Dem Sturm ausgeliefert

Von Moritz Aisslinger

Ein Frachter auf dem Weg nach China. Ein Taifun. Eine verzweifelte Crew. Das Schicksal der »Gulf Livestock 1« liefert Einblicke in die Abgründe der globalen ­Schifffahrt.

Die Zeit

Als der Kapitän der Gulf Live­stock 1 gerade dabei ist, sein Frachtschiff mit 43 Mann und 5867 Kühen an Bord in der endlosen Dunkelheit des Pazifiks mitten durch einen Taifun zu steuern, blinkt 10.000 Kilometer entfernt, in einer Neubauwohnung im nordrhein-westfälischen Uerdingen, ein Handy auf. Es ist eine Nachricht auf WhatsApp, sie kommt direkt von der Gulf Live­stock.

Sag nichts der Mama aber unser Engine Control Raum hat sich soeben mit Wasser gefüllt und Motor ist jetzt ausgefallen.

In der Neubauwohnung in Uerdingen nimmt Jens Orda sein Handy, liest. Er ist Anfang 30, die Nachricht hat ihm sein jüngerer Bruder Lukas geschickt. Jens Orda tippt sofort eine Antwort.

Ist sowas schlimm?

Es ist der 1. September 2020, 12.19 Uhr, mittags, deutsche Zeit.

Lukas schreibt: Keine Ahnung..... aber wir haben über 100km/h Wind und mehr als 10m Wellen und können nicht lenken....

Lukas Orda ist 25 Jahre alt und arbeitet als Tierarzt auf der Gulf Live­stock, er kümmert sich um die Kühe. Die Besatzung soll sie von Neuseeland nach China bringen. Die Chinesen haben die Tiere zur Zucht eingekauft.

Als Lukas Orda seine Nachrichten sendet, befindet sich der Frachter im Ostchinesischen Meer. Dort ist es später Abend. Kein anderes Schiff ist weit und breit in der Nähe, sie alle sind dem Taifun eilig ausgewichen. Nur die Gulf Live­stock 1 ist genau dort, wo der Sturm am tödlichsten ist. Einsam und angeschlagen kämpft sie gegen ihn an.

Lukas Orda schreibt an seinen Bruder: Die Wellen hören sich an wie Donner wenn die das boat treffen.

Um 14.28 Uhr deutscher Zeit schickt Lukas ein Video, er hat es von der Kommandobrücke aus aufgenommen: Wellen türmen sich vor dem Schiff auf, sie schlagen auf den Bug ein. Der riesige Frachter, 139 Meter lang, Tausende Tonnen schwer, ächzt von einer Seite zur anderen. Nach 18 Sekunden bricht das Video ab.

Auch Stunden später hat Jens Orda nichts mehr von seinem kleinen Bruder gehört. Er schreibt ihm: Sag mal was... werd schon ganz nervös.

Sein Bruder antwortet nicht.

Am nächsten Mittag, sagt Jens Orda heute, habe seine Mutter angerufen: Das Schiff, auf dem der Lukas ist, ist verschwunden.

An jenem 2. September 2020 versinkt für 41 Familien ein Leben, und ein neues beginnt, eines ohne den Bruder, den Sohn, den Ehemann, den Vater. Zwei Männer werden aus den Fluten gerettet, ein dritter wird tot gefunden. Die anderen 40 sind bis heute verschollen, auch Lukas Orda.

Die Gulf Live­stock 1 wurde, noch unter einem anderen Namen, in Deutschland gebaut. Eine deutsche Firma hat sie zuletzt gemanagt. Dennoch hat ihr Schicksal hier kaum für öffentliches Interesse gesorgt. Die wenigsten machen sich große Gedanken über diese fremde Welt da draußen, das Meer ist Urlaub und Strand und Sonne und Eis, kein Ort der Arbeit und Ausbeutung.

Die globale Schifffahrt ist der Motor des Kommerzes im 21. Jahrhundert. Mehr als 90 Prozent aller Güter werden auf Schiffen rund um den Globus getragen, der Transportweg über See ist schnell, effizient, günstig. Die Eigner bedienen sich aus einem schier unerschöpflichen Pool von Arbeitskräften, die in kleinen Crews auf riesigen Frachtern für niedrige Löhne endlose Stunden schuften. Nur auf diese Weise ist es möglich, dass T-Shirts aus ­Bangladesch für fünf Euro in europäischen Kleidungsgeschäften landen, Handys aus China für 200 Euro in Elektronik­filialen, Bananen aus Kolumbien für 99 Cent in Discounterregalen. Oder Milchkühe aus Neuseeland nach China exportiert werden.

Es ist eine unbekannte Welt, in die die Recherche zum Untergang der Gulf Live­stock 1 führt. Eine Welt, in der alle paar Tage ein größeres Schiff verloren geht, 892 waren es in den vergangenen zehn Jahren, sie sinken, brennen, kollidieren. Eine Welt, in der all diese Unglücke selten ernst zu nehmende Ermittlungen nach sich ziehen und die Wahrheit so für immer verborgen bleibt. Eine Welt, in der Waren oft besser versichert sind als Menschen und Vorschriften kaum durchgesetzt werden. Eine Welt, in der ein Schiff wie die Gulf Live­stock mit 43 Männern und 5867 Kühen an Bord untergeht und die andere Welt, die Welt an Land, kaum etwas davon mitbekommt.

Ende Juni 2020, zwei Monate vor dem Untergang, besteigt Lukas Orda im Hafen von Portland im Süden Australiens die Gulf Live­stock 1. Ein Bekannter hat ihm rund zwei Wochen zuvor von der Möglichkeit erzählt, auf einem Viehtransporter anzuheuern. Als studierter Tierarzt könne er da gutes Geld verdienen und ein bisschen was erleben. Lukas Orda hat noch nie auf einem Schiff gearbeitet. Aber er hat Zeit zu überbrücken. Im Herbst soll er in einer Tierarztpraxis anfangen, bis dahin hat er frei. Er sagt zu.

