Gruß aus der Küche

von Nora Voit und Maria Christoph

In einigen deutschen Sternerestaurants herrscht ein Klima der Angst. Mitarbeiter werden von ihren Chefs erniedrigt, Azubis brechen heulend zusammen. Über ein ungnädiges System, dem sogar die Starköche selbst zum Opfer fallen können.

Die Zeit

Vierter Stock, Penthouse mit Glasfassade und Terrasse, Rundblick über München. Ein Mitarbeiter des Salon rouge weist den Weg zum Tisch, er trägt einen schwarzen Anzug, schwarze Sneaker, bordeauxrote Socken. Draußen auf der Terrasse steht Tohru Nakamura am Kastengrill, das Küchentuch über der Schulter. Eigentlich hat er sein Gourmetrestaurant in der Münchner Innenstadt, aber dort wird bis Mitte Oktober renoviert, deshalb hat Nakamura dieses Penthouse zur Pop-up-Location umbauen lassen. Ein spektakuläres Ausweichquartier. Rote Tücher schweben vor Betonwänden, Pfingstrosen hängen von der Decke herab. Zum Anstoßen: ein Glas Perrier-Jouët für 22,50 Euro. Darf es noch ein Schluck gefiltertes »Werksquellwasser« sein?                                                          

Der Sommelier empfiehlt die Weinbegleitung in sechs Gläsern. Die Kellnerin, freundlich-lässig wie der Sommelier, bringt den Wein, zieht sich zurück, steht plötzlich wieder am Tisch: »Meine Adleraugen haben da etwas erspäht!« Eine Fruchtfliege hat sich ins Weinglas verirrt. Schon steht ein neues bereit.                      

Erster Gang: das rohe Rückenfilet vom Balfegó-Thunfisch, vor der spanischen Küste bei L’Ametlla de Mar mit der Harpune erlegt von einem Taucher, dessen Name auf dem Lieferschein vermerkt war. Dazu ein Schaum von der Kokosnuss, Kapuzinerkresse und belgischer Premium-Kaviar. So erklärt es Nakamuras Restaurantleiter, der immer mal wieder an den Tisch kommt.                              

»Ihr Besuch in unserem Restaurant soll ein unvergessliches Erlebnis und ein Kurzurlaub für die Sinne sein«, steht auf der Menükarte. Nach fünf Stunden und elf Gängen, nach geräucherter Pilzmousseline, Rotbarbe in Beurre Blanc und Seeforelle mit Süßdolde ist der Kurzurlaub vorbei. 499,50 Euro für zwei Personen, bitte. Der Chefkoch verabschiedet sich persönlich: leichte Verneigung, die Hand zum Peace-Zeichen geformt.                                 

»Vielen Dank!«, sagt Tohru Nakamura.                                                      

Jacob Weis sagt: »Der, der am beschissensten performt hat, kam in den Keller.«     

Weis spricht nicht über den Salon rouge, sondern über den »Werneckhof by Geisel«, das Restaurant, das gerade renoviert wird und in dem Nakamura seinen ersten Stern erkochte. Jacob Weis arbeitete dort im Jahr 2014 als Jungkoch. Gegen Ende der Schicht sei sein Chef Nakamura häufig durch die Küche gefegt und habe befohlen: Jacob in 15 Minuten nach unten! Fast jeden Abend habe er in den Weinkeller gemusst, erzählt Weis. Oben an der Treppe habe man warten müssen, während Nakamura unten jemand anderen fertigmachte. »Manchmal kam einer hoch und war am Heulen.« Sei man selbst dran gewesen, habe Nakamura zwischen edlen Tropfen aus aller Welt auf einem Barhocker gewartet. »Da saß man sich talkgastmäßig gegenüber und musste sich anhören, wie scheiße man ist.« Ein damaliger Kollege von Jacob Weis bestätigt das.        

