-Saal der privaten Meoclinic in Berlin geschieht, tatsächlich einer Geburt ähnlich. Denn am Ende dieses Mammuteingriffes wird ein neuer Mensch stehen. Aus Nadine wird Nils.

Nils Mertins ist ein trans Mann. Er wurde nicht mit einem Penis geboren, sondern mit einer Vagina. Seine Eltern gaben ihm den Namen Nadine. Schon in seiner frühen Kindheit fand Nils das nicht richtig. „Mit vier Jahren war mir klar, dass ich ein Junge bin“, sagt der heute 47-Jährige. Damals hätte er viel lieber Philipp heißen wollen, wie ein Nachbarsjunge, den er so cool fand und auf den er ein bisschen neidisch war. „Ich musste aber meistens Nadine sein“, sagt er heute.

Als die Pubertät kam, ging diese Klarheit in den Empfindungen verloren. Die Hormone haben vieles verändert. Doch eines blieb: dieses diffuse Gefühl, dass etwas nicht stimmte, dass er nicht so richtig dazugehörte. „Ich fand den Rosa-Schleifchen-Krams blöd. All das, was Mädchen in meinem Alter toll fanden, das fand ich doof.“

Noch im Erwachsenenalter versucht Nils, etwas zu verstecken

Die Frage „Was ziehe ich bloß an?“ begleitete Nils seine ganze Jugend über. Bei der Konfirmation zum Beispiel hätte er gern einen Anzug getragen. „Das aber habe ich nie gewagt zu sagen. Ich war ja ein Mädchen.“ Die Lösung war ein Kleidungskompromiss. „Es wurde dann so ein Hosenrock-Dingsbums und eine Bluse mit einem komischen Rüschenkragen.“

Noch heute ist die Kleiderfrage eine wichtige für Nils Mertins. Als wir ihn im September 2023 zum ersten Mal treffen, trägt er kurze Haare, Jeans, Sneaker und ein sehr locker sitzendes Hemd. Selbstbewusst und trotzdem leicht gebeugt sitzt er vor der Meoclinic in einem der Parklets, die im Sommer 2023 die Friedrichstraße noch autofrei halten.

Mit seiner Körperhaltung suchte Nils etwas zu verbergen, was andere gern betonen: seine Brüste. „Ich bin ständig unbewusst leicht gebeugt gegangen, damit locker sitzende Shirts meine Brüste verbergen.“

Seine Silhouette verdecken oder wegdrücken zu müssen, das soll jetzt ein Ende haben. Es sind nur noch wenige Tage, bis Nils weiblicher Körper in der All-in-One-Operation in einen männlichen verändert wird – und damit auch äußerlich zeigt, was Nils Mertins im Inneren seit seinen frühesten Kindertagen fühlt.

Als wir Nils kurz vor der Operation treffen, ist er 46. Man merkt ihm an, dass er sich schon lange mit seiner Transition, also dem Übergang von seinem angeborenen Geschlecht in sein empfundenes, auseinandergesetzt hat und ein langer Weg hinter ihm liegt.

Er hat viel zu erzählen und er tut das überlegt und reflektiert, wie jemand, der tief in die eigenen Befindlichkeiten eingetaucht ist. Er hat dadurch die Fähigkeit gewonnen, etwas nachempfinden zu lassen, was viele Menschen nur schwer nachvollziehen können: Wie es ist, wenn man im falschen Körper geboren wurde.

Nils Mertins gestattet dem Tagesspiegel, ihn auf diesem Weg zu begleiten – und klärt am Ende auch die wichtigste Frage: Ist er nach dem Ende der Operationen, nach dem Verheilen der Wunden glücklicher als zuvor?

Ein Coming-out, aber keine Erleichterung

Am Anfang aber steht eine andere Frage: War er bisher unglücklich? Immerhin hat sein weiblicher Körper ihm ein Geschenk gemacht, das Männern normalerweise versagt bleibt: Nils Mertins gebar vor vierzehn Jahren eine Tochter. Da lebte er schon lange in einer Beziehung mit einer Frau.