Lukas Orda hat einen Plan. Er will für ein paar Wochen auf dem Frachter arbeiten, die Tiere um­sorgen und sich dann mit dem Geld einen Traum erfüllen: ein Haus für ihn und seine kleine Familie. Im Februar ist er zum ersten Mal Vater geworden, Theo, 3960 Gramm leicht, 57 Zentimeter klein.

Zwei Jahre später ist Theo ein paar Kilo schwerer, ein paar Zentimeter größer, ein Junge mit rötlichem Haar und Spider-Man-Pullover, er rennt durch den Garten seiner Großeltern, einem Welpen hinterher, lacht, bleibt stehen, sieht die Schaukel, vergisst den Hund. Jetzt will er schaukeln.

Ein Vormittag in der australischen Küstenstadt Towns­ville, 190.000 Einwohner, 1300 Kilometer nördlich von Bris­bane, knapp 30 Grad, blauer Himmel, Sonnenschein. Ulrich Orda hebt Theo in die Schaukel, seine Frau Sabine schaut den beiden von der Terrasse ihres Hauses aus zu. Hinter ihnen, dort, wo der Garten endet, beginnt ein einsamer Strand, dann das Meer. Drei Bootsstunden weiter draußen erstreckt sich das Great Barrier Reef.

Die Ordas kommen eigentlich aus Krefeld. Ulrich und Sabine Orda führten dort eine Hausarztpraxis. 2008, da war Lukas 13, wanderte die Familie mit drei ihrer vier Kinder nach Australien aus, nur Jens, der Älteste, blieb für das Studium zurück in Deutschland. Ulrich Orda hatte das Angebot erhalten, in einer Minenstadt im Outback die Notaufnahme eines Krankenhauses zu leiten. Das macht er bis heute.

Für seine Verdienste hat ihn die Ärztevereinigung im vergangenen Jahr zur »Legend of the Bush« ernannt, auch Sabine Orda, die die Notaufnahme verwaltet, wurde für ihr En­gage­ment geehrt. Ihr Haus hier in Towns­ville hat kürzlich einen Architekturpreis bekommen. Das Ehepaar teilt sich seine Zeit zwischen Outback und Küste auf.

Ein Seeadler gleitet über den Garten. Ulrich Orda guckt nach oben. »Dat müsste dat Männchen sein!«, ruft er. Man hört auch am anderen Ende der Welt das Rheinland noch durch. »Gibt hier ein Pärchen.«

Lukas, sagt Sabine Orda, sei der Umzug nach Australien am schwersten gefallen. Dann aber habe er herausgefunden, dass es in der Nähe ihres neuen Zuhauses einen Reitverein gibt, schon in Krefeld hatte er ein Pferd besessen. »Lukas hatte diese besondere Beziehung zu Pferden«, sagt die Mutter. »Sie wurden sofort ruhiger, wenn er sich ihnen näherte.« Er machte Ausritte in die Wildnis, ausgetrocknete Flussbetten entlang, Hügellandschaften hoch und runter, am Abend Lagerfeuer.

Als Jugendlicher arbeitet er an Wochenenden und in den Ferien auf einer Rinderfarm, es gibt Fotos aus der Zeit, Lukas im Sattel mit Lederstiefeln und Cowboyhut. Nebenbei Rodeo, Schießen, Rugby, Judo. Jedes Jahr schulische Auszeichnungen für sein soziales En­gage­ment.

Nach dem Abschluss studiert er Veterinärmedizin. Er lernt Emma kennen, eine Tierarzthelferin von der australischen Ostküste, 2018 Verlobung, 2019 Hochzeit, 2020 Theo.

»Wir waren gerade dabei, hier in Towns­ville unser Haus zu bauen«, sagt Emma Orda. Sie ist 30 Jahre alt, hat lange rote Haare und trägt noch Kittel und Hose, sie kommt gerade von ihrer Arbeit in der Tierarztpraxis, in der auch Lukas nach seiner Rückkehr vom Schiff hätte anfangen sollen. Sie lebt heute mit Theo in dem Haus, das sie gemeinsam geplant hatten, es steht in der Nähe des Hauses von Sabine und Ulrich Orda. Das sollte ja die Zukunft sein: Sohn und Schwiegertochter wohnen mit dem Enkel in der Nachbarschaft der Großeltern, fahren morgens gemeinsam zur Arbeit, am Nachmittag wieder zurück, und alle zusammen ziehen den Kleinen groß.

Als Lukas Orda das Schiff besteigt, ist Juan Santos bereits seit acht Monaten an Bord. Er ist einfacher Seemann, in der Hierarchie ganz unten. Er füttert die Kühe, füllt ihre Wassertröge auf, mistet die Ställe aus, putzt das Deck. Er ist 41 Jahre alt und einer von 39 Philippinern auf der Gulf Live­stock.

Weltweit arbeiten 1,89 Millionen Menschen auf Handelsschiffen, mehrere Hunderttausend von ihnen stammen von den Philippinen. Sie kommen meist aus armen Familien, für die Schiffseigner sind sie ideale Arbeitskräfte, billig, oft Englisch sprechend, in der Branche stehen sie im Ruf, zu gehorchen.

Juan Santos kommt aus einer mittellosen Bauernfamilie, er ist einer von Dutzenden Enkeln seiner Großmutter. Seine Eltern sind Analphabeten, der Vater sitzt mit Polio im Rollstuhl. Acht, neun, zehn Monate im Jahr verbringt Juan Santos auf Schiffen, mit seinem Lohn, knapp über 1000 US-Dollar, versorgt er die Eltern und seine eigene Familie, er hat zwei Kinder, der Sohn ist noch klein, die Tochter studiert Ingenieurwissenschaften.

»Es war ihm wichtig, dass seine Kinder eine gute Ausbildung erhalten«, sagt Maria Santos, Juans Tante und Vorbild: Sie hat Chemie studiert und im Ausland in einer Fabrik gearbeitet. Jetzt ist sie in Rente. Maria Santos sitzt in einem Sessel im Wohnzimmer, um sie herum ein kleines tropisches Pflanzenreich, es blüht und grünt und duftet wie in ­einem botanischen Garten. »Ich bin in den phi­lippinischen Bergen aufgewachsen«, sagt sie. »Die Pflanzen erinnern mich an daheim.« Ein Regenguss prasselt aufs Dach ihres einstöckigen Hauses.

