Lasst mich halt

von Roman Deininger und Boris Herrmann

Armin Laschet wurde schon oft abgeschrieben – und kam immer wieder zurück. Aber diesmal? Unterwegs mit einem, der nicht verlieren darf.

Süddeutsche Zeitung

Drei Dickhäuter haben sich in einem schummrigen Eck der „Elephant Bar“ versammelt. Zwei stattliche Exemplare hängen gemalt an der Wand, der Dritte hat in einem gemütlichen Ledersessel die Beine übergeschlagen. Draußen vor dem Fenster traktiert der Regen das Pflaster, die Deutschlandfahne hängt schwer an ihrem Mast. Dieser Mittag Ende August fühlt sich an wie ein Abend. Wenn Armin Laschet melancholisch werden wollte, das wäre der Moment.

Eine Bewerbung fürs Kanzleramt ist immer eine brutale Prüfung, aber in Laschets Fall hat man fast den Eindruck, dass große Teile der Öffentlichkeit den Prüfungsteil weggelassen haben, um gleich mit der Prügelstrafe beginnen zu können. „Keine Klage“, sagt Laschet unter sechs Augen in der Elefanten-Bar. „Ich wusste immer, das wird ein harter Kampf gegen die Union.“ Wobei, die Union, es trifft ja doch ziemlich zielgenau ihn allein.

Kann es spurlos an einem vorübergehen, wenn man über Monate hinweg so grundsätzlich infrage gestellt wird? Und zwar nicht nur als Politiker, sondern auch als Mensch?

Offenbar schon. Der Kandidat ist nun aufgesprungen, er will den Besuchern die Stelle zeigen, an der er einst hier im Hotel Quellenhof zu Aachen dem Fußballer Paul Breitner auflauerte, um sich ein Autogramm zu sichern. Der FC Bayern München spielte bei der heimischen Alemannia, der 13-jährige Armin hatte sich über verwandtschaftliche Kontakte Zugang zum Teamhotel erschlichen – und dann setzte sich Breitner fahrlässig ungedeckt auf die Treppe im Foyer.

Breitner trug Badeschlappen damals, das hat Laschet noch im Kopf, oder vielleicht auch wieder, weil schuhmodische Fragen ja zu jenen gehören, in denen er sich grob ungerecht bewertet fühlt im Sommer seines Missvergnügens. Als er im Juli das zerstörte Bad Münstereifel besuchte, ein paar Tage nach der Flut, vermissten seine Kritiker die Gummistiefel. „Das war keine Stiefelsituation“, sagt Laschet mit einigem Ernst. „Wenn alles trocken ist, ist es albern, mit Stiefeln rumzulaufen.“ Die Kritiker sahen das anders, und wenn schon keine Stiefel, dann hätten sie wenigstens Wanderschuhe erwartet. Elefantenhaut, das kann man nachlesen, ist dick, aber empfindlich, ein Elefant bemerkt jede Fliege auf seinem Körper. Laschet sagt: „Ich habe die ältesten Schuhe aus dem Schrank geholt – 16 Jahre alt, aber schon kommt der Vorwurf: aus Leder!“

Wenn es einen Ort gibt, an dem Armin Laschet sicher ist vor aller Unbill der Welt, dann ist es sein geliebtes Aachen, die Stadt, in der er geboren wurde und die er nie richtig verlassen hat. Im Stadtteil Burtscheid wohnt er seit fast dreißig Jahren in demselben Reihenmittelhaus und geht zum selben Kiosk, um seine Zigarillos zu kaufen. Sonntags zum „Tatort“ holt er sich gerne Gyros bei seinem Stammgriechen, der Taverne Lakis. Heimat – das ist für den Ministerpräsidenten, CDU-Chef und Kanzlerkandidaten Armin Laschet dort, wo er sein Leergut noch persönlich zum Rewe bringen kann. In der Welt da draußen weht dagegen der harte Wind der Umfragen. Das Insa-Institut sieht die SPD von Olaf Scholz neuerdings fünf Prozentpunkte vor Laschets Union. 14 Tage zuvor lag die Union beim selben Institut noch fünf Punkte vor der SPD. Laschet sagt sich: Wenn er einen Vorsprung so schnell verspielen kann, dann kann Scholz das auch.

Um doch noch irgendwie nach Berlin zu kommen, muss er da jetzt also wieder raus, aus seinem Sessel, aus seiner Stadt, aus seinem Habitat. Es ist Wahlkampf. Er hat es so gewollt.

Drei Monate mit Armin Laschet auf seinem Weg ins Ungewisse: Wenn man diesen Mann kreuz und quer durch die Republik begleitet, von Dessau nach Profen, von Grünheide über Berlin nach Bad Kreuznach, von Kühlungsborn nach St. Peter-Ording, von Korschenbroich nach Aachen, dann gibt es immer wieder Momente, in denen sich die Frage stellt, ob es wirklich noch sein freier Wille ist, dem Laschet hier folgt. Oder nicht vielmehr die Pflicht, die er sich aufgebürdet hat. Die so historische wie verdammte Pflicht, dass seine Partei, die CDU, nach 16 Kanzlerinnenjahren nicht einfach vor die Tür gesetzt wird. In seiner Dickhaut möchte man derzeit jedenfalls nicht stecken, das wird am Ende eine zentrale Erkenntnis dieser Reisebegleitung sein.

Armin Laschet hat seinen Wahlkampf nicht etwa zu einem bestimmten Zeitpunkt begonnen. Und schon gar nicht entfacht. Er hat sich eher so in ihn hineingezögert. Man kann wohl sagen, dass dies seinem Wesen entspricht. Selbst enge Vertraute verzweifeln manchmal an seiner berüchtigten Entscheidungsfindungsschwäche. Andererseits hat es Laschet in diesem abtastenden Trippelschritt – und ein bisschen auch mit Gottes Fügung – schon ziemlich weit gebracht im Leben.

