Schreckliche neue Welt
Von Daniel Brössler
Als Olaf Scholz am Sonntag im Bundestag zum Rednerpult geht, lässt er Jahrzehnte deutscher Gewissheiten hinter sich. Er gibt eine Regierungserklärung ab, wie sie kein Kanzler vor ihm halten musste. Von einem Tag, nach dem nichts mehr ist, wie es einmal war.
Da sitzt er jetzt. Er hat diesen Moment kommen sehen, er hat ihn gefürchtet. Er hat gewarnt, schrill manchmal. Er ist eigentlich allen da unten auf die Nerven gegangen, den Abgeordneten, der Außenministerin, dem Kanzler. Sie haben mit den Augen gerollt, wenn er nach Waffen rief. Wenn er die Deutschen vor einem historischen Versagen warnte.
„Was der Westen mit vereinten Kräften zu verhindern versucht hat, ist doch eingetreten: Wir haben Krieg in Europa“, sagt Bundestagspräsidentin Bärbel Bas zur Eröffnung einer Sitzung, die es so noch nie gegeben hat in diesem Haus. Und dann begrüßt sie ihn oben auf der Tribüne in der ersten Reihe: Andrij Melnyk. Ein freundlich wirkender Mann mit ergrauendem Haar. Er ist der Botschafter eines Landes, das seit vier Tagen Opfer eines russischen Angriffskrieges ist und das um seine Existenz ringt. „In Gedanken sind wir bei Ihren Landsleuten, die in diesen Tagen ihre Freiheit und die Demokratie verteidigen“, sagt Bas. Der Botschafter steht auf, verbeugt sich.
Es ist der Moment, in dem Olaf Scholz sein erstes Zeichen setzt. In den Applaus hinein erhebt er sich, Wirtschaftsminister Robert Habeck tut es ihm gleich. Dann folgen alle anderen. Erst die Ministerinnen und Minister, dann fast alle Abgeordneten. Sie werden sich noch oft erheben an diesem Tag. Sie wollen Entschlossenheit zeigen. Jetzt geht es um Mitgefühl, Trauer, vielleicht auch um Scham. Altbundespräsident Joachim Gauck, der gekommen ist, um seine Solidarität zu bekunden, nimmt Melnyk in den Arm. Auch das wird bleiben von diesem Tag: eine Umarmung.
Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik hat der Bundestag an einem Sonntag getagt, aber was heißt das schon. Noch nie auch in seiner Geschichte hat dieses Parlament über die Folgen eines Angriffskrieges mitten in Europa beraten. Noch nie mussten sich die Abgeordneten im Bundestag mit einem russischen Präsidenten befassen, der die Hand so nah am Atomknopf zu haben scheint.
Dieser Bundestag hat ja seinen Sitz hier in Berlin, im Reichstagsgebäude, überhaupt nur deshalb, weil es mit solchen Kriegen ein für alle Mal vorbei sein sollte. Die Mauer weg, die Teilung Deutschlands und Europas für immer überwunden – in diesem Hochgefühl zog der Bundestag 1999 nach Berlin in dieses Haus, das bis heute Zeugnis ablegt von der Schlacht um Berlin im April 1945. An den in kyrillischer Schrift gekritzelten Botschaften für die Nachwelt laufen die Abgeordneten jeden Tag vorbei auf dem Weg in den Plenarsaal. Der „ruhmreiche Stalin“ wird da in schwarzem Graffito besungen, aber die meisten Inschriften sagen eigentlich nur: Ich war hier.
Als dann Olaf Scholz die etwa zehn Schritte geht von seinem Platz zum Pult, lässt er Jahrzehnte deutscher Gewissheiten hinter sich. Der Sozialdemokrat wird eine Regierungserklärung abgeben, wie Angela Merkel sie nie halten musste – und auch keiner der Kanzler vor ihr. „Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents. Mit dem Überfall auf die Ukraine hat der russische Präsident Putin kaltblütig einen Angriffskrieg vom Zaun gebrochen“, sagt Scholz. Die himmelschreiende Ungerechtigkeit, „der Schmerz der Ukrainerinnen und Ukrainer, sie gehen uns allen sehr nahe“. Und dann spricht Scholz vom „Krieg in Europa“. Er ist nicht der Erste an diesem Tag und nicht der Letzte, der das tun wird. Aber es gibt einen Unterschied. Scholz, kaum hundert Tage im Amt, ist jetzt der Mann, der erklären muss, was das bedeutet. Für Deutschland. Kein anderer kann ihm das abnehmen.
„Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor“, sagt Scholz also. Nicht viel länger als eine halbe Stunde wird er sprechen. Er wird die Stimme kaum erheben in diesen Minuten, seine Hände liegen meist auf dem Pult. In dieser Hinsicht bleibt Scholz Scholz.