Auch eine junge Köchin, wir nennen sie hier Kayla Miller, berichtet von ihren Erlebnissen unter Tohru Nakamura. Sie arbeitete einige Jahre später im Werneckhof, der pandemiebedingt im Juni 2020 schließen musste. Einmal sei sie von Nakamuras Stellvertreter, dem Sous-Chef, in den Weinkeller zitiert worden. Dort habe er sie gemeinsam mit Nakamura bereits erwartet. Dunkel und kühl sei es gewesen. »Ich hatte das Gefühl, das ist nicht richtig: ich als Frau mit zwei Männern im Keller. Allein.« Dann habe ihr der Sous-Chef die Fehler, die an diesem Tag in der Küche passiert waren, vorgehalten. Zum Beispiel, dass Kayla Miller einen Moment zu lange gebraucht hatte, um die eingelegten Karotten zu finden. Schon vor dem ersten Vorwurf habe sie angefangen zu weinen, sagt Miller, heute 27 Jahre alt. »Ich konnte meinen Körper nicht mehr kontrollieren, weil ich so sehr heulen musste.« Nakamura und sein Sous-Chef hätten daraufhin auf sie eingeredet: Sie verstünden ja, dass Miller 120 Prozent gebe, doch das reiche nicht, es müssten 200 sein.        

Konfrontiert mit diesen Schilderungen, spricht Tohru Nakamura von »Fehlern«, die er gemacht habe. Es sei »nicht richtig« gewesen, wie er seine Mitarbeiter kritisiert habe. Der Weinkeller sei im Restaurant der einzig mögliche Ort für solche Gespräche gewesen. »Er sollte auf keinen Fall als Einschüchterungsinstrument dienen.«

Anderthalb Jahre lang haben wir über Machtmissbrauch in deutschen Spitzenküchen recherchiert, mehr als 30 Betroffene haben uns ihre Erfahrungen geschildert. Wie sie von ihren tobenden Chefs mit Gegenständen beworfen und mit Worten erniedrigt worden seien. Sie erzählten von einem Arzt, der in Küchen aufkreuzte und verletzte Angestellte fitspritzte. Vom Arbeiten ohne Bezahlung und davon, wie sie nach Fehlern zu Strafarbeiten gezwungen worden seien. Eine Kultur der Selbstausbeutung bis zum Zusammenbruch, ein Klima der Einschüchterung bis zu körperlichen Übergriffen – solche Vorwürfe haben unsere Gesprächspartner gegen viele namhafte Köche erhoben.                                        

Es gab in den vergangenen Jahren immer mal wieder Medienberichte über den ruppigen Alltag in den Küchen der Sternerestaurants, es gab auch Köche, die öffentlich von einem Kulturwandel sprachen. Man könnte denken, die schlimmen Zeiten in der deutschen Spitzengastronomie seien lange vorbei. Unsere Recherchen legen nahe: Sie sind es nicht. In diesem Text geht es deshalb nicht nur darum, was hinter den glamourösen Kulissen vieler Nobelrestaurants geschieht. Es geht auch um die Frage: Warum werden manche Missstände weiter geduldet?                                           

Vielleicht schon ein Symptom für den Zustand dieser Branche: Viele Betroffene wollen hier nicht mit ihrem echten Namen auftreten. Sie fürchten, sie könnten sonst ihren Job verlieren oder sich ihre Karriere verbauen. Einige, die längst draußen sind und auch nicht wieder reinwollen, haben nach eigenen Angaben bis heute Angst vor der Rache ihres früheren Chefs. Damit sie nicht so leicht zu erkennen sind, werden manche Details in diesem Artikel bewusst nicht genannt. Um die Aussagen zu prüfen, haben wir ärztliche Unterlagen, Arbeits- zeugnisse, Verträge und Lohnabrechnungen eingesehen und mit Angehörigen, Freundinnen und Freunden gesprochen.                                      

Jacob Weis hat kein Problem damit, mit seinem echten Namen an die Öffentlichkeit zu gehen. Er ist heute 30 Jahre alt, gerade plant er in einer schwäbischen Kleinstadt die Eröffnung eines eigenen Restaurants samt Biergarten und Weinbar. Er sagt, als Chef wolle er einmal alles anders machen als der, unter dem er damals gelitten habe.             

Tohru Nakamura: Sohn einer Deutschen und eines Japaners, 2014 der erste Michelin-Stern, 2016 der zweite. Mehrmals als »Koch des Jahres« ausgezeichnet, Markenbotschafter für eine japanische Autofirma, Zehntausende Follower auf diversen Social-Media-Kanälen, Co-Autor einer Rezept-Kolumne im SZ-Magazin. Als Jacob Weis 2014 einen Vertrag bei Nakamura unterzeichnet, 1500 Euro brutto, Vollzeit, könnte die Distanz zwischen den beiden kaum größer sein: Hier der Mann, der es geschafft hat. Dort der Jungkoch, der gerade in einem bayerischen Nobelhotel seine Ausbildung abgeschlossen hat. Begeistert, ehrfürchtig fast sei ihr Sohn gewesen, unter Nakamura kochen zu dürfen, erzählt uns seine Mutter.

