Viele Kühe machen Mühe

Von Henning Rasche

Landwirt Kai Brunßen aus Hünxe will den Hof seines Vaters übernehmen. Damit er davon leben kann, müsste er mehr als zwei Millionen Euro investieren. Er fragt sich: Lohnt sich das noch?

Kai Brunßen
Moritz van Offern

Am Ende des Hohen Weges, kurz bevor es in den Wald geht, leben Rosi, Heidi, Merle und 237 weitere Rinder, 220 Hühner, 15 Strohschweine und der Mann, der hofft, dass er nicht als nächstes dran ist. Dafür arbeitet er 80 Stunden an sieben Tagen in der Woche. Er macht das gerne. Aber es sollte sich lohnen, findet er, wenn er seinen Beruf schon zum Hobby macht.

Der Landwirt Kai Brunßen steht auf dem Hof, der seiner werden soll, und sieht zu, wie ein fremdes Auto nach dem anderen vorfährt. Die Wagen wirbeln den trockenen Boden auf. Es ist Frühling, nur noch zwei Wochen bis zur Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen. Die örtliche Abgeordnete hat Parteifreunde mitgebracht und einen Fotografen.

Für die CDU-Politikerin Charlotte Quik ist es einer von sieben Terminen an diesem Wahlkampftag. Für den Landwirt Kai Brunßen ist es die Chance, jemandem mit Einfluss seine Geschichte zu erzählen. Er braucht Hilfe, sie könnte helfen.

Brunßen – Jeans, Polohemd, Sicherheitsschuhe – hat den Handschlag eines Mannes, der weiß, wie ein Schwein stirbt. Sein Tag beginnt vor dem Aufstehen an der Melkmaschine, und besser wäre, er endete nie. Er hätte Besseres zu tun, als der Politikerin eine Kulisse für Instagram zu bieten.

Quik und Brunßen sprechen in die Kamera, die der mitgebrachte Fotograf ihnen hinhält. Der Wahlkampf muss schließlich ins Internet getragen werden.

Der Landwirt sagt: „In welche Richtung investiere ich? In die konventionelle Tierhaltung? Oder in die Direktvermarktung, für die ungern jemand bezahlt?“

Die Politikerin sagt: „Da würden wir in Zukunft dann versuchen, an den entsprechenden Rahmenbedingungen zu arbeiten.“

Seit 200 Jahren liegt am Ende des Hohen Weges in Drevenack, Gemeinde Hünxe, 50 Kilometer vor der niederländischen Grenze, der Hof der Familie Brunßen. Die Mitarbeiter des Betriebs: Vater, Mutter und der Sohn, der bald übernehmen möchte. Er wäre die fünfte Generation Brunßen, die den Hof als selbstständige Landwirte betreibt. Wäre.

Seine Eltern sagten: Werd’ bloß nicht Landwirt.

Er sagte: Ich bin doch Landwirt.

Während der Realschule machte Kai Brunßen ein Praktikum beim Schreiner. Die Arbeit gefiel ihm, er kam gut zurecht. Aber Schreiner? Was sollte das, er war doch Landwirt. In Bio, achte Klasse, sprang Kai ein, wenn die landwirtschaftlichen Kenntnisse der Lehrerin aus dem Lehrbuch nicht mit der Realität übereinstimmten, erzählt er heute. Er kannte sie nicht nur, er gehörte zur Realität auf dem Bauernhof.

Der Mann, der schon Landwirt war, bevor er die Ausbildung begann, lernte auf drei Höfen. Keiner weiter entfernt als eine Stunde Autofahrt. Er besuchte die Fachschule in Borken und lernte alles über Futtermittel, Haltungsformen und Ställe. Kai Brunßen hat einen Beruf ergriffen, den kaum sonst noch jemand ergreifen mag.

Etwas mehr als drei Jahre sind vergangen, seit Kai Brunßen ausgelernt hat. Heute ist er 25 Jahre alt. Und sagt: „Ich würde nicht behaupten, dass ich das den Rest meines Lebens machen kann.“

In Drevenack, dem Dorf, in dem Brunßen aufgewachsen ist, in dem er gelernt hat, in dem er im Schützenverein ist, in dem ein Großteil seiner Bekannten und seiner Freundin lebt, gab es vor einem Vierteljahrhundert noch 30 Bauernhöfe. Übrig geblieben sind keine zehn. Je nachdem, wie Kai Brunßen sich entscheidet, ist es noch einer weniger. Er hat Verantwortung für das Dorf, in dem er lebt. Mit ihm könnten 200 Jahre Familiengeschichte zu Ende gehen.