Vor 42 Jahren trat der heutige Parteichef in die CDU ein, weil ihn ein Bekannter aus dem Burtscheider Kirchenchor mit zunehmender Penetranz dazu gedrängelt hatte. Mehrmals steckte der Mann ein Beitrittsformular in den Briefkasten von Laschets Elternhaus. Irgendwann habe er das Ding dann halt ausgefüllt, „damit er mich in Ruhe lässt“. So erzählte Laschet es Tobias Blasius und Moritz Küpper, den Verfassern des biografischen Standardwerks „Der Machtmenschliche“. Seine heutige Frau hatte er im selben Kirchenchor kennengelernt. Susanne Laschet berichtete einmal im WDR über den Ursprung dieser gut dreieinhalb Jahrzehnte währenden Ehe: „Wir haben nichts Besseres gefunden, beide, das ist einfach so.“ Nicht wesentlich romantischer hat sich dann ja auch die Annäherung zwischen der Union und ihrem Kanzlerkandidaten des Jahres 2021 zugetragen.

Ende Mai steuert das Superwahljahr gerade auf seinen vorläufigen Höhepunkt zu, die Landtagswahl in Sachsen-Anhalt, als Armin Laschet den Ordensschwestern des Krankenhauses von der heiligen Elisabeth zu Halle einen Besuch abstattet. Er trifft dort sechzehn greise Nonnen, die drauf und dran sind, ihren Stift mangels Nachwuchs aufzulösen. Man kann dem Wahlkämpfer Laschet nicht anlasten, dass er nur immerzu auf die große Bühne schielen würde.

Offiziell ist das ja auch noch gar nicht sein Wahlkampf, sondern der des gastgebenden Ministerpräsidenten Reiner Haseloff, CDU. Sachsen-Anhalt gilt aber auch als erster und gleich auch schon ultimativer Stimmungstest nach dem qualvollen Ringen um die Kanzlerkandidatur zwischen Armin Laschet und Markus Söder. Mehrere Umfrageinstitute haben ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen der CDU und der AfD vorhergesagt. Sollte es tatsächlich so weit kommen, käme Laschet aus dieser Bewährungsprobe vermutlich nicht mit einer Bewährungsstrafe davon. Den teils umstrittenen Umfragen könne man nicht vollumfänglich trauen, das sagen viele in der Union. Aber das Zutrauen, auf die richtige Führungsfigur gesetzt zu haben, ist offenbar noch geringer ausgeprägt.

Niemand verkörpert dieses Unbehagen besser als Reiner Haseloff, der eigentlich ein aufrichtiger Parteifreund Laschets ist, aber im April dennoch meinte, sich auf die Seite Söders schlagen zu müssen, um seine Wiederwahl als Landesvater von Sachsen-Anhalt nicht zu gefährden. Davon lässt er sich beim gemeinsamen Besuch der Ordensschwestern nichts mehr anmerken. Haseloff tritt dort als serviceorientierter Reiseführer seines Parteichefs auf. Nach einer kurzen Begrüßungsrede, in der er den Klostergarten als „unseren kleinen Vatikan“ bezeichnet und der allgemeinen Heiterkeit zufolge damit sechzehn Wählerinnenstimmen bis zum Jüngsten Tag für die CDU abgesichert hat, fragt er seinen Nebenmann: „Armin, willst du auch noch was Katholisches sagen?“

Laschet aber will irgendwie gar nicht. Er hat sich auf einem Plastikstuhl niedergelassen und tuschelt mit Schwester Andrea, als ob es eine alte Kirchenchor-Bekannte von ihm wäre. „Lass dich nicht immer bitten“, sagt Haseloff halb scherzhaft. Aber eben nur halb.

Wahlkampf unter Pandemiebedingungen funktioniert anders als handelsübliche Großkundgebungen. Bei solchen Ortsbegehungen wie in Halle beschränkt sich das Publikum auf eine Handvoll Journalisten, die den Kandidaten begleiten, um die Ereignisse für den Rest der Welt zu bezeugen. Ein Termin aber, bei dem nichts Gesagtes bezeugt werden kann, hat hinterher in der öffentlichen Wahrnehmung de facto nicht stattgefunden. Haseloff scheint das Prinzip schon verstanden zu haben. Aber Laschet?

Weniger im Namen Gottes als in Gottes Namen unterbricht er seinen Plausch und hält dann doch noch eine kleine Ansprache, in der es darum geht, dass er in einem katholischen Krankenhaus in Burtscheid zur Welt kam, wo es heute – „so ist der Zeitengang“ – auch keine Nachwuchsschwestern mehr gibt. Es sind die einzigen Worte aus seinem Mund, die für die Presse hörbar sind und damit zumindest eine theoretische Chance gehabt hätten, von mehr als sechzehn Wahlberechtigten wahrgenommen zu werden.

Das ist vielleicht der größte Unterschied zu einem wie Söder: Laschet denkt nicht in Medienwirkungsmechanismen, jedenfalls nicht ununterbrochen, zum Leidwesen seiner Berater. Er hat mit den sechzehn Schwestern eine gute Zeit, er betet mit ihnen noch ein Vaterunser – das reicht ihm dann auch mal für so einen Wahlkampfeinsatz. Und wie sie so unter frommen Katholiken beisammensitzen, Laschet im schwarzen Anzug zwischen den schwarz gekleideten Ordensschwestern, sagt Haseloff: „Jetzt fehlt nur noch die Haube, Armin.“

Vieles von dem, was man mit Laschet in diesem Wahlkampfsommer erlebt, wirkt im Kleinen keineswegs unsympathisch, aber im Großen und Ganzen wenig zielführend. Der Begriff vom „Schlafwagen-Wahlkampf“ macht die Runde, und er ist auch nicht völlig aus der bayerischen Luft geholt.