Lange hielt der Enthusiasmus nicht an.                                                      

In der Küche, in der er zuvor gearbeitet hatte, seien auch mal Teller und Pfannen geflogen, sagt Jacob Weis. Doch was er unter Nakamura erlebt habe, sei auf einem anderen Level gewesen. Das Arbeitsklima im Werneckhof bezeichnet Jacob Weis als »leisen Terror«. Immer wieder habe Nakamura ihm vermittelt, er könne nicht kochen. Einmal habe er ihm ins Ohr geflüstert, er sei wertlos – und ihm danach die Schultern massiert, mit den Worten, er solle sich doch mal locker machen. »Der hat mich so fertiggemacht, dass ich dauerhaft mit Tränen in den Augen in der Küche stand.«                                  

Nakamura sagt, er habe niemanden als wertlos bezeichnet. »Es war Kritik an der beruflichen Leistung, nie am Menschen selbst, aber mit einem inakzeptablen Umgangston.«                       

Einmal, sagt Jacob Weis, habe ihn sein Chef mit dem Touchon, dem Küchentuch, schmerzhaft ins Gesicht geschnalzt, für einen Fehler beim Anrichten.                  

Nakamura sagt dazu, Kochen sei eine Art Hochleistungssport. »Das ist wie bei einem Trainer, der am Spielfeldrand steht und mit den Händen fuchtelt. Ich habe versucht, unser Team mit vollem Einsatz zu motivieren, das war teilweise zu extrem. Ich hatte dabei nie die Intention, jemanden zu treffen.«                       

Jacob Weis’ Arbeitsalltag: Beginn morgens zwischen sieben und acht, Vorbereitung fürs Mittagsgeschäft, dann kommen die Gäste, Vorbereitung fürs Abendgeschäft zu krachenden Technobeats, wieder Gäste, Putzen, Schelte vom Chef, spätabends mit dem Taxi nach Hause, weil keine U-Bahn mehr fährt. »Ich wollte das unbedingt schaffen, habe mich dort jeden Tag hingezwungen«, sagt Jacob Weis. Er schaffte es nicht. Seine Mutter schildert uns, er habe sie eines Morgens von zu Hause unter Tränen angerufen und ihr gesagt, er könne nicht mehr. Noch am selben Tag habe er auf ihren Rat hin gekündigt. Mehrere Wochen lang habe er danach das Bett nicht verlassen können, sagt die Mutter. »Ich hatte Angst, dass er sich was antun würde.«       

Und das alles nach fünf Wochen als Jungkoch in einem deutschen Sternerestaurant.

»Ich war in dem Jahr der Jungkoch, der am längsten dort war, alle anderen hatten noch früher gekündigt«, sagt Jacob Weis. Auch Kayla Miller und ein weiterer ehemaliger Kollege erzählen, sie hätten zu ihrer Zeit extrem viele Köche kommen und gehen sehen. Nakamura bestätigt die starke Fluktuation unter den Mitarbeitern, das habe zum Teil auch an mangelnder Leistungsbereitschaft Einzelner gelegen.

In jedem Sternerestaurant prallen Welten aufeinander. Kochen auf diesem Niveau ist eine Kunst von großartiger Finesse, eine Kunst, die berühren und überwältigen kann. »Du legst jeden Abend dein Herz auf den Teller«, sagt uns ein Sternekoch. Eine Küche ist aber oft auch ein System mit strenger Rangordnung, fast schon wie beim Militär.

An der Spitze der sogenannten Küchenbrigade steht der oberste Befehlshaber, der Küchenchef. Er ist tatsächlich meistens ein Befehlshaber und keine Befehlshaberin, aktuell gibt es in Deutschland 296 Sterneköche und 14 Sterneköchinnen. Unter ihm steht der Sous-Chef, sein Stellvertreter, zuständig für die tausend Dinge, die im Küchenalltag abgestimmt werden müssen. Darunter der Chef Tournant, eine Art Springer. Dann der Chef de Partie, der Postenchef, spezialisiert etwa auf Soßen oder Beilagen. Fast ganz unten der Commis de Cuisine, der Jungkoch. Ganz unten: die Auszubildenden.                       

Wie in vielen hierarchischen Systemen wird auch in diesem der Druck meist von der Spitze in die Tiefe gelenkt. Der Chef kommandiert, der Azubi spurt.                                     