Kai Brunßen sitzt im Frühsommer, die Wahl ist vorbei, in einem BMW X5, 350.000 Kilometer gelaufen, die Trockenheit der letzten Wochen klebt am Auto. Er fährt von Stall zu Stall, von Weide zu Weide. Zu dem Hof der Brunßens gehört eine Fläche von rund 77 Hektar, darauf könnte man 1062-mal den Düsseldorfer Plenarsaal errichten. Morgens und abends muss er nach seinen Tieren schauen, allein das dauert jeweils knapp eine Stunde. Immer lässt er sein Auge schweifen. Geht’s Heidi gut, Merle, Rosi?

Auf einem der zahlreichen Höfe, die in den vergangenen Jahren geschlossen haben, parkt er. Hier hat Brunßen einen Stall gepachtet, in dem ein knappes Drittel seiner Rinder steht. Eines nach dem anderen erhebt sich, als er hereinkommt, die Köpfe neigen sich durch die Gitter in Richtung des Landwirts. Sollte das eine tierische Begrüßung sein, grüßt Brunßen nicht zurück.

Er zeigt nach unten, der Boden besteht aus einzelnen, parallelen Streben, zwischen denen jeweils ein paar Zentimeter Abstand sind. Die Rinder stehen, so heißt das, auf einem Vollspaltenboden. Höchstens zehn Jahre sei das noch erlaubt, sagt Brunßen.

Wenn er bis dahin den Boden nicht ausgetauscht habe, könnten die Behörden ihm den Stall zumachen. Die EU setzt neue Standards für Tierhaltung, die nach und nach in die deutsche Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung, kurz: TierSchNutztV, wandern. Sie gehen Tierschützern oft nicht weit genug, aber fordern den Landwirt Kai Brunßen heraus.

Von links nach rechts, einmal ringsum, hat er den Stall umgebaut. Handwerker konnte er sich nicht leisten, brauchte er auch nicht. Er macht alles selbst. „Muss halt, dann geht’s auch“, sagt er. Wenn erst ein Reporter mit Block und Stift auf seinen Hof kommt und später ein Reporter mit Kamera, fragt er sich: Warum macht das nicht einfach alles einer? Brunßen baute den Stall so um, dass die Rinder mehr Bewegungsfreiheit haben, mehr Quadratmeter pro Kuh. An neuen Boden ist vorerst nicht zu denken.

Kai Brunßen versucht, sich zu behaupten. Er betreibt konventionelle Landwirtschaft, sagt er, beliebt mache er sich damit bei Tierschützern und den Bio-Käufern in den Großstädten nicht. Mit Bio erkauften die sich ein gutes Gewissen. Sein Job sei ein anderer. Er sagt: „Die Menschheit muss ernährt werden. Das habe ich mir zur Lebensaufgabe gemacht.“

Die Menschheit, nicht nur die Bio-Käufer. Aber auch für die konventionelle Landwirtschaft gelten bald strengere Regeln.

Wenn Kai Brunßen den Familienbetrieb in fünfter Generation nach 200 Jahren weiterführen will, muss er investieren. Konzentriert er sich auf Milchkühe, müsste er gut zwei Millionen Euro für einen Stall für 120 Kühe mit den höchsten Haltungsstandards und neuster Melktechnik ausgeben. Konzentriert er sich auf Rindfleischerzeugung, müsste er gut zwei Millionen Euro für einen Stall für 400 Jungbullen ausgeben.

Plus jeweils noch Futterlagerstätten für mindestens 350.000 Euro und Gülle- oder Mistlagerstätten für mindestens 150.000 Euro. Macht 2,5 Millionen Euro. Zieht man EU-Subventionen ab, bleibt immer noch ein Millionenbetrag übrig.

Investiert Brunßen nicht, würden seine Stallungen in einigen Jahren nicht mehr den Standards entsprechen, er müsste den Betrieb wahrscheinlich schließen. Vielleicht würde er seine Ställe verpachten, an die anderen paar Überlebenden, so, wie er selbst jetzt pachtet.

Investiert Brunßen, könnten anderthalb Arbeitskräfte davon leben. Er selbst eingeschlossen.

Offiziell führt sein Vater Henning noch den Betrieb. Aber die meisten Entscheidungen trifft Kai Brunßen. Welches Futtermittel bestellt wird, wann die Kühe gemolken werden, was das 20-Kilo-Paket Rindfleisch kostet. Er hat entschieden, Hühner anzuschaffen, und die Eier direkt an Kunden zu verkaufen.

