Klimazentrale Stuttgart

Von Jan Georg Plavec und Simon Koenigsdorff

Ist das Wetter noch normal?

Es gibt Tage, da tritt man aus der Haustür und spürt sofort: Hier stimmt etwas nicht. Die Sonne brennt ein wenig zu heiß vom Himmel, oder man erwartet kühlere Temperaturen zu dieser Jahreszeit. Manchmal freut man sich über tagelangen Sonnenschein, fragt sich aber irgendwann, wie lange es eigentlich nicht mehr geregnet hat. Und: Ist das schon der Klimawandel?

Auf unseren Webseiten beantworten wir diese Frage mit dem neuen Datenprojekt „Klimazentrale“ täglich aktuell und für alle Orte im Großraum Stuttgart. Ist es zu warm oder zu kalt, die Temperatur vielleicht sogar rekordverdächtig? Ist es zu trocken oder zu feucht? Und auch: Scheint die Sonne gerade besonders häufig oder viel zu selten?

Screenshot Klimazentrale Stuttgart
Stuttgarter Nachrichten

Darauf gibt es eine gefühlte Antwort – und die Daten in unserer Klimazentrale. Sie stammen von 14 amtlichen Wetterstationen in und um Stuttgart, wir beziehen sie vom Deutschen Wetterdienst, der Stadt Stuttgart und der Landesanstalt für Umwelt. Neben den aktuellen Werten werten wir Daten seit 1961 aus. Wir zeigen, in welchem Bereich Temperatur und Niederschlag sich normalerweise bewegen – und was aktuell gemessen wird.

Die Klimazentrale zeigt somit auch, was 1961 bis 1990 normal war, als der Klimawandel noch kaum ein Thema war. Der zweite Vergleichszeitraum zwischen 1991 und 2020 orientiert sich eher an dem, was heutzutage als normal empfunden wird. Diese beiden Perioden sind die internationale Referenz für Klimawissenschaftler. Und ja: Auch hierzulande war vor 60 Jahren ein durchschnittlicher Maitag deutlich kühler als heute.

Der Ansatz ist und bleibt spielerisch. Wetter ist nicht Klima. Es ändert sich schneller und produziert stärkere Ausschläge, außerdem sind die Temperaturen im Stuttgarter Stadtkessel andere als auf der Schwäbischen Alb. Doch wenn sich das Klima wandelt, zeigt sich das auch im ganz Kleinen – im als zu warm empfundenen Wetter, aber auch im Langzeitvergleich, der insgesamt auch für Baden-Württemberg eine Erwärmung belegt. Ein heißer Tag allein ist kein Beweis für den Klimawandel. Die zunehmende Zahl solcher Tage dagegen schon. Wie viele Hitzetage gab es im Lauf der Jahrzehnte in Ihrer Gemeinde? Oder: Stimmt es, dass die Zahl der Frosttage zurückgeht?

Die von uns analysierten Daten machen solche Erkenntnisse auf der lokalen Ebene überhaupt erst möglich. Der Blick in die Werte lohnt sich jeden Tag – so wie man auch jeden Tag den Wetterbericht liest. Die Klimazentrale bettet die Wettervorhersage ins große Ganze ein.

Die Krise, die alles überlagert
Von Simon Koenigsdorff

Die Klimakrise ist längst da. Hier und heute, in Baden-Württemberg, in Stuttgart. Die berühmten „Klimastreifen“ als farbliches Abbild der Temperaturveränderung führen wie kaum ein anderes Bild vor Augen, wie dramatisch die Erderhitzung auch in unseren Breiten bereits jetzt ist. Die roten, zu heißen Jahre, ballen sich am Ende des Zeitstrahls – in unserer Gegenwart – und drängen förmlich: „Tut etwas!“

Ganz konkret spüren Menschen dies auch am Wetter. Bereits jetzt, bei 1,6 Grad Erwärmung seit 1881 in Deutschland, belasten drückende Hitzewellen immer öfter die Gesundheit, gerade in Ballungsräumen wie Stuttgart. Unwetter und Starkregen wie im Sommer 2021 werden häufiger zur realen Gefahr. Landwirtinnen und Landwirte kämpfen gegen Dürren. Das alles gibt einen Vorgeschmack auf das, was in wenigen Jahren lebensbedrohliche Realität wird, wenn wir nicht weltweit radikal umsteuern.

