Tanja Stelzer
Kurzbiographie der Nominierten in der Kategorie Reportage 2024
Tanja Stelzer, geboren 1970 in Kronberg im Taunus, studierte Politikwissenschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main und am Sciences Po in Paris. Sie ist Absolventin der Deutschen Journalistenschule in München. Sie arbeitete für die Frankfurter Allgemeine Zeitung und den Tagesspiegel und ist seit 2006 bei der Wochenzeitung DIE ZEIT. Von 2013 bis 2021 war sie Co-Leiterin des Reportage-Ressorts „Dossier“, dann war sie für die Titelgeschichten der ZEIT verantwortlich. Heute ist sie Reporterin. Tanja Stelzer wurde unter anderem mit dem Reporterpreis und dem Egon Erwin Kisch-Preis ausgezeichnet. Zuletzt gab sie das Buch „Und plötzlich ist die Welt eine andere“ heraus, eine Sammlung von Reportagen über die großen Momente der Menschheit.

Im Interview
Wie entstand die Idee zu Ihrem Beitrag und wie haben Sie recherchiert?
Ich hatte in der Süddeutschen von Edmond Réveil gelesen, dem Résistancekämpfer, der nach Jahrzehnten des Schweigens in einem Interview mit einer französischen Regionalzeitung darüber gesprochen hatte, dass seine Partisaneneinheit 1944 eine Gruppe von 47 deutschen Gefangenen erschossen hatte. Die Leichen hatten die Résistancekämpfer vergraben. Mich berührte, dass dieser Mann, der ja für das Gute gekämpft hatte, so sehr von seinem Gewissen geplagt wurde, weil er im Guten etwas Schlechtes getan hatte. Dass er es nach so langer Zeit auf einmal nicht mehr aushielt, dieses Geheimnis für sich zu behalten.
Die Recherche war zunächst als Langzeitprojekt angelegt. Ich dachte: Okay, ich spreche mit ihm, ich begleite die Suche nach den Überresten der Toten – alle dachten ja, dass man dieses Grab schnell finden würde – und dann spreche ich mit den Angehörigen derjenigen, die damals erschossen wurden. Dass das eine Weile dauern konnte, war mir klar. Nicht so schlimm. Bloß: Das Grab wurde bis heute nicht gefunden.
Vor welchen Herausforderungen standen Sie?
Als die Suche nach den Gebeinen für gescheitert erklärt wurde, war ich einigermaßen frustriert. Irgendwie schien meine Reportage auf einmal ins Leere zu laufen. Zum Glück aber fand ich einen lokalen Historiker, der Informationen über die Identität einiger Wehrmachtssoldaten hatte, die schon in den Sechzigerjahren exhumiert worden waren (die Exhumierung musste damals wegen Protesten im Dorf abgebrochen werden). So konnte ich mich doch noch auf die Suche nach Angehörigen machen. Nach zahllosen Telefonaten quer durch die Republik sowie Anfragen bei Einwohnermeldeämtern und Heimatvereinen brachte eine Traueranzeige mich auf die Spur der Familie eines der Getöteten. So saß ich auf einmal in einem Haus in der Nähe von Paderborn, das einmal der Kuhstall dieses Soldaten gewesen war. Und mir gegenüber saß die Enkelin dieses Mannes. Sie war ein absoluter Glücksfall, denn sie hatte sich sehr mit ihrem Großvater beschäftigt, einen ganzen Stapel Feldpostbriefe von ihm transkribiert – und sich immer gefragt, wie sein Leben zu Ende gegangen war und ob er möglicherweise an einem fürchterlichen Massaker beteiligt gewesen war. Mit der Enkelin fuhr ich nach Frankreich zu dem Résistancekämpfer. Die Begegnung der beiden war ein großer Moment der Versöhnung achtzig Jahre nach dem Krieg. Man kann nur hoffen, dass es in achtzig Jahren ähnliche Momente in der Ukraine geben wird. Heute kann man es sich nicht vorstellen. Aber das konnte man damals auch nicht.
Wie wurden Sie unterstützt?
Von vielen Menschen, die ich bei meiner Recherche in Frankreich kennengelernt habe, vor allem von dem Journalisten der Regionalzeitung, der das erste Interview mit Edmond Réveil geführt hatte und der mich dem Lokalhistoriker Hervé Dupuy vorstellte. Vom Team des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge, das – erfolglos – nach den Knochen grub. Von Edmond Réveil selbst und Birgit Mertens, meinen Protagonisten, die mir ihre Geschichten und ihr Vertrauen geschenkt haben. Und natürlich von meiner Zeitung, die es möglich macht, dass man monatelang für eine derart inaktuelle Geschichte recherchiert und noch mal und noch mal auf Recherche fährt – bis sie eben fertig ist.
Was macht für Sie persönlich guten Journalismus aus?
Hingucken, hinfahren. Noch mal hingucken. Nachdenken. Und dann: erzählen.
Was braucht ein herausragender Artikel?
Eine wirklich gute Geschichte. Wirklich gute Gedanken. Und eine Dramaturgie, die mich all das Dringende vergessen lässt, das ich gerade tun wollte.