Aber sonst ist alles anders. „What a day“, twitterte Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt, der wichtigste Mann im Team von Scholz, am Samstag kurz vor Mitternacht. Dazu das Bild eines Kanzleramts, in dem noch Licht brennt. In den Stunden zuvor war hier bereits Historisches geschehen, die Entscheidung gefallen, dass Deutschland Waffen liefern wird an die Ukraine. Nicht Helme, nicht Sanitätsfahrzeuge, sondern Panzerabwehrwaffen. Tausend Stück erst einmal. Außerdem 500 Boden-Luft-Raketen vom Typ Stinger aus Beständen der Bundeswehr. Sofort sollen sie auf den Weg gebracht werden über Polen ins ukrainische Kriegsgebiet.
Es ist ein Bruch mit Jahrzehnten deutscher Politik und das Gegenteil von dem, was Kanzler und Außenministerin, eigentlich alle, noch am Tag davor vertreten hatten. „Der russische Überfall auf die Ukraine markiert eine Zeitenwende. Er bedroht unsere gesamte Nachkriegsordnung“, ließ Kanzler Scholz dazu mitteilen. Zwei Sätze waren das, in denen schon alles drinsteckte, was diesen Tag in Berlin nun prägen wird.
Mit dem Überfall auf die Ukraine wolle Putin „nicht nur ein unabhängiges Land von der Weltkarte tilgen“, sagt der Kanzler. „Er zertrümmert die europäische Sicherheitsordnung, wie sie seit der Schlussakte von Helsinki fast ein halbes Jahrhundert Bestand hatte. Er stellt sich auch ins Abseits der gesamten internationalen Staatengemeinschaft“, sagt Scholz. Nur mit dem eigenen Veto habe Russland eine Verurteilung im Weltsicherheitsrat verhindern können. Als er „Was für eine Schande“ ruft, klatschen alle im Plenum, mit Ausnahme der AfD ganz rechts. Es sind Sätze wie diese, voller Empörung, die erkennen lassen, wie sich nicht nur die Welt, sondern auch, wie sich Scholz verändert hat. Außenpolitik war nie sein Thema. Er war Erster Bürgermeister von Hamburg, Arbeitsminister, Finanzminister. Und vor nicht einmal zwei Wochen dann war er der Mann, der an einem grotesken, sechs Meter langen Tisch Wladimir Putin gegenübersaß.
Es gab keine Verständigungsschwierigkeiten. Zum einen, weil in diesem großen Tisch kleine Mikros eingebaut sind, eine Sonderanfertigung. Zum anderen aber auch, weil Putin immer wieder mal ins Deutsche wechselte. Scholz war auch nicht unvorbereitet, er hatte sich eingelesen in die Gedankenwelt des Kremlherren. Den Geschichtsaufsatz studiert, in dem Putin schon vor Monaten das Existenzrecht der Ukraine annullierte. Scholz hat auch mit Experten gesprochen, aber als ihm dieser Mann da breitbeinig gegenübersaß, verstand er: Der meint das ernst. „Wer Putins historisierende Abhandlungen liest, wer seine öffentliche Kriegserklärung an die Ukraine im Fernsehen gesehen hat oder wer – wie ich – kürzlich persönlich mit ihm gesprochen hat, der kann keinen Zweifel mehr haben: Putin will ein russisches Imperium errichten“, fasst Scholz im Bundestag dieses Erschrecken in Worte.
Diese Rede und wie es zu ihr gekommen ist, ist anders auch gar nicht zu verstehen. Wir sind auf alles vorbereitet, das war das Mantra des Kanzlers, bevor dann eingetreten ist, was in diesem „alles“ eben nur theoretisch drin sein konnte. Die Panzer, die auf Kiew vorrücken, die Raketeneinschläge mitten in Europa, der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij in seinen tapferen Videobotschaften, das war vor ein paar Tagen noch ferner, schwer vorstellbarer Horror. In einer schwachen Stunde würde Scholz vielleicht zugeben, dass er darauf eben doch nicht vorbereitet war. Im Kanzleramt jedenfalls begannen Tage, in denen Gewissheiten fielen wie Dominosteine.