Die Aufgabe einer Zeitung ist es, über die zentralen, großen und kleinen Herausforderungen unserer Zeit zu berichten. Dazu gehört, die Klimakrise als das zentrale Problem hervorzuheben, das bei fast jedem Thema mitbedacht werden muss. Von der Debatte um russische Energieimporte bis zum Wetter. Wenn wir heute auf unserer Webseite also ein interaktives Datenangebot zum Wetter an Ihrem Wohnort starten, so heißt dies bewusst Klimazentrale – und berichtet eben nicht nur über das Wetter, sondern auch über das Klima in Stuttgart und der Region. Dabei steht eine vielgestellte Frage im Vordergrund: Ist das Wetter heute noch normal?

Auch wenn wir über die alltäglichen Schwankungen des Wetters berichten und nicht jede Wetterkapriole allein an der Erderhitzung liegt, gehört es zu unserer Aufgabe, die Klimakrise dabei nicht auszublenden. Sondern zu sagen, was ist: Die Krise betrifft schon jetzt unser aller Alltag.

Was tun, wenn es heiß wird?
Von Jan Georg Plavec

Beim Blick in die Medien ärgert sich Claudia Traidl-Hoffmann derzeit oft: Berichte zur Sommerhitze werden oft mit fröhlichen Menschen am Wasser bebildert. Temperaturen jenseits der 30 Grad Celsius gelten hierzulande vor allem als Badewetter. Das will die Umweltmedizinerin vom Münchner Helmholtz-Zentrum niemandem vermiesen. Hitze müsse aber auch als Gefahr für bestimmte Gruppen verstanden werden. „Lungenkranke sollten nächste Woche nicht zum Einkaufen gehen“, rät Traidl-Hoffmann. Für Dienstag sind in Baden-Württemberg derzeit bis zu 39 Grad vorhergesagt.

Dass es, bedingt durch die Klimakrise, mehr und längere Hitzeperioden gibt, gilt als ausgemacht. In der Stuttgarter Innenstadt werden ausweislich unseres Datenprojekts Klimazentrale im Schnitt 25 Tage mit mehr als 30 Grad Celsius im Schatten gemessen – Tendenz steigend. Allein dieses Jahr gab es schon 13 sogenannte heiße Tage. Zu den Folgen zählen nicht nur vielfach hitzebedingte Erkrankungen wie Hitzschlag oder Nierenversagen. Seit 2013 sind laut einer Schätzung des Statistischen Landesamts jedes Jahr mehr als 1000 Menschen hitzebedingt verstorben.

Weitaus weniger klar ist, wie Kommunen, das Gesundheitswesen und die Bürger reagieren können. Zwar mangelt es nicht an Infobroschüren – dafür aber an konkreten Hilfsangeboten oder Plänen für den Umbau der auf Hitzewellen nicht vorbereiteten Städte. Stadtverwaltungen können solche kurz- und mittelfristigen Maßnahmen in Hitzeaktionsplänen beschließen – so die Idee einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe vor einigen Jahren. Konkret können im Hitzefall etwa kühle Räume geöffnet werden oder Wasserstellen aufgebaut werden. Es geht aber auch um Kommunikation.
Frankreich macht vor, wie es geht: Seit dem für Tausende tödlichen „Jahrhundertsommer“ 2003 kontaktieren dort soziale Dienste auf Wunsch Ältere oder andere Risikogruppen während Hitzewellen täglich. Bei Bedarf bringen sie Ventilatoren und Getränke vorbei. Das kann Leben retten.

Hierzulande ist diese Form von Hitzeschutz, die laut einer Berechnung des Recherchenetzwerks Correctiv mindestens neun Millionen Menschen erreichen müsste, kaum vorstellbar. Kommunaler Hitzeschutz bleibt Stückwerk.

Nur eine Handvoll Hitzeaktionspläne sei bekannt, räumte das Sozialministerium jüngst in der Antwort auf eine CDU-Landtagsanfrage ein. Genannt wurden Mannheim, Karlsruhe und Freiburg samt dem Kreis Breisgau-Hochschwarzwald sowie der Zollernalbkreis.
In Stuttgart hat der Gemeinderat einen Hitzeaktionsplan bei den jüngsten Haushaltsberatungen abgelehnt. Die Forderung war von der Fraktion Puls gekommen. Neben Handlungsanweisungen für die Verwaltung „wäre der Plan auch ein politischer Beschluss“, sagt der Puls-Stadtrat Christoph Ozasek. Ein Vorbild könnte Barcelona sein, wo ein Großteil des öffentlichen Raums mit Bäumen verschattet werden soll.