Eine Bitte, sagt sie durch den Lärm, man solle weder die Stadt noch das Land erwähnen, wo sie wohne, das könne Rückschlüsse auf ihre Familie zulassen. Der Bruder von Juan und zwei seiner Cousins arbeiteten ebenfalls auf Frachtern, sie seien bei derselben philippinischen Schiffsagentur unter Vertrag, über die auch Juan Santos angestellt war. Deshalb heißen er und seine Tante in Wirklichkeit auch anders.

Von den 15 philippinischen Angehörigen der vermissten Besatzungsmitglieder, die für diesen Artikel kontaktiert wurden, antwortet neben Maria Santos nur eine Person, die Ehefrau eines Maschinisten. Sie würde gerne sprechen, schreibt sie, doch sie habe Angst. »Es könnte sein, dass mein Leben dann in Gefahr wäre.« Auf den Philippinen ist die Schifffahrtsindustrie mächtig und teils skrupellos.

Maria Santos nimmt ihr Handy vom Wohnzimmertisch und öffnet den Messenger von Face­book. »Wir waren ständig in Kontakt, während er auf dem Schiff war. Hier, schauen Sie.«

Die Nachrichten vom Schiff beginnen im November 2019, zehn Monate vor dem Unglück. Juan Santos fragt seine Tante, ob sie die Gulf Live­stock 1 bei der International Transport Workers’ Federation, kurz ITF, melden könne: Aber bitte mach es geheim, sodass sie nicht nachverfolgen können, von wem die Beschwerde kommt.

Die ITF ist die größte internationale Gewerkschaft für Seefahrer. Ihr zufolge gibt es in der Branche »unglaubliche Menschenrechtsverletzungen«, Seeleute würden »routinemäßig dazu gezwungen, unter Bedingungen zu arbeiten, die in einer zivilisierten Gesellschaft nicht akzeptiert werden würden«. Im vergangenen Jahr hat die ITF 37,5 Millionen US-Dollar an ausstehenden Gehältern eingetrieben.

Auch in den Nachrichten von Juan Santos geht es um vereinbarte Löhne, die nicht gezahlt werden, um karge Essensrationen, um den Zustand des Schiffes. Am 20. Dezember 2019 schreibt er: Ich hoffe, dieses Schiff wird wirklich bei der ITF gemeldet, denn mittlerweile haben wir fast keinen Proviant mehr. Die Firma spart.

Ihr Mann, sagt Maria Santos, sei daraufhin ins Büro einer lokalen Seefahrerorganisation gefahren. Man habe ihm gesagt, man leite die Klage weiter ans Hauptquartier der ITF in London. Auf Nachfrage der ZEIT bestätigt die ITF, dass sie eine Beschwerde über die Gulf Live­stock 1 wegen ausstehender Gehälter und zu wenig Proviant an Bord erhalten hat. Sie habe die Hafenbehörde in Australien informiert, da das Schiff dort ankerte. Das Schiffsunternehmen habe die Vorwürfe abgestritten, einige Crewmitglieder hätten dies ebenfalls getan; ob unter Druck oder nicht, ist unklar.

Am 10. Januar 2020 schreibt Juan Santos an seine Tante: Sie sparen echt an uns, besonders beim Essen.

12. Februar: Wir sind hier seit 3 Monaten ohne Gehalt.

15. Mai: Wir haben kein Gehalt. Das Schiff hat kein Geld. 6 Monate an Bord.

Juan Santos berichtet auch vom Motor des Frachters, bereits im Dezember 2019 schreibt er mehrmals, man sei dabei, ihn zu reparieren. Der Motor ist so etwas wie die Lebensversicherung eines Schiffes, ohne ihn hat es bei heftigem Seegang nicht die Kraft, sich gegen die Wellen zu wehren.

Am 18. Juni, auf dem Weg von Indonesien nach Australien, wo kurz darauf Lukas Orda an Bord gehen wird, schreibt Juan Santos: Es ist unglaublich, die Wellen hier, das Schiff schwankt, man kann kaum schlafen, wir rollen hin und her, das macht Kopfschmerzen. Es ist beängstigend.

Das Schiff wurde 2002 auf der Rolandwerft im niedersächsischen Berne gebaut, man taufte es ­Maersk Water­ford. In den nächsten Jahren wechselte es Besitzer und Namen, es hieß Dana Hollandia, Cetus J, Rameh und schließlich, seit 2019, Gulf Live­stock 1. Am Ende gehört es der Gulf Navigation Holding, einem börsennotierten Unternehmen aus Dubai. Der Vorsitzende ist Scheich Tahnun bin Mohammed al-Nahjan, laut eigener Web­site »ein brillanter Kopf«, der seinem Land, den Vereinigten Arabischen Emiraten, mal einen Park spendiert hat mit einem Mini-Eiffelturm und einem Eintrag ins Guinness Buch der Rekorde für die »größte Ansammlung an Hängekörben« voller farbenfroher Blumen.

Bei seinen Schiffen scheint der Scheich weniger spendabel zu sein. Die Gulf Live­stock 1 ist in Panama registriert, sie fährt also unter panamaischer Flagge. Panama gehört, neben Ländern wie Liberia und der Mongolei (wo es gar kein Meer, nur Steppe gibt), zu den sogenannten Billigflaggen. Reeder lassen ihre Flotte dort registrieren, weil es günstiger ist als andernorts, es gibt wenig Vorschriften und viel Verschwiegenheit, und sollte tatsächlich mal etwas passieren, können sie ziemlich sicher sein, dass keine offizielle Stelle sie mit lästigen Fragen stört.

Jahrhundertelang hatten Schiffe in der Regel einen Heimathafen, das Land, zu dem er gehörte, war verantwortlich für Schiff und Besatzung. Nach dem Ersten Weltkrieg begannen amerikanische Reeder, ihre großen Passagierdampfer in Panama anzumelden, um an Bord Alkohol ausschenken zu dürfen, es war die Zeit der Prohibition in den USA. In den folgenden Jahrzehnten zogen die europäischen Reedereien nach, sie wollten bei dieser »Ausflaggung« genannten Praxis Steuern sparen, Löhne kürzen und Arbeitnehmerrechte umgehen. Die Flaggenländer unterboten sich fortan bei Gebühren und Vorschriften. Es war ein Wettlauf in die Abgründigkeit. Längst segelt ein Großteil der globalen Flotte unter Billigflaggen.