Armin Laschet aber geht bis weit in den Juli hinein fest davon aus, dass es für ihn trotzdem locker reichen wird. Laschet ist ein Kind der Bonner Republik, er hat das Selbstverständnis der alten Volkspartei CDU verinnerlicht, die es dummerweise so nicht mehr gibt. Dass die CDU ihm die Zuversicht abkauft, hängt mit dem trügerisch glorreichen Wahlergebnis in Sachsen-Anhalt zusammen.

Gut eine Woche nach der stillen Einkehr bei den Schwestern der heiligen Elisabeth siegt Haseloffs CDU dort mit 16,3 Prozentpunkten Vorsprung vor der AfD. Das prognostizierte Fotofinish hat sich als Umfragen-Lachnummer erwiesen. SPD und Grüne landen noch deutlich weiter hinter den Christdemokraten. Am nächsten Morgen tagt das CDU-Präsidium im Berliner Adenauerhaus, und man wird der Stimmungslage nur unzulänglich gerecht, wenn man sie als überschwänglich bezeichnet. Nahezu alle Parteigranden verkünden die frohe Botschaft, dass der „Baerbock-Zug“ nun entgleist sei. Über Olaf Scholz redet niemand mehr (beziehungsweise: noch niemand), und wenn doch, dann garniert mit herzlichem Beileid. Der stellvertretende CDU-Vorsitzende Jens Spahn sagt: „Ich weiß nicht, wann die SPD endlich dazulernt.“ Ganz am Rande warnt Norbert Röttgen davor, dass es ein schwerer Fehler wäre, wenn seine CDU die Zahlen aus Sachsen-Anhalt jetzt überinterpretieren würde. Dafür scheint es allerdings schon zu spät zu sein.

Armin Laschet lässt sich an diesem Vormittag von seinem Chauffeur etwa 150 Meter vor dem Eingang zur Parteizentrale absetzen. Dann schreitet er an den wartenden Fotografen vorbei und verschwindet mit freundlichen Grüßen im Adenauerhaus. Für seine Verhältnisse wirkt das perfekt durchchoreografiert. Der Mann, der in seinem Leben so oft unterschätzt wurde, scheint sich selbst jedenfalls nicht mehr zu unterschätzen.

Armin Laschet kann jetzt nur noch über die eigenen Füße stolpern, so sieht man das nicht nur in der CDU. Sicherheitshalber stellt er in den ersten Sommerwochen praktisch jede Bewegung ein. Das funktioniert ganz prächtig. Am 14. Juli misst eine Forsa-Umfrage 30 Prozent für die Union, elf Punkte Vorsprung auf die Grünen, 15 auf die SPD. Aber die Messergebnisse, die an diesem Tag wirklich von Bedeutung sind, liefert der Deutsche Wetterdienst: bedrohlich zunehmender Starkregen im Westen der Republik.

Die Flut bricht herein über Nordrhein-Westfalen, und der Ministerpräsident findet sich plötzlich in einer Rolle wieder, für die er sich schon in der Pandemie nicht gerade empfohlen hat. Es dauert keine 24 Stunden, bis der Krisenmanager Laschet über die eigenen Füße stolpert. „Entschuldigung, weil jetzt ein solcher Tag ist, ändert man nicht die Politik“, sagt er ziemlich gereizt in einem Interview des WDR-Fernsehens. Im Kontext soll das heißen: Es brauche gar keinen Weckruf, seine Regierung tue ja eh schon eine Menge gegen den Klimawandel. Ohne Kontext klingt es nach: Flut hin, Flut her, wir machen nix. Kontext ist ein Luxus, der in einem Bundestagswahlkampf selten gewährt wird.

Dann besucht Armin Laschet die Leitzentrale der Feuerwehr in Erftstadt, wo sich die Erde zu einem riesigen Krater aufgetan hat. Die meisten Journalisten vor Ort bekommen die Szene, mit der sich Laschets Wahlkampf dem Abgrund nähert, gar nicht mit. Das Beweisvideo legt die Anklage erst später bei Twitter vor. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier steht vor den Mikrofonen und spricht, Laschet steht ein paar Meter dahinter, in einer Gruppe von Honoratioren und Mitarbeitern, die auf einmal ins Feixen gerät. Irgendetwas muss sehr lustig sein, mehrere Personen gackern nun herum. Aber nur eine davon will Bundeskanzler werden.

Das Urteil über Laschets Lachen am Schauplatz der Katastrophe fällen viele im Schnellverfahren: pietätlos, würdelos, anstandslos. SPD-Vizechef Kevin Kühnert erklärt die Angelegenheit umgehend zu einer „Frage des Charakters“, allerdings nur bei Laschet – und nicht bei Steinmeier, der einige Minuten später, während Laschet spricht, ebenfalls beim Lachen erwischt wird. Der Bundespräsident gestaltet sein Amüsement vielleicht einen Deut weniger karnevalesk.

Der Kandidat entschuldigt sich noch am gleichen Abend, aber es ist zu spät. In der freundlichsten Interpretation der Ereignisse hat Laschet im falschen Moment die Konzentration verloren und damit wieder einmal sein Faible für Fehler bewiesen und das in einem Wahlkampf, den er durchaus kühn auf die Vermeidung ebensolcher angelegt hatte. In der schlimmstmöglichen Lesart, die selbstverständlich zahlreiche Anhänger findet, steht Laschet nun als der Typ da, der die Opfer der Flut verhöhnt hat.

Wie schlimm ist Armin Laschet? Zumindest ist er, als gelernter Journalist eigentlich vom Fach, ein schlimmer Verkäufer seiner selbst. Seine abwägende Strategie in der Corona-Krise hätte mehrheitsfähig sein können; am Ende nahm die Mehrheit sie als Zickzack-Kurs wahr. „Ich bin vielleicht nicht der Mann der perfekten Inszenierung“, hat er in seiner Bewerbungsrede als CDU-Chef gesagt, „aber ich bin Armin Laschet, darauf können Sie sich verlassen.“ So ist es gekommen.