Nun ist das Wetter in einer Großstadt am Mittelmeer (noch) nicht mit Stuttgarter Verhältnissen zu vergleichen. Doch der Handlungsdruck steigt. Dafür, findet Ozasek, wird noch viel zu sehr über einzelne Bäume gestritten – weil ein Parkplatz wegfällt oder man wie am Marktplatz penibel auf Befindlichkeiten der Marktbeschicker achtet. Dabei gehe es darum, den Platz in länger werdenden Wärme- und Hitzeperioden überhaupt noch nutzen zu können.

Nicht nur Kommunen tun sich schwer. Ausgerechnet Krankenhäuser und Pflegeheime haben vielfach keinen ausreichenden Hitzeschutz – weil der in der Krankenhausfinanzierung standardmäßig nicht vorgesehen ist. Vergangenes Jahr ergab eine Studie des am Stuttgarter Robert-Bosch-Krankenhaus (RBK) arbeitenden Arztes Clemens Becker, dass an heißen Tagen mit mehr als dreißig Grad ein Fünftel mehr Pflegeheimbewohner sterben als bei 20 Grad.

Im RBK selbst kommt die Lüftungsanlage bei Hitze an ihre Grenzen. „Wir müssen dann andere Maßnahmen ergreifen“, sagt der Geschäftsführer Mark Dominik Alscher: Jalousien herunterlassen, Fenster tagsüber schließen und nachts durchlüften, mehr Getränke anbieten, bei Älteren Trinkprotokolle führen, die begrünten Dächer bewässern. Zwecks nachträglich eingebauter Klimaanlage sei man mit dem Land „aktiv im Gespräch“, so Alscher.

An heißen Tagen mehren sich auch die Notfälle. Man sehe „eine deutliche Zunahme von Kreislauf- und neurologischen Beschwerden“, sagt Alexander Krohn, Oberarzt am Klinikum Stuttgart. Die Vidia-Kliniken Karlsruhe sehen bei Hitze „ein deutlich erhöhtes Patientenaufkommen in der Notaufnahme“. Eine Überlastung drohe aber nicht.

Hitze kann für sehr unterschiedliche Gruppen zur Gefahr werden – für Kinder, die im Schulsport umkippen, ebenso wie für Menschen, die längere Zeit draußen arbeiten. Auch Obdachlose wissen vielfach nicht wohin. Noch ist es aber die absolute Ausnahme, dass wie seit Kurzem in Hamburg nicht nur im Winter ein Kältebus, sondern auch sommers ein Hitzebus fährt und Wohnungslose versorgt.

In jedem Fall gilt: wenn Beschwerden auftreten, ist das oft problematisch. „Es gibt auch bei Hitze Kipppunkte im Körper. Wenn sie überschritten werden, ist es zu spät“, sagt Claudia Traidl-Hoffmann. Spätestens dann endet an heißen Tagen die Freibadstimmung.

T-Shirt-Wetter zum Jahreswechsel
Von Jan Georg Plavec

Thomas Schuster fehlen beim Blick auf das Silvesterwetter die Worte. 20 Grad sind für den Jahreswechsel in Stuttgart prognostiziert. „Meine Klimatabelle sagt mir, dass alles oberhalb von 14 Grad ungewöhnlich mild ist“, sagt der Meteorologe vom Deutschen Wetterdienst (DWD) in Stuttgart. „Ungewöhnlich mild“ ist das Meteorologenvokabular, wenn die Temperatur im Winter besonders stark steigt – weil im Winter das Wort „warm“ nicht genutzt wird.

Eine Steigerung von „ungewöhnlich mild“ gibt es bislang nicht. Dieses Jahr könnte man sie allerdings gut brauchen. Der bisherige Stuttgarter Temperaturrekord zum Jahreswechsel dürfte dieses Jahr um mehr als fünf Grad überschritten werden. Sie liegen auch drei Grad über der höchsten jemals im Dezember gemessenen Temperatur; 1989 hatte es am Schnarrenberg 17,2 Grad. Mehr als 14 Grad wurde seit 1958 bislang an genau 50 Dezembertagen gemessen.