Im Prinzip gilt noch immer, was der niederländische Anwalt Hugo Grotius in seinem Werk Mare Liberum 1609 erstmals formuliert hat: Das Meer gehört niemandem, soll aber allen zugänglich sein. Heute besitzen Staaten, die das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen unterschrieben haben, bis zu 200 Seemeilen vor ihrer Küste gewisse Rechte am Meer. Dahinter beginnt die Hohe See. Dort ist dann nicht mehr viel geregelt. Schiffe auf Hoher See sind so etwas wie schwimmende Botschaften, an Bord gelten die Gesetze des Flaggenstaates, im Fall der Gulf Live­stock 1 die von Panama.

Schon das macht es schwer, Rechtsbrüche zu ahnden. Noch schwerer machen es die oft verwickelten Konstrukte aus Unternehmen und Subunternehmen, die an einem einzigen Schiff beteiligt sind. Für die Gulf Live­stock 1 hat die Gulf Navigation Holding eigens eine Tochterfirma gegründet, die Gulf Navigation Live­stock Carrier 1 Ltd. Inc. mit Sitz in Panama. Deren einziger Vermögenswert ist die Gulf Live­stock 1. Das bedeutet: Sollte dem Frachter oder der Besatzung etwas zustoßen, existieren rein juristisch so gut wie keine anderen Vermögenswerte, die Anwälte der Betroffenen als Schadensersatz einfordern könnten.

Bei der Gulf Live­stock 1 ist das aber längst nicht alles. Für ihre letzten beiden Trips wurde sie von einer australischen Rinderfirma gemietet, dort ist Lukas Orda angestellt. Die philippinischen Seefahrer wiederum kommen von einer philippinischen Agentur. Und dann ist da noch die deutsche Reederei MC-Schiffahrt, die bis vor einem Jahr MarConsult Schiffahrt hieß.

MC-Schiffahrt hat seinen Sitz in Hamburg. Der Chef heißt Matthias Dabelstein, er ist seit Jahrzehnten im Geschäft. In Medienartikeln über ihn ist zu lesen, er sammle Old­timer, der Spiegel schrieb 2012, Dabelstein sei ein »selbsternannter Auto­verrückter«, sein Fuhrpark damals: ein Ferrari, ein Aston Martin, ein Porsche, mehrere Mercedes.

Seine Firma hat für Gulf Navigation das technische Management der Gulf Live­stock 1 übernommen. Für ein persönliches Treffen hat Dabelstein keine Zeit, man könne telefonieren, also zwei Telefonate. »Wir als technischer Manager sind so etwas wie der Hausmeister des Schiffes«, sagt er. »Wir sorgen im Auftrag des Schiffsbesitzers dafür, dass die Technik funktioniert.« Für die Bezahlung der Crew und den Proviant seien sie nicht zuständig. »Der Schiffs­eigentümer erwartet von uns, dass die Maschinenanlagen laufen, dass die Hafenbehörde zufriedengestellt wird und die Dinge korrekt abgearbeitet werden.«

Sehr zufrieden scheinen die Hafenbehörden mit der Gulf Live­stock 1 nicht gewesen zu sein. Das Schiff hat eine Geschichte voller Mängel und Schäden. Inspektoren in Australien und anderen Ländern haben sie dokumentiert. Laut Sea-web, der größten Schiffsdatenbank der Welt, waren es mehr als ein Dutzend allein ­zwischen Mai 2019 und Dezember 2019. Mal die Arbeitsbedingungen, mal der Antrieb des Hauptmotors, mal unzureichender Proviant, mal ungeschulte Besatzungsmitglieder. Einige Probleme waren so gravierend, dass die Behörden anordneten, den Frachter festzuhalten, er durfte den Hafen also nicht verlassen. Das wird gemacht, wenn ein Schiff seeuntüchtig ist oder die Mängel ein unangemessenes Risiko für Schiff, Crew oder Umwelt darstellen.

Darauf angesprochen, sagt Dabelstein: Wolle eine Hafenbehörde etwas finden, finde sie immer etwas. Alle Mängel seien behoben worden, sonst hätte das Schiff nicht wieder auslaufen dürfen. Nichts davon, das ist ihm wichtig zu betonen, sei ursächlich für den Untergang gewesen.

Wäre, wie Matthias Dabelstein am Telefon meint, seine Firma der Hausmeister und die Gulf Live­stock 1 die Immobilie, um die er sich kümmert – man würde wohl trotzdem eher nicht dort einziehen wollen.

Eigentlich hatte die Rolandwerft das Schiff 2002 als einfachen Containerfrachter gebaut. 2015 wurde es dann aber zum Viehtransporter umgerüstet. Rund 80 Prozent aller Viehtransporter sind, wie die Gulf Live­stock, für einen anderen Zweck konstruiert worden, sie waren mal Öltanker, Fähren, Frachter. Sie sind alt, teils am Ende ihrer Lebensdauer angekommen. Um so viele Tiere wie möglich an Bord zu schaffen, werden bei der Umrüstung die Ställe stapelweise nach oben gebaut. Das beeinflusst die Stabilität des Schiffes. Der Wind hat nun auf hoher See viel mehr Angriffsfläche. Tritt dann auch noch ein Unwetter auf, werden die Tiere nervös und verängstigt, sie bewegen sich unkontrolliert, sie stürzen oder drängen alle auf eine Seite, was die ganze Kon­struk­tion noch instabiler werden lässt. Dazu kommen die Unmengen an Urin und Fäkalien, sie greifen den Stahl an und lassen ihn rosten.

Zwei Milliarden Tiere, Kühe, Schweine, Ziegen, werden jedes Jahr rund um die Erde verfrachtet. Es sind mitunter gefährliche Reisen. Schiffe, die lebende Tiere transportieren, gehen doppelt so häufig verloren wie normale Frachter, nicht selten sterben dabei Besatzung und Tiere.