Armin Laschet ist ein Politiker mit tiefen Prägungen, durch den rheinischen Katholizismus, durch den europäischen Geist der Grenzstadt Aachen, ein Mann von Überzeugungen, für den die Wirtschaft brummen muss, damit die Leute Arbeit haben, bemerkenswert liberal etwa in Integrationsfragen. Und er ist eben auch ein Politiker, der sich beinahe bockig weigert, einfache Antworten auf Fragen zu geben, die er für komplex hält. Einer, dessen Anspruch, immer er selbst zu sein, manchmal seine Professionalität untergräbt.

Woran es ihm nicht mangelt, ist Empathie und Taktgefühl, was jeder beobachten kann, der mit ihm länger in den Flutgebieten unterwegs ist. Dem Ministerpräsidenten geht nahe, was da mit seinem Land und dessen Menschen passiert, und die kleine Begegnung gehört zu seinen großen Stärken. In einer Schule, in der Evakuierte untergebracht sind, tritt ein Mann an ihn heran und sagt: „Ich habe nur noch das, was ich anhabe.“ Laschet legt die Hand auf die Schulter des Mannes, erst ganz vorsichtig, dann kräftiger, Worte sind überflüssig. „Was brauchen Sie am dringendsten?“, fragt er irgendwann.

Der Krisenmanager Laschet tut in den Tagen der Flut, was ein Krisenmanager so tut, Hilfspakete schnüren, Ortsbesuche machen. Aber er steht jetzt unter verschärfter, dezidiert ungnädiger Beobachtung. Wenn er mit dreißig Flutopfern spricht, und einer ruft „Versager“, dann ist klar, wer von den dreißig am Ende in der Zeitung und im Fernsehen landet. Als er mit Angela Merkel das verwüstete Bad Münstereifel besucht, nur drei Tage nach Erftstadt, sagt ein Mann zur Kanzlerin, er habe sie gewählt, obwohl sie Frau, Christdemokratin, Ostdeutsche und Protestantin sei. Es ist ein Kompliment, großes Gelächter. Merkel lacht, die Leute drumherum lachen. Wahrscheinlich fragt sich Laschet jetzt, ob er mitlachen darf. Er belässt es lieber bei einem scheuen Grinsen.

Es gibt nun also ein Bild von Armin Laschet, das an ihm klebt und das er vermutlich auch nicht mehr loswird: der Lächler in der Flut. Seine Versuche, diesem Bild in den Tagen danach neue Bilder von Anteilnahme und Tatkraft entgegenzusetzen, scheitern auf ganz verschiedene Weise. Kurios in Schleiden, als ihm das Rednerpult mit Landeswappen vor einen Schrottberg gestellt wird. Oder ehrenwert an der Steinbachtalsperre, als er den Damm so vertieft inspiziert, dass er die Fotografen vergisst. „Umdrehen!“, brüllt einer. „Wir brauchen das Bild!“ Man fragt sich, ob das jemals irgendwer zu Söder hat sagen müssen.

Im August muss es für Armin Laschet also darum gehen, endlich brauchbare Bilder zu produzieren: bleibende Motive, die einen anderen Laschet zeigen – bestenfalls einen herzlichen, einen staatsmännischen oder einen anpackenden Laschet, zumindest aber keinen weiteren peinlichen. Auf der Jagd nach solchen Bildern begibt er sich auf „Deutschland-Tour“. Wäre man Kampagnenmanager, würde man an dieser Stelle womöglich eine Landkarte ausrollen und alle aktuellen und ehemaligen Hochwassergebiete zur weiträumigen Umfahrung empfehlen. Was macht Armin Laschet? Er steuert geradewegs ins sächsische Torgau, das in jüngerer Vergangenheit bereits zweimal von einer Elbflut heimgesucht wurde. Mutig, mutig.

Torgau nennt sich selbstbewusst „Schauplatz von 500 Jahren Weltgeschichte“. Klar, dass dieser Ort nicht gleich kopfsteht, bloß weil ein Kanzlerkandidat der Union vorbeischaut. Der Kreis der Schaulustigen beschränkt sich auf eine Schafherde, die am anderen Ufer der Elbe grast und von dort ein rustikales Landlüftchen herüberwehen lässt. Mit jeder Etappe von Laschets Tour verbindet sich die Hoffnung, eine bestimmte Botschaft platzieren zu können. Microchip-Fabrik in Dresden: Nur mit der Union kommt die Digitalisierung (demnächst aber wirklich). Spaziergang über die Oderbrücke: Deutschland braucht außenpolitische Kompetenz. Rundfahrt im Kohlerevier: Laschet kann Strukturwandel. So viel zur Theorie.

Tatsächlich werden Ortstermine mit Armin Laschet nicht selten von einer Eigendynamik erfasst. Für einen Spitzenpolitiker hat er sich eine verblüffende Spontanität bewahrt, die in Reihen seiner PR-Leute nicht zur Verlängerung der Lebenserwartung beitragen dürfte. Der Auftritt in Torgau soll eigentlich der Würdigung des ehrenamtlichen Engagements von Fluthelfern gelten, am Ende geht es vor allem um die Bratwurst.

Laschet wird von Marian Wendt empfangen, einem „waschechten Torgauer“, der für die CDU im Bundestag sitzt. Wendt gehörte zu jenen, die sich im Ringen um die Kanzlerkandidatur klar hinter den Parteichef gestellt haben – wohlgemerkt hinter jenen der CSU.