Die Gäste bekommen davon nicht viel mit. In Gourmetrestaurants wird zwar inzwischen manchmal hinter Glas oder sogar in Küchen gekocht, die ganz in den Gastraum integriert sind. Die Botschaft ist die gleiche wie bei der Büroarchitektur von Start-ups: Transparenz, Nähe, wir haben nichts zu verbergen. Über die tatsächlichen Arbeitsbedingungen sagt das jedoch nur wenig aus. Denn die Arbeit beginnt, schon viele Stunden bevor die ersten Gäste das Restaurant betreten. Dann werden Schalotten geschnibbelt, Fische filetiert, Soßen angesetzt. Dann zieht die Küchenbrigade in den Kampf. Dann muss sie zeigen, zu welchen Höchstleistungen sie in der Lage ist. Alle, vom Küchenchef bis zum Azubi, wissen: Theoretisch kann an jedem Abend an einem der Tische ein anonymer Restaurantkritiker sitzen. Vielleicht arbeitet er für den Gault&Millau, vielleicht für den Feinschmecker. Vielleicht sogar für den Guide Michelin.                                                        

Die Sterne, die der französische Hotel- und Reiseführer einmal jährlich vergibt, sind die welt- weit wichtigste Auszeichnung für Restaurants. Sie entscheiden darüber, ob man auf Monate ausgebucht ist, ob Gäste aus anderen Ländern anreisen. Sie entscheiden auch darüber, ob hoch motivierte Azubis Schlange stehen. Junge Leute, die im Griff nach den Sternen ihr wichtigstes Ziel sehen. Leute wie Felix Geiger.                                 

Berlin, Neujahr 2017. Geiger schleppt sich in die Notaufnahme der Charité. Lebensgefahr. Not-OP. Über Wochen habe er vorher die Signale seines Körpers als Stresssymptome abgetan, erinnert sich Geiger, der in Wahrheit anders heißt. Den Schlafmangel. Die Tage, an denen er erkältet und fiebrig in der Küche stand. Die unbezahlte Arbeit nach Dienstschluss. Die Angst vor seinem Chef Christian Lohse.                                                                   

In der Charité stellt sich heraus, dass Geiger an einem lebensgefährlichen Infekt erkrankt ist. Er ist damals 22 und kurz davor, seine Kochausbildung im Zwei-Sterne-Restaurant Fischers Fritz abzuschließen. Wem so etwas gelingt, der kann seinen Lebenslauf mit Stationen in Nobelküchen rund um die Welt spicken. Der kann vielleicht sogar selbst irgendwann einen Stern erkochen. Davon habe er geträumt, sagt Geiger heute. Damals ist er zur strengen Bettruhe verpflichtet und hat Zeit zum Nachdenken. Erst dann, erinnert sich Geiger, sei ihm schleichend ein Gedanke gekommen: »Alter, was hast du dir da antun lassen.«

Eigentlich hatte alles gut angefangen. Gleich nach dem Abitur hatte sich Felix Geiger beim Spitzenkoch Christian Lohse um einen der begehrten Ausbildungsplätze beworben. Schon als Kind sei er mit seinem Vater in Sterneläden wie dem Fischers Fritz essen gewesen, sagt Geiger. Unter Azubis genoss Lohses Restaurant einen guten Ruf, auch weil dort angeblich die vertraglich geregelten Arbeitszeiten weitgehend eingehalten wurden. Im Spätsommer 2014 durfte Geiger dort anfangen. Er habe schnell gelernt und sei einer der wenigen Azubis gewesen, die schon bald mal ein Stück Fleisch in den Händen halten durften, erzählt er. Geiger sagt, er habe tatsächlich selten länger als neun Stunden gearbeitet. Doch sobald ihm der kleinste Fehler unterlaufen sei, habe er die harten Regeln in Lohses Küche zu spüren bekommen. Dann sei er beispielsweise von einem Vorgesetzten in den Keller geschickt worden. Nicht für eine Standpauke wie Jacob Weis und Kayla Miller in München. Sondern um Strafarbeiten zu verrichten: Wände und Böden schrubben, den Froster aus- und wieder einräumen. Stundenlang, ohne Pausen und ohne erkennbaren Grund. Eine damalige Azubi-Kollegin von Geiger bestätigt das.                                                     