Einen Vorteil hat das Ganze aber: Es ist lukrativ. Der Unterhalt der heruntergekommenen Schiffe und der Crew ist günstig, der Gewinn hoch.

Von alldem, den Sicherheits­mängeln und den Arbeitsbedingungen, dem Scheich aus Dubai und dem Autoverrückten aus Hamburg, weiß Lukas Orda nichts, als er Ende Juni 2020 an Bord der Gulf Live­stock 1 geht. Zwei Touren soll er mitmachen, zweimal mit je rund 6000 Kühen nach China.

Das Schiff legt am 25. Juni von Portland ab. Es fährt nach Norden, vorbei an Neukaledonien, vorbei an Vanuatu und Papua-Neuguinea, hinein ins offene Meer. Nach knapp drei Wochen erreicht es China. Lukas Orda, Juan Santos und die anderen entladen die erste Fuhre Tiere, ein kurzer Stopp, dann geht es zurück. Doch unterwegs gibt es Verzögerungen. Die Gulf Live­stock muss auf den Philippinen haltmachen, weil ein Teil der philippinischen Crew ausgewechselt wird. Viele der Männer, so schreibt Lukas Orda auf WhatsApp, seien seit 14 bis 18 Monaten auf dem Schiff gewesen. Bei dem Zwischenhalt besteigt ein neuer Kapitän das Deck, ein neuer Erster Offizier, ein neuer Chefingenieur. Juan Santos bleibt an Bord.

Kurz darauf berichtet Lukas Orda im Familienchat vom Schiffsmotor: in den letzten 24 Stunden ist er 3 mal ausgefallen für um die 18 Stunden insgesamt. Wegen des Crewwechsels und des Motors habe man inzwischen 9–10 Tage Verspätung.

Seine Mutter Sabine Orda antwortet: Oh weih, da hat man kein Vertrauen.

Lukas Orda: Captains comment als ich mit ihm gesprochen habe war »hoffentlich können wir es reparieren« haha sehr motivierend.

Sabine Orda: Muss ich mir Sorgen machen?

Lukas Orda: Nein natürlich nicht.

Der Motor springt wieder an, doch die Probleme des Schiffes scheinen längst unübersehbar. In einem späteren Bericht zur Katastrophe der Gulf Live­stock, den der Anwalt der Ordas nach eigener Aussage bei einem renommierten Schifffahrtsexperten in Auftrag gegeben hat, steht: »Die vorliegenden Beweise deuten darauf hin, dass der Kapitän und der Chefingenieur das Management des Unternehmens über die Probleme informiert haben (...). In einer E-Mail zwischen dem Kapitän und dem Unternehmen, die wir einsehen konnten, fragt der Kapitän, ob er den Behörden bekannte Unstimmigkeiten aufgrund fehlender Ersatzteile offenlegen darf. Dies könnte ein Hinweis auf eine Kultur der Angst sein, wahrheitsgetreu und integer zu berichten oder rechtswidrige/unsichere Anweisungen des Unternehmens infrage zu stellen.«

Matthias Dabelstein sagt, dazu könne er nichts sagen, er kenne diese E-Mail nicht.

Die »Gulf Live­stock« setzt ihre Reise fort. Der nächste Halt ist Glad­stone, eine Hafenstadt im Osten Australiens, dort ankert das Schiff für mehrere Stunden, um aufzutanken. Außerdem begrüßt die Besatzung einen neuen Mann an Deck, Will Main­prize, Australier, Tierpfleger, 27 Jahre alt, er soll Lukas Orda unterstützen.

»Eigentlich sollte ich statt Will auf das Schiff gehen«, sagt Harry Morrison. Er und Main­prize, beste Freunde, haben in einer WG gewohnt und in der Vergangenheit in den Semesterferien, um Geld zu verdienen, gemeinsam auf Viehtransportern angeheuert, nicht auf der Gulf Live­stock, auf anderen Frachtern. Heute lebt Morrison in Sydney.

Im Juli 2020, erzählt Morrison, habe er den Anruf erhalten: Ob er Lust habe, kurzfristig eine Tour auf der Gulf Live­stock zu machen, in wenigen Tagen schon gehe es los, Anfang September sei er wieder zu Hause, 17 Tage insgesamt. »Ich hatte kurz vorher einen Job als Sozialarbeiter angeboten bekommen. Deshalb sagte ich ab und fragte Will.«

Will Mainprize hat damals eigentlich anderes vor, er will Touristen als Tour­guide durch den Norden Australiens führen. Doch die Corona-Pandemie hat seine Pläne zunichtegemacht, langsam geht ihm das Geld aus. Als Harry ihm von der Sache mit dem Schiff erzählt, zögert er nicht lange. Er packt seine Tasche, fährt nach Glad­stone und springt an Bord.

Will, sagt Harry Morrison, sei ein Abenteurer gewesen, spontan und neugierig. Einmal sei er sechs Monate lang allein mit dem Fahrrad durch Pakistan gefahren, ein anderes Mal mit dem Motorrad durch Jordanien. Die Arbeit auf einem Frachter ist für einen wie ihn nichts Wildes, es ist nur ein Job.

Die letzte Reise der Gulf Live­stock 1 beginnt am 14. August 2020 in Napier, Neuseeland. Lukas Orda hat bei dem Zwischenhalt in Australien gehofft, seine Familie zu sehen. Wegen Corona ging das nicht. Jetzt, in Napier, hat er zusammen mit der Crew die Kühe eingeladen. Sie stechen in See.

Will Mainprize hat seine Gitarre dabei, Lukas Orda hat sich Filme auf seinen Laptop geladen, Juan Santos hat von seiner Tante Geld auf sein Handy transferiert bekommen, um seinen kleinen Sohn auf den Philippinen an­zu­rufen. Sie gehen davon aus: Noch gut zwei Wochen, dann sind wir wieder zu Hause.

Schon einen Tag nach der Abfahrt aus Neuseeland ahnt Will Main­prize, auf was für einem Schiff er da gelandet ist. Am 15. August schreibt er seinem Kumpel Harry Morrison: Was passiert hier? Wir sind gerade mal einen Tag aus dem Hafen raus, und der Motor ist im Arsch. O Gott, das könnte eine lange Reise werden.