Hochwassergebiet – Schaf-Publikum – Söder-Fan: Man müsste sich schon ziemlich anstrengen, um aus der bisherigen Gemengelage eine Reizwortgeschichte zu basteln, in der Armin Laschet gut dastünde. Laschet sagt: „Eine Krise bietet immer die Chance, dass es danach besser wird“, was sich offenbar auf die jüngere Geschichte von Torgau beziehen soll, in diesem Moment aber wie eine Durchhalteparole in eigener Sache klingt.

Bevor es besser werden kann, ist erst einmal Mittagspause. Am Würstchenstand gibt es „original sächsische Bratwurst Thüringer Art“. Laschet ignoriert die von ortskundiger Seite vorgebrachte Empfehlung, diese Spezialität am besten mit Senf zu genießen. „Currywurst ist wieder in“, verkündet er und pumpt fröhlich Ketchup in sein Brötchen. Irgendwann im Verlauf dieser Mahlzeit muss sich dann die Erleuchtung des Marian Wendt zugetragen haben. Er stehe nun voll und ganz hinter Laschet, sagt der CDU-Politiker später: „Am Ende des Tages ist es nämlich nicht wichtig, einen guten Inszenierer zu haben, sondern einen guten Kanzler.“ Das wäre doch mal eine Botschaft, die sich vermarkten ließe: Wie schnell in der direkten Begegnung offenbar die Front der Laschet-Skeptiker bröckelt. Dem Kanzlerkandidat geht es aber gerade nicht um die Vermarktung, sondern um den Nachschub. Marian Wendt, plötzlich treu zu Diensten des Parteichefs, sagt zum Grillmeister: „Bitte noch eine Wurst für Herrn Laschet. Die hat ihm so gut geschmeckt.“

Das spricht sich herum. Bald stehen hinter den Fluthelfern des Technischen Hilfswerks auch CDU-Mitarbeiter und Presseleute in der Schlange, um sich nach der offenbar vorzüglichen Bratwurst zu erkundigen. „Ausschlaggebend ist der Majoran“, diktiert ein Torgauer Fleischermeister in Journalistenblöcke hinein. Am selben Abend werden in der ARD die „Tagesthemen“ damit beginnen, dass Armin Laschet Ketchup statt Senf genommen hat. Dass der Abgeordnete Wendt nach dieser Begegnung aber Laschet statt Söder nehmen würde, findet nirgendwo Erwähnung.

Am 11. August stürzt die Union bei Forsa auf 23 Prozent ab. Und als wäre das nicht schrecklich genug, hält die Erhebung noch ein Detail bereit, dessen Betrachtung für Armin Laschet so etwas wie Folter sein muss: 39 Prozent der Unionswähler wünschen sich ihn als Bundeskanzler. Oder andersrum: 61 Prozent nicht.

Immerhin, 100 Prozent der Laschet begleitenden SZ-Reporter sind beeindruckt von seiner unverdrossen guten Laune. Und tatsächlich gestaltet sich der Bürgerkontakt des Kandidaten im Regelfall erfreulicher, als die Zahlen es vermuten lassen. „Ah, der Herr Laschet, der wird der neue Merkel“, sagt eine Shopperin in der Wiesbadener Fußgängerzone, ohne jede Ironie oder Panik in der Stimme. Wenn man dem neuen Merkel bei seinen Gesprächen lauscht, fällt auf, dass er nicht nur Fragen an die Leute hat („Wie funktioniert das, so ein Lufthansa City Center?“), sondern auch Interesse an deren Antworten.

Just, als man sich ernsthaft fragt, ob das Pech, das Laschet an den Füßen klebt, vielleicht mal einen Tag Erholungsurlaub genommen hat, nennt er den örtlichen CDU-Kandidaten Ingmar Jung Ingbert. Aber Ingmar Jung scheint das nicht zu stören, und wenn nicht ihn – wen dann?

Mitte August versucht Laschet sein Glück im hohen Norden. Im Naturschutzgebiet „Südlicher Priwall“ erwarten ihn schon wieder Schafe. Mit einem wird er bekannt gemacht („Den können Sie anfassen, das ist Mati“). Der Kanzlerkandidat streichelt dem an aktuellen politischen Fragen offenbar gänzlich desinteressierten Tier mehrmals durch die Wolle. Die Kameras der Fotografen klicken, als ob sich hier zwei hochrangige Staatschefs begegnen würden. Der Armin und der Mati – könnte sie vielleicht so aussehen, die ersehnte Trendwende im Wahlkampf?

Am nächsten Morgen meldet Forsa: „Die Erosion des Anhängerlagers der Union hält an.“

So geht das seit Wochen, es muss für Laschet zum Verzweifeln sein. Er ist in Frankfurt am Main in einen Boxring gestiegen und im anderen Frankfurt über die Oder-Brücke spaziert. Er hat in Torgau ein Notstromaggregat besichtigt und in Oberhausen ein Schmutzwasserpumpwerk feierlich eröffnet. Er hat in Wiesbaden einen Sack Moorkartoffeln erworben, in Kühlungsborn Aalhäppchen gekostet und in St. Peter-Ording ein „Pokémon“-Heft signiert. Er hat sich auf dem Priwall erst über das Brutverhalten der Flussseeschwalbe unterrichten lassen und im Anschluss mit einem Akkuschrauber ein Vogelhäuschen gebaut. Aber bei den Demoskopen kommt von alldem nichts Messbares an. Jedenfalls nichts Gutes für Laschet.

An einem Abend in Bonn, der August weicht langsam dem September, ist Armin Laschet ganz in seinem Element. Eine Villa im Stadtteil Bad Godesberg, Marmorsäulen und Deckenstuck. Früher, als Laschet in der alten Hauptstadt allen Ernstes als ein „junger Wilder“ des Bundestags galt, war das hier mal die pakistanische Botschaft. Nun ist die „Academy of International Affairs NRW“ eingezogen, der Ministerpräsident schreitet stolz zur Eröffnung. „NRW hat die Welt im Blick“, sagt Laschet, was der Welt – folgt man seiner Deutung – nur guttun kann.