Das Coming-out als vermeintlich lesbische Frau hatte Nils schon mit 18. Sieben Jahre später lernte er seine Partnerin kennen, mit der er 20 Jahre zusammenblieb. Sie heirateten, kauften sich ein Haus, bekamen beide je ein Kind. „Ich habe aber nie gesagt, ich bin lesbisch“, sagt Nils heute. „Ich habe mich ja nicht als Frau gefühlt.“ Aber was sollte es dann sein, fragte er sich. „Weil du eine Frau bist, die Frauen liebt, bist du nicht hetero. Dass ich im falschen Körper steckte, das hat mein Kopf nicht hergegeben.“

Auf der Suche nach sich selbst

Deshalb blieb Nils Mertins auch die Erleichterung, die viele homosexuelle Menschen nach ihrem Coming-out verspüren, versagt. Er war weiter auf der Suche nach sich selbst, obwohl es, wie er heute sagt, auch glückliche Momente gab. „Meine Frau und ich haben gut harmoniert.“ Aber: „Ich habe in dieser Zeit 25 Kilo zugenommen. Ich habe den Kummer offenbar in mich hineingefressen.“

Das änderte sich 2022. In diesem Jahr hatte Nils sein zweites Coming-out, als trans Mann. Wegen körperlicher und psychischer Verspannungen machte er zu der Zeit bei einer Heilpraktikerin eine sogenannte Craniosakraltherapie. Das ist eine alternative Heilmethode, bei der eine Therapeutin mit leichtem Ziehen und Drücken eine körperliche Reaktion auslöst. Die aus der Osteopathie hervorgegangene Methode ist umstritten, ihre Wirkung bisher nicht wissenschaftlich belegt.

Für Nils Mertins wurde eine der Therapiesitzungen im September 2022 aber zum Schlüsselmoment. Er erinnert sich an alles, weil es so wichtig für ihn wurde:

„Ich saß vor der Heilpraktikerin und meinte: ‚Mein Kopf macht mich verrückt.‘

Sie fragte: ‚Was macht dich daran verrückt?‘

Darauf ich: ‚Kopf und Körper passen nicht.‘ – ‚Was passt nicht, der Kopf oder der Körper?‘

Und plötzlich war mir klar: ‚Der Kopf passt nicht zum Körper.‘

Die Heilpraktikerin startete die Craniosakraltherapie mit den Worten: ‚Ich weiß nicht, wie lange du damit noch warten willst!‘“

Diesen letzten Satz bezeichnet Nils Mertins als Auslöser für den größten Schritt seines Lebens. Ihm wurde klar, dass er jetzt sofort vieles ändern wollte, ja musste. Die 25 Kilo vom Frustessen verlor er in den folgenden Monaten schnell wieder. Er ist heute schlank.

Auf die Erkenntnis folgten Behördengänge, um den Geschlechts- und Namenseintrag zu ändern. Nach dem damals noch gültigen Transsexuellengesetz ein aufwendiges und teures Prozedere.

Nils, der in Bielefeld als Krankenpfleger für behinderte Kinder arbeitet, geht die Transition systematisch an. Oder wie er es ausdrückt: Er beschritt einen furchtbar komplizierten und anstrengenden Weg.

Nils Mertins wählt die All-in-One-Operation: „Alles in einem Rutsch“

Er erkundigte sich, welche Methoden es gab, um das angeborene Geschlecht in das empfundene zu ändern und startete Anfang 2023 die Hormontherapie mit Testosteron.

Er suchte nach trans Menschen, die mit ihm ihre Erfahrungen teilten und ihm mit Ratschlägen halfen, fand eine Psychotherapeutin für die psychologischen Gutachten, die nötig sind, damit die Krankenkassen die Operationskosten übernehmen – und stieß schließlich auf die Berliner Meoclinic, wo der Chirurg Paul Jean Daverio eine All-in-One-Operation anbietet, inklusive einer von ihm entwickelten Methode, aus der Haut des Unterarms einen Penis zu formen. Als einer von wenigen.

Doch damit begann der nächste Kampf. Denn Operationen an privaten Kliniken, die nicht für die Behandlung von gesetzlich Versicherten zugelassen sind, müssen die gesetzlichen Krankenkassen nicht bezahlen. Sie können es aber freiwillig tun, ganz oder anteilig. Nils Mertins fand eine Kasse, die von der Gesamtsumme von mehr als 50.000 Euro, die die Meoclinic für den aufwendigen Eingriff in Rechnung stellt, einen großen Teil übernimmt.