Der Ausschluss russischer Banken aus dem Zahlungssystem Swift: zu gefährlich, zu folgenreich auch für Deutschland und seine Energieversorgung? Das ließ sich schon im Lauf des Freitags, des zweiten Kriegstages, nicht mehr halten. Kanzleramtschef Schmidt telefonierte mit den Kollegen in den anderen G-7-Staaten. Keine Waffenlieferungen an die Ukraine? Am Samstagvormittag baten die Niederlande, 400 Panzerfäuste aus deutscher Produktion in die Ukraine schicken zu dürfen. Konnte Scholz nicht ablehnen. Auch die Haubitzen aus DDR-Beständen durften nun aus Estland in die Ukraine. Aber wie konnte Deutschland dann selber noch abseitsstehen? Die Frage war plötzlich nur noch, was Deutschland überhaupt liefern kann. Es gab Anrufe aus dem Kanzleramt bei der Bundeswehr: Was könnt ihr auf den Weg bringen, sofort?
Das also ist die neue Welt, über die Scholz im Bundestag spricht. Und dass die Welt nicht dieselbe ist, gilt ja auch für dieses Parlament. Zu großen Teilen jedenfalls. Da muss man nur Rolf Mützenich anschauen. Wie erstarrt wirkt er über weite Teile dieser Sitzung. Der SPD-Fraktionsvorsitzende ist, man kann das nicht anders sagen, ein feiner Mensch. Zurückhaltend, sensibel, freundlich. Aber auch ein Mensch, der gerade in der falschen Haut steckt. Abrüstung, das war immer sein Thema. Der Kampf gegen nukleare Abschreckung, die er immer für einen Trugschluss hielt. Ein Streiter für den Dialog und einer, der nie zu den schärfsten Kritikern Russlands gehörte. „Wir müssen gemeinsam Putin die Stirn bieten“, wird er später in seiner Rede sagen. Aber erst einmal muss er die Rede seines Kanzlers durchstehen. Eine Rede, die praktisch jede Sicherheit schleift, die über Jahrzehnte die Politik der Sozialdemokratie bestimmt hat.
Scholz spricht von einer „nationalen Kraftanstrengung“, davon, dass wir „deutlich mehr investieren müssen in die Sicherheit unseres Landes, um auf diese Weise unsere Freiheit und unsere Demokratie zu schützen“. Er gibt das Ziel aus, eine leistungsfähige, hochmoderne, fortschrittliche Bundeswehr, die uns zuverlässig schützt, aufzubauen. Es ist gewissermaßen die Antwort auf das Eingeständnis des Heeresinspekteurs Alfons Mais, der nach dem russischen Überfall auf die Ukraine bekannt hatte, sein Heer stehe „mehr oder weniger blank da“. Ein Land von der Größe und Bedeutung Deutschlands werde das ja wohl hinkriegen, bemerkt Scholz fast schon trotzig und verspricht ein Sondervermögen von einmalig 100 Milliarden Euro für den Haushalt 2022. Es wird dann zu den Seltsamkeiten dieses Tages gehören, dass der Finanzminister, FDP-Chef Christian Lindner, nicht einmal leise murrt, sondern sehr laut von „Investitionen in die Freiheit“ spricht.
Scholz bricht dann ganz nebenbei noch mit sich selbst. Jahrelang hat er zwar als Finanzminister in der Regierung von Angela Merkel höhere Verteidigungsausgaben mitgetragen, aber das Ziel der Nato, zwei Prozent der Wirtschaftskraft in die Verteidigung zu stecken, fand er immer illusorisch und obendrein falsch. „Wir werden von nun an – Jahr für Jahr – mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren“, sagt er nun. Es sind die Abgeordneten von den hinteren Bänken der Union, die jetzt als Erstes aufspringen. Noch vor den Abgeordneten der FDP. Sozialdemokraten und Grüne bleiben sitzen.
Wenn die Umarmung des Altpräsidenten und des ukrainischen Botschafters der emotionale Höhepunkt dieser historischen Sitzung ist, so ist dies der politische Höhepunkt. Es gibt von dieser Minute an bis auf weiteres eine Art Ukraine-Koalition im Deutschen Bundestag. In einem Entschließungsantrag stellt sich neben SPD, Grünen und FDP auch die Union hinter die große Wende der Bundesregierung.
Und so ist es, als dann CDU-Chef Friedrich Merz ans Pult tritt, keine Entgegnung des Oppositionsführers auf die Regierungserklärung des Kanzlers. Merz wird sogar sagen, dass es jetzt auf Reden wie seine gar nicht so ankomme, sondern auf den Kanzler. Seinen Text beginnt Merz mit einer kleinen Verwechslung. „Der 24. September“ werde für immer im Gedächtnis bleiben, sagt er. Jeder werde sich erinnern, was er an diesem Tag getan habe. Natürlich meint er den 24. Februar, den Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine. Aber es ist ein Versprecher, der Bände spricht. Der 24. Februar löst den 11. September 2001, den Tag der islamistischen Terrorangriffe auf New York und Washington, als den größten Einschnitt unserer Zeit ab, stellt ihn jedenfalls in den Schatten.