Spricht man Matthias Dabelstein auf die vielen Nachrichten der Crew an, in denen es – sogar noch nach dem letzten Auslaufen aus einem Hafen – um die Probleme am Motor geht, antwortet er, es könne schon sein, dass es mal »einen Stopper« wegen technischer Beeinträchtigungen gegeben habe. So etwas werde aber repariert. Ansonsten könne er sich nicht dazu äußern. Er sitze gerade zu Hause, er sei nicht im Büro, wo die Akten lägen.

Könnte denn in den Akten etwas dazu stehen?

Könne sein, sagt Dabelstein. Wisse er aus seiner Erinnerung aber nicht.

Auf der Gulf Live­stock ­erscheinen Will Main­prize auch die übrigen Bedingungen an Bord katastrophal. Er schickt seiner Freundin ein Video: Er steht vor einem Waschbecken und öffnet den Hahn. Statt klarem Wasser fließt eine braune Brühe aus der Leitung. In einer Audionachricht berichtet er, wie schlecht das Schiff konstruiert sei, das unterste Deck mit den Ställen sei so niedrig, dass die Kühe ständig von Wellen getroffen würden. In einer anderen Audionachricht an sie sagt er: Wenn du glaubst, es kann nicht mehr schlimmer werden: Wir haben kein Toilettenpapier mehr auf dem Schiff.

Die Männer versuchen, den Horror mit Humor zu nehmen, in ihren Nachrichten scherzen sie über die Zustände, sie lenken sich ab. Lukas Orda schickt seiner Frau Emma Videos von Liederabenden, die Crew singt im Speiseraum zusammen Yesterday und Let It Be. So vergehen die Tage.

Dann zieht der Sturm auf.

Am 27. August 2020 hat sich über dem Pazifischen ­Ozean ein Tiefdruckgebiet gebildet, östlich der Philippinen, nun grollt es Richtung Norden. Am nächsten Tag stellt der japanische Wetterdienst fest, dass sich das Unwetter zu ­einem tropischen Sturm verstärkt hat. Die Meteorologen geben ihm einen Namen: Maysak. Stunden später verkündet der Wetterdienst, der Sturm habe ein Auge entwickelt. Er ist zum Taifun geworden.

Ein Taifun entsteht immer auf die gleiche Weise. Im Sommer, wenn das Meer von der Sonne aufgeheizt ist, verdunsten Unmengen von Wasser und steigen als Dampfwolken in die Luft. Die feuchte Warmluft wird von der Erdrotation wie eine Art Kinderkarussell ins Rollen gebracht, sie fängt an, sich spiralförmig zu drehen, ein riesiger Wirbel entsteht. In dessen Mitte liegt das Auge, dort ist es ganz ruhig. Um das Auge herum aber wütet ein gewaltiger Sturm.

Maysak ist einer der stärksten Taifune des Jahres. Die Meteorologen stufen ihn in die Kategorie vier ein, fünf ist die höchste. Maysak tobt mehrere Tage lang. In Südkorea tötet er zwei Menschen, in Nordkorea wohl noch weitere. Insgesamt zerstört er 9000 Häuser und legt die Stromversorgung für 250.000 Menschen lahm.

Auf der Gulf Live­stock schreibt Lukas Orda seiner Frau Emma erstmals am 27. August von dem Sturm: Das ist unsere Wettervorhersage für den 29. Er sendet ihr das Bild einer Wetterkarte, darauf der Taifun und am Rande des Auges ein dunkles Dreieck: Das schwarze Dreieck ist unsere Position an diesem Tag. Die geplante Route würde das Schiff genau in den Sturm führen.

Auch Will Mainprize schickt seinem Freund eine solche Wetterkarte: Schau mal, wo wir durchfahren werden.

Die Anspannung und Nervosität auf dem Schiff steigt in diesen Tagen, man kann das aus den Nachrichten, die die Männer an Freunde und Familie schicken, gut herauslesen. Harry Morrison sagt: »Wenn Sie nie bei Unwetter auf so einem Schiff waren, können Sie sich nicht vorstellen, was das bedeutet. Ständig hört man dieses dumpfe Grollen, man wird in seiner Kabine herumgeschleudert. Es ist verdammt bedrohlich.«

Der Kapitän der Gulf Live­stock weiß früh­zeitig über den Taifun Bescheid. Der japanische Wetterdienst hat den Weg des Sturms berechnet, auf dem Radar kann der Kapitän ihn, wie alle anderen Schiffskapitäne in der Nähe, verfolgen. Doch während alle anderen Schiffe sofort ihren Kurs ändern, steuert die Gulf Live­stock 1 einfach weiter auf ihn zu. Auf Satellitenbildern sieht man sie als einsamen Punkt inmitten einer riesigen farbigen Fläche. Des Wirbelsturms.

Der philippinische Kapitän der Gulf Live­stock 1 heißt Dante Addug. Er ist Mitte dreißig, hat eine Familie, Frau und Kinder, erst vor Kurzem ist er zum Kapitän aufgestiegen. Erfahrung hat er wenig, einen guten Ruf schon.

Harry Morrison, Will Mainprize’ bester Freund, der durch seine Arbeit auf Viehtransportern viele Seefahrer aus der Branche kennt, sagt: »Ich selbst bin nie mit Addug gefahren, aber ich kenne einige Leute, die mit ihm zu tun hatten, als er noch Erster Offizier war. Sie meinten, er sei ein guter Mann, sehr gewissenhaft.«

Warum fährt er, ein Familienvater, der um den Zustand seines Schiffes wissen muss, in einen übermächtigen Taifun?

Nach dem Unglück, sagt Matthias Dabelstein, hätten sich alle in seiner Hamburger Firma den Kopf darüber zerbrochen, weshalb der Kapitän nicht Schutz gesucht habe. Man könne sich das in keinster Weise erklären.