Es gibt Laschet wohlgesonnene Leute, die finden: Das eine Amt, auf das seine Talente perfekt passen, die integrative Art, der Sinn für Symbolik, die Liebe zu NRW, die sich etwa darin äußert, dass er auf absolut jeder Station seiner Deutschlandtour irgendeine abenteuerliche Verbindung zur Heimat herstellen kann – dieses eine Amt wolle er jetzt aufgeben. Natürlich soll von Bad Godesberg trotzdem das Signal ausgehen, dass da einer den von ihm geforderten Nationalen Sicherheitsrat behände leiten könnte. Aber da ist noch ein anderes Signal, nur für die Eingeweihten: Armin Laschet macht sein Ding.

2015 gab der Dozent Laschet an der Aachener Uni RWTH ein politikwissenschaftliches Seminar, an dessen Ende er seinen Studenten mitteilen musste, dass ihre korrigierten Klausuren „auf dem Postweg abhandengekommen“ seien. Bei den Noten habe er aber „eine Rekonstruktion versucht“, auf Grundlage seiner Notizen – und jener „der mich unterstützenden Co-Korrektorin Frau Lehrbeauftragte Dr. Mayssoun Zein Al Din“. Laschets Version der Ereignisse büßte an Überzeugungskraft ein, als sich herausstellte, dass er 35 Noten vergeben hatte, obwohl nur 28 Studenten die Klausur mitgeschrieben hatten.

Am Ende wurden die Noten annulliert, Laschet beendete seine Tätigkeit an der RWTH. Die Uni-Verantwortlichen waren von mehreren Aspekten irritiert: Zunächst hatten sie nicht gewusst, dass Laschet die Noten nur „rekonstruiert“ hatte. Dass er seine Notizen zwischenzeitlich entsorgt haben wollte, fanden sie auch nicht optimal. Und dass es bei Seminararbeiten eine „Co-Korrektorin“ gibt, hörten sie das allererste Mal. Und damit wieder nach Bad Godesberg im August 2021: Genau diese Mayssoun Zein Al Din präsentiert Laschet nun als Geschäftsführerin der neuen Akademie. Amerikanische Wahlkampfmanager würden bei so einer Idee aus Protest in den Hungerstreik treten: Sollte ein Kandidat kurz vor der Wahl die Medien noch mal persönlich auf die peinlichste Affäre seiner Karriere hinweisen? Warum denn nicht, findet Laschet.

Dem Kandidaten müssen die Ohren dröhnen in diesen Tagen, das Dröhnen sind die werten Parteifreunde mit ihren dringenden Empfehlungen, wie er seinen Wahlkampf bitteschön neu auszurichten habe. Mehr Dampf, mehr Gas, mehr Power. Mehr Köpfe, ein Team. Und endlich mal über innere Sicherheit reden, ein Thema, bei dem die Basis deutlich mehr Zuspitzung für angemessen hält als der Kandidat. Auf all das angesprochen sagt Laschet immer: Keine Sorge, kommt noch, alles zu seiner Zeit. Das klang im Juni noch leidlich plausibel, aber Ende August?

Die Wochen ziehen ins Land, und es beschleicht einen der Gedanke, Laschet wolle womöglich auch deshalb nichts verändern, weil das ja ein Eingeständnis wäre, dass vorher nicht alles perfekt war.

Korschenbroich am Niederrhein, stolze Heimat von Berti Vogts, Backsteinhäuser und Borussia-Mönchengladbach-Fahnen. Von der Bolten-Brauerei weht der Malzgeruch hinüber in den Biergarten, in dem nun die Durchsage ertönt, dass draußen der Bus nicht durchkomme, weil diverse Wildparker die Straße blockieren. Offenbar wollten sie auf keinen Fall den Auftritt des Kandidaten verpassen. Irgendetwas ist anders an diesem Nachmittag, und die Ahnung bestätigt sich dramatisch, als der notorische Zuspätkommer Armin Laschet fünf Minuten zu früh am Veranstaltungsort eintrifft.

Laschet-Reden sind genremäßig eher Gesamtkunstwerke, es gibt so gut wie nie den einen Satz, der in Erinnerung bleibt, manchmal wirkt es fast so, als hätten er und seine Redenschreiber sich zu verhindern vorgenommen, dass seine vielschichtigen Ausführungen von übereifrigen Journalisten auf ein paar Stichworte reduziert werden können. Aber hier, in Korschenbroich, rutscht der Welterklärer Laschet immer wieder in einen Sound, als wäre bald Bundestagswahl und er wolle Kanzler werden. Die Grünen: „Sollen wir denen denn das Land anvertrauen?“ Olaf Scholz: „Ich erwarte von ihm, dass er klipp und klar sagt, er wird mit der Linken nicht koalieren.“ Und überhaupt: „Keine Experimente!“ Wenn die Ohren nicht täuschen, betont Laschet dann noch, wie wichtig die Abschiebung von Gefährdern sei und die Rückendeckung für die Polizei. Ein Zuhörer sagt hinterher, er sei „richtig erleichtert“, der Kandidat könne ja doch kämpfen.

Er kämpft da aber auch mindestens zwei Kämpfe, die für ihn kaum zu gewinnen sind. Zum einen den gegen seinen chronischen Schlendrian, der ihn selbst auf Feldern ereilt, auf denen er sich am sichersten fühlt, etwa der deutschen Geschichte. Laschet kann die biografischen Eckdaten sämtlicher dreißig im Aachener Dom begrabenen Könige referieren, aber er bringt es trotzdem fertig, sich bei seinem Wahlkampfauftakt so zu verhaspeln, dass jetzt halb Deutschland denkt, er wüsste nicht, dass die GSG 9 die Geiseln 1977 in Mogadischu befreit hat und nicht in Landshut.