Mit einem Elektroauto mit dem amtlichen Kennzeichen „WES-EI“ fährt er durch Drevenack. Den Wagen lädt er über die Fotovoltaik-Anlage auf dem Hofdach. Wenn er die Milch seiner Kühe an Hochland verkauft und die Milch bei Aldi oder Lidl landet, müssen die Discounter ihren Kunden erklären, wenn die Preise steigen. Wenn er mit „WES-EI“ loszieht und den Hünxern seine Eier verkauft, muss Kai Brunßen ihnen erklären, warum er auf einmal statt 35 Cent 40 haben will.

Brunßen sagt: „Es muss auch bezahlt werden, was wir machen.“

Er fragt seinen Vater oft um Rat, erzählt er. Der sage dann: Mach mal. Als Kai Brunßen gefragt hat, soll ich investieren, habe der Vater gesagt: Musst du wissen.

Brunßen sagt: „Ich wüsste da jetzt keine Lösung, die garantierten Erfolg verspricht.“

Sie sind zusammen zur Bank gegangen, Vater und Sohn, erzählt Kai Brunßen, haben gefragt, würden wir das überhaupt bekommen, so viel Geld? Bei der Bank hätten sie zurückgefragt: Meinen Sie, es würde Ihnen besser gehen als Ihren Nachbarn? Den Nachbarn, die aufgegeben haben? Müsst ihr wissen.

Der Hof der Brunßens ist ein wenig wie ein Adventskalender. Hinter jeder Tür eine neue Überraschung. Geht man durch einen leeren Stall hindurch und blickt nach rechts, sitzen da Schweine im Stroh, die grunzen. Geht man durch ein winziges Tor, sind dahinter riesige Bullen verborgen, die nicht mehr viel vor sich haben. Wendet man sich von den Schweinen ab, läuft am Eierwagen vorbei, leben dort Kälber in einer Art Mini-­Dorf. Eine Abzweigung später ein großes Gatter, dahinter die Weide.

Für diesen Text ist der Reporter Brunßen dreimal begegnet, im Frühling vor der Wahl, etwas später im Frühsommer, dann, viel später, im Spätherbst. Die Zeit dafür musste sich Brunßen – nicht immer begeistert – vom Tag absparen. Der Landwirt ist in dieser Zeit nicht optimistischer geworden, die Lage dafür komplizierter.

Während die Kosten für alles gestiegen sind, für das Futter, den Diesel, den Umbau, den Strom, kaufen die Kunden weniger. Für ein Kilo Jungbullenfleisch bekommt Brunßen nun zwar 4,80 Euro statt 3,80 Euro, aber das haue trotzdem vorne und hinten nicht hin. „Es wird immer uninteressanter, tierische Lebensmittel zu erzeugen“, sagt er. Er kenne keinen Landwirt, der zurzeit irgendwelche Investitionen plane. Eigentlich müsste man aber. „Da kommt die Perspektivlosigkeit her“, sagt Brunßen.

Zurück in den Frühling. In die Kamera des Fotografen erzählt Brunßen, dass er Planungssicherheit brauche. Falls er sich entscheide, das Geld zu investieren, müsse er sicher sein können, dass sich die EU oder der neue grüne Landwirtschaftsminister in Berlin nicht schon wieder neue Vorgaben ausdenken. Falls er investiert, will er seine Ruhe haben. Einfach arbeiten.

Brunßen kann arbeiten. Wenn seine Freundin ihn fragt, „Gehen wir ein Eis essen?“, sagt er oft: Ich fahre noch zu den Rindern. Um über die Runden zu kommen, arbeitet er an zwei Tagen die Woche zusätzlich bei einem anderen Landwirt. Halbtags, sagt er. Halbtags heißt: sieben Stunden, und vorher und nachher auf dem eigenen Hof.

Die Landtagsabgeordnete Charlotte Quik hört Kai Brunßen zu, sie nennt ihn einen „top ausgebildeten Junglandwirt“. Sie sagt: Schwierig, ich bin ja im Landtag und das wird in Berlin und Brüssel entschieden. Föderalismus, Supranationalismus, EU-Richtlinien, Verordnungen. Ja, es gibt auch noch ein eigenes Landwirtschaftsministerium in Düsseldorf, okay, aber die sind nicht zuständig.

Auf den Bildern, die die Abgeordnete später ins Internet lädt, sieht man das Abziehbild eines Bauernhofs. Kälber, die den Kopf neigen. Schweine, die sich suhlen. Hühner, die auf der grünen Wiese picken. Brunßens Traktor, auf dem „Stolz, ein Landwirt zu sein“ steht, sieht man nicht.

Nachdem sie die Geschichte von Kai Brunßen gehört hat, an diesem Tag, zwei Wochen vor der Wahl, sagt die Abgeordnete: „Tja. Was will man machen?“