In der Schifffahrtsindustrie herrscht, wohl noch mehr als in anderen Transportbranchen, enormer Zeitdruck. Jeder Tag, an dem ein Schiff im Hafen liegt, kostet Geld, jeder Tag, den ein Schiff länger als geplant benötigt, kostet Geld. Einem Kapitän, der mehrmals den Zeitplan nicht einhält, kann es passieren, dass er bald keinen Job mehr hat.

Die Gulf Live­stock 1 ist laut den Nachrichten von Besatzungsmitgliedern bereits in Verzug. Das Futter für die Kühe geht zur Neige. Versuchte das Schiff, noch zu wenden, würde es den Zeitplan nicht einhalten. Versuchte es, sich in den nächstgelegenen ­Hafen zu retten, würde das zusätzliche Kosten ver­ur­sachen. Der direkte Weg durch den Sturm ist die mit Abstand riskanteste Option. Aber wenn es klappt, ist sie auch die billigste.

Ein Kapitän hat immer die oberste Entscheidungsgewalt auf seinem Schiff, niemand kann ihm befehlen, gegen seinen Willen den Kurs zu ändern. Er hat aber einen Ansprechpartner an Land, eine sogenannte Designated Person ­Ashore, kurz DPA. Sie soll für zusätzliche Sicherheit sorgen. Im Fall der Gulf Live­stock 1 stellt Dabelsteins Firma MC-Schiffahrt die DPA.

Matthias Dabelstein sagt, er wisse aus seiner Erinnerung nicht, wann man zuletzt mit dem Schiff in Kontakt gewesen sei.

Ob man die dokumentierte Kommunikation zwischen der DPA und der Gulf Live­stock 1 einsehen könne? Man gebe grundsätzlich nichts an irgendwen heraus, antwortet Dabelstein.

Als technischer Manager habe man keinerlei Befugnis, im nautischen Bereich mitzureden. Die Verantwortung für den gesamten Schiffsbetrieb liege beim Halter, also der Gulf Navigation Holding in Dubai. Sie lässt alle Fragen der ZEIT zum Untergang des Schiffes unbeantwortet.

Am 29. August wird Lukas Ordas Sohn Theo sechs Monate alt. Die beiden sind durch Tausende Kilometer getrennt, nur durch ein Foto vereint: Theo mit staunenden Augen auf einem Hochstuhl, um den Hals ein Schlabberlätzchen, vor ihm ein Schokokuchen, darin eine Karte, 6 Months Old.

Juan Santos chattet am selben Tag mit seiner Tante, sie sprechen über ihr Haus. Der Neffe schreibt: Pass auf dich auf. Dein Haus ist wirklich wunderschön. Ich hoffe, ich werde dich dort noch einmal besuchen können. Ich liebe dich.

Will Mainprize schreibt an seine Freundin: Danke dir für deine warmen Gedanken, es macht so einen riesigen Unterschied, zu wissen, dass es da draußen einen Menschen gibt, der auf mich aufpasst.

Zu diesem Zeitpunkt ahnen die Männer längst, was auf sie zukommt. Von Stunde zu Stunde werden die Wellen höher, der Wind nimmt zu. Das Schiff schwankt von einer Seite zur anderen. Will Main­prize schickt seinen Freunden ein Video: Wassermassen fluten das Deck.

Am 1. September dringt das Wasser in den Motorkontrollraum ein. Lukas Orda schreibt an seine Brüder: Motor ist jetzt ausgefallen. Und: können nicht lenken. Ohne Antrieb ist das Schiff dem Meer schutzlos ausgeliefert. Die Wellen machen mit ihm, was sie wollen.

Lukas Orda an seine Frau Emma: Viele der Männer hier sagen, das sei der schlimmste Sturm, durch den sie je mussten. Windstärken von bis zu 180 km/h und die Wellen über 12 Meter hoch. Der Motor ist ausgegangen, weil der Motorkontrollraum mit Wasser überflutet ist.

Will Mainprize: Wir treffen heute Nacht auf das Zentrum des Taifuns. Windstärke 175 km/h! Shit shit shit.

Bald darauf hören die Nachrichten auf.

In der Nacht auf den 2. September, um 1.44 Uhr Tokio-Zeit, 185 Kilometer westlich des Amami-Archipels, einer entlegenen japanischen Inselkette, setzt die Gulf Live­stock 1 einen Notruf ab. Dann sinkt sie.

Warum Dante Addug, der Kapitän, seine Besatzung nicht eher in die Rettungsboote beorderte, warum er nicht früher Alarm schlug, all das wird wohl für immer ungeklärt bleiben. Vielleicht hatte er, der Neuling, Angst, das Schiff vorschnell aufzugeben. Vielleicht glaubte er, dem Sturm noch ausweichen zu können. Vielleicht dachte er, seine Crew werde den Motor wieder in Ordnung bringen.

Es gibt bei Schiffen, wie in einem Flugzeug, eine Art Blackbox, sie zeichnet alle Daten und Gespräche der letzten Stunden in der Kommandobrücke auf. Sie ist mit der Gulf Live­stock untergegangen. Bis heute liegt sie vermutlich irgendwo auf dem Meeresboden.

Nachdem der Kapitän den Hilferuf ausgesendet hat, beordert die japanische Küstenwache vier Rettungsboote und zwei Flugzeuge hinaus aufs Meer. Sie finden, neben Schiffstauen, Rettungsringen und aufgeblähten Kuhkadavern, drei Besatzungsmitglieder, Dutzende Kilometer von­ein­an­der entfernt. Einer von ihnen konnte sich in eine Rettungsinsel retten, ein anderer hat sich dank einer Schwimmweste stundenlang über den eiskalten Fluten gehalten. Der dritte treibt kopfüber im Wasser, als die Einsatzkräfte ihn entdecken. Er ist tot. Die 40 anderen Männer, Lukas Orda, Juan Santos, Will Main­prize, sind bis heute verschollen.

Die beiden Überlebenden äußern sich nach dem Unglück nur einmal, in einem Gespräch mit dem philippi­nischen Arbeitsminister. Ihre Aussagen sind vage, sie tragen nicht zur Aufklärung bei. Seitdem schweigen sie, auch Anfragen der ZEIT bleiben unbeantwortet. Die Anwälte der Familie Orda gehen davon aus, dass der Schiffseigentümer die Männer eine Verschwiegenheitserklärung hat unterschreiben lassen.