Die Rede ist, mit ein paar Ausnahmen, dann so etwas wie eine Ergänzung der Regierungserklärung. Merz stattet die Botschaften des Kanzlers mit einer Prise Pathos und einer Portion Temperament aus. Er würdigt „den Mut und den Willen des ukrainischen Volkes, für seine Freiheit zu kämpfen“, er geißelt „Niedertracht und Menschenverachtung“ Putins, er äußert Bewunderung für Präsident Wolodimir Selenskij – und er sagt Scholz umfassende Unterstützung zu. Man werde, verspricht er, „nicht im Kleinen herummäkeln“. Übertreiben will es der CDU-Chef dann aber auch an diesem Tag nicht mit der Harmonie. Er kommt auf die zu sprechen, die er, frei nach Lenin, „nützliche Idioten“ nennt und die sich für Putins Machenschaften in Deutschland hergegeben hätten.
Da meint er Manuela Schwesig, die SPD-Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, die mit einer „Umweltstiftung“ Sanktionen gegen die Gas-Pipeline Nord Stream 2 hatte umgehen wollen. Auch Schwesig steht natürlich mittlerweile hinter den Sanktionen, und in der SPD wird gerne daran erinnert, dass ja auch Angela Merkel keine Gegnerin von Nord Stream 2 war. Merz lässt es sich dann aber nicht nehmen, ein wenig in den Wunden der Sozialdemokraten und der Grünen zu bohren, indem er noch einmal ausbuchstabiert, was schon Scholz gesagt hat. Mit Abrüstung gebe es „fortan nicht mehr, sondern weniger Sicherheit“. Und: „Mit Moral allein wird die Welt nicht friedlich.“
Außenministerin Annalena Baerbock geht auf diese vor allem gegen die Grünen gerichtete Spitze nicht weiter ein. Im Gegenteil. „Vielleicht ist es so“, sagt sie, „dass Deutschland am heutigen Tag eine Form besonderer und alleinstehender Zurückhaltung in der Außen- und Sicherheitspolitik hinter sich lässt.“ Und dann sagt sie einen Satz, der auch bleiben wird von diesem Tag: „Wenn unsere Welt eine andere ist, dann muss auch unsere Politik eine andere sein.“
Die Welt meldet sich dann mit aller Wucht, als die Debatte schon gut zwei Stunden läuft. „Russlands Präsident Wladimir Putin versetzt die Nuklearstreitkräfte des Landes in Alarmbereitschaft“, meldet die erste Nachrichtenagentur. Scholz ist da gerade nicht im Plenum. Kann sein, dass ihn die Nachricht da auf schnelleren Kanälen schon erreicht hat. Schwer zu sagen, ob der Kanzler auf diese weitere Eskalation vorbereitet war. In seiner Rede hatte er die Anschaffung neuer Flugzeuge für amerikanische Atomwaffen schon angekündigt.
Neue Kampfflugzeuge, neue Gasterminals, eine neue Außenpolitik, mit „so viel Diplomatie wie möglich, ohne naiv zu sein“. Der Kanzler hat in seiner Rede eine Art neuen Koalitionsvertrag referiert. Es ist Robert Habeck, der Regierungsphilosoph, der am Beispiel der Waffenlieferungen für die Ukraine alles auf eine Formel bringt. Er achte, sagt der grüne Vizekanzler, die „Position des unbedingten Pazifismus“. Aber er halte sie eben für falsch. „Wir kommen“, gesteht er dann noch, „mit sauberen Händen aus der Sache nicht raus.“
Andrij Melnyk hört sich das alles an, die aufmunternden Reden ebenso wie die von AfD-Chefin Alice Weidel, die über den „Rückfall in die Zeit der Realpolitik“ referiert, dem Westen eine Mitschuld gibt am Krieg und noch Zeit findet, sich übers Gendern zu echauffieren. Melnyk schüttelt fast unmerklich den Kopf. Mit einem Auge gehört sein Blick ohnehin immer seinem Smartphone und der Kriegsentwicklung in der Heimat. Er hätte gerne etwas über den EU-Beitritt der Ukraine gehört. „Der Blick ist immer noch schief“, sagt er nach der Sitzung, „aber ich kämpfe ja weiter.“
Draußen, vor dem Reichstagsgebäude, scheint die Sonne. Es ist ein schöner Tag. Während die Abgeordneten tagten, hat sich die Umgebung gefüllt. Viele sind gekommen, um für Frieden und für die Ukraine zu demonstrieren. Ein älterer Herr hat sich in die blau-gelbe ukrainische Fahne gehüllt. Er trägt ein Plakat: „We are all Ukrainians“. Wir sind alle Ukrainer.