Christian Lohse lässt über seinen Anwalt mitteilen, Reinigungsarbeiten seien zwar Teil der Ausbildung, »als Strafarbeit wurden solche oder vergleichbare Tätigkeiten jedoch zu keinem Zeitpunkt angeordnet«.                                                        

Azubis, die bei bekannten deutschen Köchen tätig waren, erzählen uns so viele Geschichten und Gerüchte, dass wir längst nicht allen nachgehen können. Sie schildern, dass sie wochenlang Thymian zupfen, Zuckerperlen sortieren oder Wurzelgemüse schneiden mussten. Dass sie zur Strafe einen Aschen- becher aus der Müllpresse klauben mussten, während die Presse in Betrieb war. Dass man ihnen befahl, dem Sous-Chef ein Blech zu reichen, obwohl es heiß aus dem Ofen kam und sie keine Handschuhe trugen. Dass sie von ihrem Vorgesetzten absichtlich mit heißen Garnelen verbrannt wurden. Einige erzählen, dass sie sich anhören mussten, sie seien »ein Eimer voller Scheiße«. Dass man ihnen sagte, sie sollten sich umbringen, um dem Betrieb und ihren Eltern einen Gefallen zu tun.

Als Felix Geiger im Fischers Fritz anfängt, ist er 19 Jahre alt. Während seine Freunde ihr Studentenleben genossen hätten, habe er schon bald niemanden mehr außerhalb der Küche getroffen, sagt er. Sie sei zu seinem Lebensmittelpunkt geworden. Auch an den meisten Wochenenden habe er gearbeitet, habe neun Kilo Steinbutt filetiert oder Kalbshälften auseinandergenommen.                   

Spricht man nicht nur mit Felix Geiger, sondern noch mit vier weiteren ehemaligen Mitarbeitern von Lohse, sagen diese, dass sie von ihm selbst oder, noch häufiger, von dessen Sous-Chefs beschimpft worden seien: Loser! Arschloch! Wichser! Vollidiot! Spasti!

Lohse lässt mitteilen, die Verwendung von Beschimpfungen sei in seiner Küche verboten gewesen. Es habe »ein zwar klarer, aber freundlicher Umgangston« geherrscht. Er habe »für ein faires Miteinander« geworben.                    

Einige ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erzählen, sie hätten manchmal nach Feierabend oder an freien Tagen Handlangerdienste für ihren Chef verrichten müssen: zum Beispiel Ketchup zubereiten, das Lohse über einen Onlineshop verkaufte. Den Chef zu Kochevents in andere Städte begleiten. Oder für Lohse und seine Freunde auf privaten Feiern kochen. Bezahlt worden seien sie für diese Dienste nur sporadisch. »Ich habe mich nicht getraut, ihn darauf anzusprechen«, berichtet eine ehemalige Mitarbeiterin. Andere betrachteten es als Kompliment, für solche Arbeiten ausgewählt zu werden, als Förderung durch ihren Chef.                                                   

Lohses Anwalt teilt mit, zwar habe dieser tatsächlich außerhalb der Arbeitszeit auf seine Mitarbeiter zurückgegriffen. Es habe sich aber um freiwillige Dienste gehandelt, die »angemessen vergütet« worden seien: »Es gibt keine offenen Rechnungen.«                       

Felix Geiger sagt: »Du bist permanent im Gefahrenmodus.« Irgendwann habe er begonnen, auf der Arbeit Kokain zu schnupfen. Gegen Angst, Krankheit, körperliche Schmerzen – und gegen Erschöpfung und Müdigkeit. Immer öfter sei er am späten Abend mit Kolleginnen und Kollegen vom Fischers Fritz statt nach Hause in die Kneipe gegangen. Zwei, drei Bier, ein paar Joints, anders habe er nicht runterkommen und schon gar nicht einschlafen können.

Es ist nicht so, dass der Sternekoch Christian Lohse niemals öffentlich über seinen zweifelhaften Umgang mit den Menschen, die unter ihm arbei- ten, gesprochen hätte. 2012 sagte er der Welt am Sonntag: »Mittlerweile bin ich der Meinung, dass jemand, der wie ein Feldherr durchs Leben geht, Komplexe hat.« Lohses Botschaft: Ich habe mich geändert. 2015 sprach er im ZEITmagazin über sich selbst in den 1990ern: »Ich war damals ein ziemlich schlimmer Finger. Nicht nur mit verbalen Verletzungen, sondern auch mit körperlichen Attacken.« Die Kernaussage: Das ist jetzt vorbei.