Die nun für Samstag vorhergesagten zwanzig Grad seien „das maximal Mögliche, beziehungsweise klimatologisch sogar eigentlich darüber“, sagt Schuster. Der Grund für die hohen Temperaturen ist die aktuelle Wetterlage, die warme Luft aus Spanien und Nordafrika bis nach Stuttgart führt. Außerdem sind einige Stunden Sonnenschein vorhergesagt. Man darf sich also auf T-Shirt-Wetter freuen, auf Ausflüge in die Natur, vielleicht grillt der eine oder andere. Kritischere Köpfe dürfen sich aber genauso fragen, ob dieses Wetter noch normal ist oder ob es künftig normal wird – und ob man das wirklich gut finden soll, Stichwort Klimawandel.

Der letzte ungewöhnlich laue Silvesterabend liegt jedenfalls erst ein Jahr zurück. 14,2 Grad maß der DWD 2021 am Schnarrenberg, in der City ist es typischerweise noch etwas milder. Das war nah dran am bisherigen Rekord von 14,4 Grad im Jahr 2017. Beginnt die T-Shirt-Saison also künftig klimawandelbedingt immer an Silvester?

„Mit Klimawandel hat dieses Wetter nur bedingt zu tun, es ist eher ein Einzelereignis“, sagt Thomas Schuster. Eines, das häufiger wird: „Die Westwetterlage hält jetzt eine Weile an und wir sehen den Wechsel auf eine Nordostlage nicht mehr so häufig“, so Schuster. Will sagen: mittlerweile kommt häufiger warme Luft aus Spanien zu uns als kalte aus Skandinavien.

Hohe Temperaturen wie jetzt an Silvester werden wahrscheinlicher.
Das zeigt auch der Blick ins Datenarchiv. 3,7 Grad war die durchschnittliche Höchsttemperatur an Silvester bis ins Jahr 2000. Seither liegt sie bei sechs Grad. Daraus spricht tatsächlich der Klimawandel. Er muss nicht immer mit Extremwerten wie am Samstag kommen, sondern er treibt die Temperaturen schleichend in die Höhe. Das fällt nur nicht so sehr auf, wenn wie in den Jahren 2019 bis 2021 das Thermometer auf weniger spektakuläre 3,7 bis 7 Grad steigt.

Am Wetter ist nichts mehr normal
Von Jan Georg Plavec

22 Grad an Silvester: das ist Wetter, nicht Klimawandel. Leider ist diese Kapriole ganz zum Schluss nur eine von vielen im Jahr 2022. Auf späten Schnee folgte ein früher Hitzesommer mit 30 Grad im Mai. Der ging, mit Unterbrechung im September, in einen sehr milden Herbst über. Im neuen Wetter-Normal ist nichts mehr normal. Alles geht, einschließlich Jahreswechsel im T-Shirt.

Diese Instabilität ist dann sehr wohl Klimawandel. Ja, auch früher war es mal zu warm oder zu kalt. Doch auf den Trend kommt es an. Insgesamt wird es deutlich wärmer, das Wetter spielt häufiger verrückt – jedenfalls gemessen an dem, was in dem von Meteorologen gern genutzten Vergleichszeitraum 1961 bis 1990 normal war. Damals war vom Klimawandel noch nicht so viel zu spüren; es ist das Wetter, das die heutige Eltern- und Großelterngeneration kennengelernt hat. Was würde wohl jemand zur Witterung sagen, der aus dem Jahr 1962 sechzig Jahre in die Zukunft gebeamt würde?

Der Schock fiele stärker aus als wir ihn nach jahrzehntelanger Gewöhnung spüren. Der Klimawandel kommt schleichend. Er zeigt sich in Hitzewellen ebenso wie in wochenlangen Phasen, in denen es ein, zwei Grad zu warm ist. Das wissen alle, aber man kann es halt so gut ausblenden. Die Menschheit muss aufpassen, dass es ihr nicht ergeht wie dem „boiling frog“, der nicht merkt, wie das Wasser um ihn so lange immer heißer wird – bis es kocht und er stirbt.