Aufgrund des schlechten Wetters stellt die japanische Küstenwache ihre Suche schon nach drei Tagen ein. Als es wieder aufklart, startet sie zwar einen weiteren Versuch, aber mit weniger Einsatzkräften und nicht mehr rund um die Uhr, obwohl mehrere Rettungsboote und eine Rettungsinsel noch nicht gefunden worden sind. In ihnen können Menschen lange überleben. Doch nur eine Woche nach dem Untergang gibt die Küstenwache ihre Bemühungen auf.

Am 11. September treten die Eltern von Lukas Orda vor australische Fernsehkameras. Ulrich Orda spricht in die Mikrofone: »Wir flehen Sie an, nicht aufzuhören, nach Lukas und den anderen Vermissten zu suchen.«

Die Suche wird nicht wieder aufgenommen.

Heute sagt Ulrich Orda: »Nach einem Flugzeugabsturz berichten Medien teils wochenlang über das Unglück, Helfer suchen jahrelang nach dem Flugzeug, nach Leichen, die Blackbox wird geborgen, es wird ermittelt, und die Angehörigen erfahren, was wirklich passiert ist. Wenn ein riesiges Schiff mit Dutzenden Männern verschwindet, kümmert es keinen. Und warum? Weil auf den Schiffen größtenteils Menschen aus Ländern wie den Philippinen, Kambodscha und Bangladesch arbeiten, für die sich keiner interessiert.«

Nachdem die japanische Küstenwache ihre Bemühungen eingestellt hat, sammeln die Angehörigen Spendengelder und beauftragen ein privates Rettungsunternehmen, nach den Vermissten zu suchen. Weder die Gulf Navigation Holding in Dubai noch MC-Schiffahrt in Hamburg beteiligen sich finanziell an der Hilfsaktion.

Als sie beginnt, hat sich das Such­areal aufgrund von Strömungsberechnungen auf die Fläche Kaliforniens vergrößert, zudem gibt es dort 4000 meist unbewohnte Inseln. Der Rettungstrupp findet keinen der Männer mehr. Im Oktober geht den Angehörigen das Geld aus, sie müssen die Suche be­enden.

Ende Dezember 2020 halten die Ordas eine Gedenkfeier für ihren Sohn ab. Etwa 90 Menschen kommen. Während der Feier steht ein Gast nach dem anderen auf, jeder teilt seine Erinnerung an Lukas, den Sohn, den Bruder, den Freund, den Ehemann, den jungen Vater.

In ihrem Jahresbericht für 2020 erwähnt die Gulf Navigation Holding die Katastrophe nur am Rande, sie nennt es »den unglücklichen Vorfall mit dem Schiff Gulf Live­stock 1«. Zugleich beruhigt sie ihre Anleger: »Infolge dieses Vorfalls hat die Gruppe den Buchwert des Schiffes in Höhe von AED 197.541.000 (damals rund 44 Millionen Euro, Anm. d. Red.) abgeschrieben. Zum Zeitpunkt des Berichts hat die Gruppe einen Versicherungs­anspruch von AED 82.350.000 (rund 18 Millionen Euro, Anm. d. Red.) angemeldet, um die Versicherungssumme des Schiffes zurückzuerhalten.«

In dem vorläufigen Bericht der panamaischen Behörden zum Untergang der Gulf Live­stock 1, der bislang nicht veröffentlicht wurde, der ZEIT jedoch vorliegt, kommen die Ermittler zu dem Schluss, die Hauptschuld trage der Kapitän. Er sei zu unerfahren gewesen, er habe falsche Entscheidungen getroffen. Doch da steht auch, die Eigentümer des Schiffes hätten »unzureichende und/oder keine« Informationen zum Zustand des Motors während der letzten Reise zur Verfügung gestellt. Genauso wenig wie zur Kommunikation mit dem Kapitän. Ob Druck auf ihn ausgeübt wurde, trotz des Sturms weiterzufahren, bleibt so am Ende offen.

Die Tante von Juan Santos sagt, sie hoffe immer noch, dass ihr Neffe eines Tages vor ihrer Tür steht: Hallo, Tantchen, da bin ich wieder. »Vielleicht«, sagt sie, »ist er noch da draußen und wartet auf einer einsamen Insel auf seine Rettung.«

Die Freundin von Will Main­prize sagt, auch sie habe diese Gedanken gehabt: Wurde Will vielleicht an die Küste Nordkoreas gespült und sitzt nun dort in einem Gefängnis? »Verrückt, oder?« In einer solchen Situation spiele man eben jede erdenkliche Möglichkeit durch. Die Hoffnung ist oft stärker als der Verstand.

Emma Orda hat akzeptiert, dass ihr Ehemann nicht mehr zurückkommen wird. Zurzeit, erzählt sie lächelnd, beobachte sie, wie ihr zweijähriger Sohn Theo erste Züge seines Vaters annehme. Manchmal, wenn Theo stur sei oder ernst in die Gegend blicke, dann denke sie: Ah ja, da ist also der Deutsche in ihm.

Die Eltern von Lukas Orda haben einen Gedenkstein für ihren Sohn fertigen lassen, er liegt an einer unauffälligen Stelle im Garten der Familie, umgeben von Pflanzen. Eine Messingplatte ist an den Stein angebracht, Lukas’ Name steht darauf, dazu ein Abbild der Gulf Live­stock und die letzte bekannte Position des Schiffes. Dort, sagt seine Mutter, auf 28° 35,5' N 127° 37,6' E, sei für sie nun Lukas’ neues Zuhause.


Hinter der Geschichte:

Für diesen Artikel reiste unser Autor nach Australien, wo er mehrere Tage mit der Familie des Tierarztes Lukas Orda verbrachte. Außerdem sprach er mit Gerhard Janssen und Maurice Lynch, den Anwälten der Ordas, sowie mit weiteren Hinterbliebenen, mit Experten und dem Hamburger Reeder Matthias Dabelstein.Die Nachrichten, Videos und Audio-Mitteilungenwurden dem Autor von Angehörigen und Freunden der verstorbenen Seeleute zur Verfügung gestellt.