Daneben führt Laschet noch den Kampf gegen eine Dynamik, die sich von jeder Wirklichkeit zu emanzipiert haben scheint. Wenn er den Tech-Unternehmer Elon Musk trifft und aus Höflichkeit eine Journalistenfrage ins Englische übersetzt, wird er auf Twitter für seine peinliche Frage verhöhnt. Wenn er in Osnabrück an einer Kugel Stracciatella schleckt, lautet der Vorwurf, wie er „in dieser Situation“ bloß ein Eis essen könne. Rätselhaft bleibt, in welchen Situationen der Eisverzehr für Kanzlerkandidaten akzeptabel wäre. Fest steht nur: Armin Laschet kann momentan machen, was er will, am Ende kommt es immer knüppeldick.

Laschet ist in seinen knapp drei Jahrzehnten als Berufspolitiker oft belächelt und selten für voll genommen worden. Rückschläge aller Art ist er gewohnt. 1998 verliert er nach nur einer Legislaturperiode sein Bundestagsmandat, seine politische Karriere scheint da schon beendet zu sein, bevor sie richtig losgeht. Aber dann sichert er sich mit einer Stimme Mehrheit die Nominierung als CDU-Kandidat für die Europawahl und schafft tatsächlich einen Neustart in Brüssel. 2010 scheitert er in Nordrhein-Westfalen bei dem Versuch, den mit Abstand mitgliederstärksten Landesverband der CDU zu übernehmen, bevor er es ihm zwei Jahre später doch noch gelingt. 2017 wird er entgegen allen Prognosen Ministerpräsident, wieder mit einer Stimme Mehrheit. Gemessen an den Erwartungen führt er seine Regierung souverän und erfolgreich.

Auf seinem beschwerlichen Weg nach oben scheint sich bei Armin Laschet eine Art innere Teflon-Beschichtung gebildet zu haben. Die hilft ihm in diesen Tagen, in denen die Shitstürme praktisch im Stundentakt auf ihn einprasseln: „Menschen ticken anders, als man das bei Twitter glaubt.“ Er räumt aber ein, dass seine Freunde und Verwandten das alles längst nicht so gelassen ertragen wie er selbst. Vor allem seinen Vater nimmt es offenbar mit. Heinz Laschet war im Bergbau tätig, bevor er auf dem zweiten Bildungsweg zum Lehrer umschulte und es noch bis zum Grundschuldirektor brachte. Jetzt, so erzählt es der Sohn, sitze sein Vater zu Hause und lese praktisch jeden Artikel über ihn im Internet. Armin Laschet versucht Heinz Laschet dann zu erklären, dass er sich nicht alles zu Herzen nehmen soll. Aber das ist natürlich zwecklos.

Hört man sich im früheren Leben des Kanzlerkandidaten ein wenig um, bei alten Bekannten, Förderern und Weggefährten, so stellt man fest, dass sie alle stellvertretend für ihren Armin ein wenig mitleiden. Da ist etwa der Pfarrer Heribert August, der Laschet schon in der Pfarrjugend auf den Pfad der Tugend führte, ihn später mit Susanne vermählte, seine drei Kinder taufte und im Herbst seines Lebens gemeinsam mit Vater Heinz die segensreiche Wassergymnastik entdeckte. August sagt zur Lage des CDU-Chefs: „Die Behandlung ist nicht fair. Das hat er nicht verdient. Es ist wohl niemand gefragt, der besonnen und abwägend ist, der sich ein gründliches Urteil bildet.“

Da ist auch der alte Kumpel Heribert Walz, dessen Frau mit Laschets Frau eng befreundet ist, der 2006 im gemeinsamen Portugal-Urlaub erlebte, wie der damalige Integrationsminister von Nordrhein-Westfalen rauchend und telefonierend in den Pool stürzte, und der bezeugen kann, dass Armin Laschet den Zigarillo mit einer Hand rettete, während das Handy unterging. Walz sagt über den Wahlkampf 2021: „Wenn man das Gefühl hat, er wird ungerecht behandelt, da ist man schon betroffen.“ Und da ist schließlich der pensionierte Oberstudienrat Karl Niederau, der von sich sagen kann, auf dem bischöflichen Aachener Pius-Gymnasium gleich zwei spätere Ministerpräsidenten zum Abitur geführt zu haben, nämlich nicht nur Laschet, sondern auch den skandalumtosten Thüringer Kurzzeit-Regenten Thomas Kemmerich, und der die Hoffnung partout nicht aufgeben will, auch noch als Geschichtslehrer des nächsten Bundeskanzlers in die Geschichte einzugehen. Niederau sagt zu den Wahlprognosen der Union: „Wenn Sie mich fragen: 29,2 Prozent.“ Immerhin in Laschets Aachener Biotop sind die Umfragen noch halbwegs in Ordnung.

Kein biotopischer Rundgang wäre komplett ohne einen Imbiss in der Taverne Lakis, ganz am Ende der Burtscheider Fußgängerzone. Auf der Speisekarte steht hier die Currywurst mit Fritten unter der Rubrik „Leichte und vegetarische Gerichte“. Der Gyrosteller mit Tsatsiki und Salat, Laschets Leibspeise, kostet sieben Euro. Joannis Bitzakis, der griechische Wirt, erkennt Reporter auch dann, wenn sie sich fest vorgenommen haben, sich nicht als solche zu erkennen zu geben. Er bringt einen Ouzo aufs Haus und erzählt ungefragt: „Ich kenne ihn seit 28 Jahren, es gab Zeiten, da kam er Sonntag, Dienstag und Mittwoch hierher, montags hab ich Ruhetag.“ Und als ob die unerschütterliche Bodenhaftung seines treuen Stammgastes noch eines weiteren Beweises bedurft hätte, sagt Bitzakis, er habe in all den Jahren nicht ein einziges Mal die Dienstlimousine von Armin Laschet gesehen.