Um die 12.000 Euro aber bleiben an ihm selbst hängen. „Da ist es natürlich ein Vorteil, dass ich nicht 20, sondern schon 46 bin und lange arbeiten und sparen konnte“, sagt er pragmatisch. „Ich muss dafür also keinen Kredit aufnehmen, wie es andere schon tun mussten.“

Er hat die Actionfigur eines sehr männlichen Idols in der Klinik dabei

Er hat das so gewollt und er wird – etwas später, wenn sich die Wunden beginnen zu schließen und er die ersten Runden auf dem Krankenhausflur drehen kann – sagen, wie glücklich es ihn macht, sich für diesen Weg entschieden zu haben. Normalerweise dauert die Angleichung Wochen oder gar Monate, verteilt auf mehrere Operationstermine. Doch Nils Mertins wollte alles „in einem Rutsch“, wie er sagt. „Ich habe so lange gewartet, ich habe keine Zeit mehr zu verlieren.“

Elf Tage nach der All-In-One-Operation kann Nils Mertins schon wieder herumgehen, nutzt die Flure des Krankenhauses für immer längere Spaziergänge. In zwei Tagen soll er entlassen werden, einen Tag früher als geplant. Die Heilung läuft gut, sagt Nils. Noch aber trägt er mehrere Verbände. Zeugen dafür, dass er eine große Operation hinter sich hat.

Auf seinem Nachttisch im Krankenhaus steht eine He-Man-Figur, die auf einer Fabelraubkatze reitet. Er hat sie von zu Hause mitgebracht. He-Man ist eine Action-Puppe: ein muskelbepackter Held aus den 1980er Jahren.

Heutzutage würde er wohl gemeinhin als leicht übertriebenes Bild von Männlichkeit wahrgenommen. Für Nils beinhaltet gerade das eine besondere Symbolik: „He-Man steht für Maskulinität, Furchtlosigkeit und Durchhaltevermögen – alles Dinge, die gerade für mich eine große Rolle spielen.“

Mit seiner Gesichtsbehaarung ist Nils noch nicht ganz zufrieden.

Was neben den Verbänden außerdem auffällt: Nils’ Stimme ist etwas tiefer geworden. Aber noch immer klingt sie etwas höher als bei anderen Männern. Und auch mit seiner Gesichtsbehaarung ist Nils noch nicht recht zufrieden. Aber trotzdem gebe es starke Veränderungen. Sein Gesicht sei kantiger geworden, sagt er. Und der Unterkiefer etwas nach vorne gerutscht. Früher habe er einen Überbiss gehabt. Das sei jetzt fast ausgeglichen. Und sein eigener Körpergeruch habe sich verändert.

Es ist Ende Mai 2024, als wir Nils Mertins wieder treffen, erneut in einem Patientenzimmer der Meoclinic. Er ist gut gelaunt, aber auch geschwächt. Denn es ist der erste Tag nach dem finalen Schritt seiner Transition.

Sieben Monate nach der All-In-One-Operation hat der Chirurg Paul Jean Daverio den in der großen OP aus der Haut des Unterarms geformten Penis mit einer Erektionsprothese funktionstüchtig gemacht. Aus den zuvor zusammengenähten äußeren Schamlippen hat er außerdem einen Hodensack geformt, um darin das Pumpelement der Prothese und einen künstlichen Hoden zu platzieren.

Nils spricht ganz offen und ohne Scham über all das. Das gilt auch für die Dinge, mit denen er nicht zufrieden ist. Etwa die breiten Narben an seiner Brust, die ihn daran erinnern, dass dort einmal Brüste waren. „Ich habe bei anderen trans Männern gesehen, dass es auch dünnere Narben gibt.“ Und doch sagt er: „Die Dankbarkeit, keine weibliche Brust mehr zu haben, überwiegt die kleine Unzufriedenheit mit der Optik der Narben.“

Mit seinem nachgestalteten Penis ist Nils zufrieden. „Ich hatte vor einigen Tagen schon meinen ersten Orgasmus.“ Auch wenn er bei der Masturbation gespürt habe, dass die Lustgefühle von der Klitoris kamen, die sich unter dem Penisaufbau befindet. Mit der Zeit sind die Nerven von dort – so wie es gewollt war – in den Penis gewachsen.

Nils Mertins ist gespannt, wie sich sein Sexleben mit dem funktionstüchtigen Penis entwickelt. Er wird mehr Erfahrungen sammeln im Umgang mit ihm – ebenso wie seine Sexualpartnerinnen und -partner. Nils freut sich darauf, immer mehr über sich zu lernen. Denn abgeschlossen ist die Transition wohl nie.

„Ich spüre in mir meinen richtigen, meinen männlichen Körper zu 100 Prozent“, sagt er. Womit wir wieder bei der Frage vom Anfang wären, der nach dem Glück. „Der Eingriff ist der schwerste Schritt meines Lebens“, sagt Nils. „Und er ist gleichzeitig der entscheidende Schritt, der zu meinem Glück führen wird.“

Nils Mertins ist trans: Sein Weg der Geschlechtsanpassung Teil 1/3