Am Nebentisch sitzen vier Krankenpflegerinnen vor ihren leichten, vegetarischen Grillspezialitäten und politisieren fröhlich mit. Eine von ihnen gibt zumindest vage Sympathien für einen gewissen Söder zu erkennen, wird dafür aber umgehend von der Gattin des Gastwirts zurechtgewiesen, unter anschaulicher Zuhilfenahme ihrer Briefwahlunterlagen. Dass Laschet damals im Flutgebiet gelacht habe, ja klar, doof. Herr und Frau Bitzakis meinen aber aus bester Quelle zu wissen, dass es dafür eine wirklich haarsträubend profane Ursache gab. Es bleibt wohl der weitergehenden Laschet-Forschung überlassen, hier die historischen Fakten zu verifizieren.

Zur tagesaktuellen Faktenlage am 30. August gehören weitere Abgründe in den Umfragetälern. Die SPD scheint der Union zu enteilen. Laschets fast schon penetrante Zuversicht kann sich jetzt nur noch darauf gründen, dass seine Umfragen immer miserabel waren: vor der Wahl zum Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen 2017, vor der Abstimmung zum Parteivorsitz der CDU im Januar, vor der Entscheidung über die Kanzlerkandidatur der Union im April. In allen drei Fällen standen ihm scheinbar übermächtige Gegner gegenüber, erst die einstmals als unschlagbar geltende SPD-Landesmutter Hannelore Kraft, dann der unzerstörbare Friedrich Merz in seiner bislang letzten Blütephase und schließlich der kraftstrotzende Pandemie-Söder. Am Ende hat er sie alle ausgestochen, weil er trotzig stehen blieb, wo viele andere wohl eingeknickt wären. Wer vermag noch die Momente zu zählen, in denen sich Deutschland einig war, dass Laschet endgültig alles vermasselt hat? Bislang hat sich das stets als voreilig erwiesen. Das Prinzip muss sich nur noch einmal wiederholen, dann ist er Bundeskanzler.

Um eine so unwahrscheinliche Karriere wie Armin Laschet hinzulegen, braucht man nicht nur eine dicke Haut, sondern auch eine überschaubare Eitelkeit. Er will von den Massen nicht geliebt werden, er will nur ihre Stimmen. Zur Not reicht ihm auch eine einzige mehr als unbedingt notwendig. Et hätt noch emmer joot jejange, auf dieses rheinische Grundgesetz verlässt er sich auch diesmal. Aber könnte es sein, dass die Regel, an die er glaubt, gar keine Regel ist, sondern eine irre Kette von Ausnahmen?

Zur vollen Wahrheit gehört etwa, dass es schon im April beim Showdown mit Markus Söder für ihn nicht joot jejange wäre, wenn Wolfgang Schäuble, die badische Eminenz der CDU, nicht im entscheidenden Moment Laschets Kür durchgepeitscht hätte, gegen den Wunsch der gefühlten Parteimehrheit. Schäuble ist erfahrungsgemäß vieles zuzutrauen, aber selbst er wird das Wahlvolk kaum dazu zwingen können, am 26. September für die Union zu stimmen.

Führende Laschet-Deuter können minutiös belegen, dass ihn bislang jede Niederlage nur noch stärker hat zurückkehren lassen. Aber auch diese Gesetzmäßigkeit stößt an ihre Grenzen: Wenn er jetzt verliert, gibt es kein Danach mehr für den Politiker Armin Laschet. Eine Rückkehr nach NRW hat er klipp und klar ausgeschlossen. Kanzler oder nix, darum geht es.

Laschet unternimmt nun sogar den Versuch, aus seiner verzweifelten Lage ein Verkaufsargument zu basteln. Sein Schlussstatement beim TV-Triell widmet er seiner Standhaftigkeit im Wind der Veränderung. Oder war es doch die Stabilität im Gegenwind? Irgendwas muss da mit der Wind-Metaphorik durcheinandergeraten sein. Es ist ein klassischer Laschet: Grundidee gut, Botschaft verdaddelt. Die zugehörige Häme findet Vater Heinz sicherlich ohne lange zu googeln im Internet.

Als es um seinen Vater geht, um seine Frau und seine Kinder, wägt Armin Laschet im Halbdunkel der Elefanten-Bar in Aachen seine Worte noch ein wenig länger als sonst. „Ich sage ihnen immer: Ich mache das hier schon, und ihr lebt bitte so normal wie möglich.“ Auch der Mann, der Kanzler werden will, würde gerne ein normaler Mensch bleiben, es ist ein Grundsatz, aber auch ein Vorsatz. „Wenn ein Café-Betreiber mir freundlich ein Eis gibt, dann esse ich das auch und gebe es nicht weiter oder werfe es weg.“

Und doch bemerkt man auf Reisen mit Laschet, dass er inzwischen die Lippen zusammenpresst, wenn andere lachen. Dass er den Rücken durchstreckt, wenn er merkt, dass die Fotografen in Stellung gehen. „Ich achte noch mehr auf all diese Dinge“, sagt er. „Ich will aber nicht statisch und unauthentisch werden.“

Er hat ein paar Kleinigkeiten verändert in seinem Wahlkampf, die Themen erweitert, den Ton verschärft, doch noch ein Team präsentiert. Aber im Grunde glaubt er fest daran, dass die Sache ganz einfach ist, auch jetzt, auf den letzten Metern im Rennen seines Lebens: „Wenn du in einen Saal gehst und erklärst, warum du etwas machst, folgen die Leute meist.“

Nach drei Monaten mit ihm lässt sich eine Wahlprognose wagen: Armin Laschet wird authentisch siegen. Oder authentisch untergehen.