Ein Jahr nach dem Interview nahm Felix Geiger einen Nebenjob an, um ein paar Euro dazuzuverdienen. An den Moment, als sein Chef Christian Lohse davon erfahren habe, erinnert er sich so: Er habe in der Küche des Fischers Fritz gestanden, und Lohse habe ihn durch das Telefon so laut beschimpft, dass er den Hörer einen Meter von seinem Ohr wegstrecken musste und es alle mitbekamen. Gestört sei er, habe Lohse gebrüllt. Später am selben oder am nächsten Tag, genau wisse er das nicht mehr, habe Lohse ihn gefragt, jetzt persönlich in der Küche, ob er den Unterschied zwischen einer Prostituierten, einer Nutte und einer Hure kenne: Die Prostituierte ficke für Geld, die Nutte blase für Geld, und die Hure mache das alles gern umsonst. Er, sein Azubi Felix Geiger, sei eine Hure.  

Eine Augenzeugin bestätigt den Vorfall, nahezu wortwörtlich. Christian Lohse streitet ihn ab. Zwar seien Nebentätigkeiten tatsächlich »grundsätzlich nicht erlaubt« gewesen. Lohse habe seinen Mitarbeiter aber »in keiner Weise beschimpft«.

An einem anderen Tag, erzählt Geiger, habe Christian Lohse ihn in der Küche bedroht. Er werde Bekanntschaft machen mit jemandem aus seinem Freundeskreis – einem ziemlich zwielichtigen Menschen: Der fahre gern mit Geiger zum Schlachtensee und werde dessen Kopf dort unter Wasser tauchen, so lange, bis Geiger keine Luft mehr bekomme. Immer und immer wieder.                                                

Diese Drohung bestätigen zwei Zeugen, die in der Nähe standen und mithörten.

Christian Lohse teilt über seinen Anwalt mit, er habe »zu keinem Zeitpunkt einem Azubi mit der Zufügung von Gewalt oder Schmerzen oder Ähnlichem durch ihn oder angebliche Bekannte gedroht«.                                           

Hätte Felix Geiger vorher wissen können, worauf er sich einlässt? Wer als Lehrling in einem Sternerestaurant anfängt, kennt den Heldenmythos: vom gedemütigten Sellerieputzer zum gefeierten Spitzenkoch. Und er kennt die Reaktionen der Freunde und Verwandten. Kochausbildung? Das wird hart! In anderen gesellschaftlichen Bereichen ist der Kommandoton längst verpönt, und in Branchen wie der Filmindustrie wird nach den MeToo-Skandalen genauer hingeschaut. Doch in der Gastronomie lässt sich die Erzählung von Kampf und Drama, die zum Aufstieg eines Spitzenkochs zwingend dazugehören, nicht so leicht aus den Köpfen tilgen. Die rauen Umgangsformen, sie scheinen zur Gourmetküche dazuzugehören wie das frühe Aufstehen zum Backen.

Schon im Mittelalter machten Köche Karriere. Guillaume Tirel schaffte es im 14. Jahrhundert vom Küchenjungen zum Chefkoch des französischen Königs und Herausgeber eines berühmten Rezeptbuchs. Die Haute Cuisine, deren Grundlagen Tirel schuf, blieb lange eine Sache des Adels – bis die Französische Revolution von 1789 die Hofköche arbeitslos machte. Eine neue Aufgabe fanden sie in Restaurants für das aufstrebende Bürgertum, das dort mithilfe einer Karte unter verschiedenen Speisen wählen konnte. Von Frankreich aus breitete sich diese bürgerliche Esskultur in andere Länder aus.

Spätestens als 1926 der Guide Michelin seine ersten Sterne vergab, verwandelten sich die Restaurantköche in Berühmtheiten, deren Leistungen man studierte, verglich, debattierte – wie bei Sportlern und Schauspielerinnen. Aus ihren Küchen kamen sie damals kaum heraus. Doch auch das änderte sich. Paul Bocuse erfand nach dem Zweiten Weltkrieg die Selbstvermarktung des modernen Kochs: Er eröffnete weltweit Restaurants, vertrieb Delikatessen, Dosensuppen und Küchengeräte mit seinem Namen darauf und wurde zum Multimillionär. Wer als Chef einer Küchenbrigade zu Ansehen und Reichtum gelangen will, für den reicht es seitdem nicht, einfach nur exzellent zu kochen. Er muss seine Kunst auch massenwirksam inszenieren.                                               

Die Bocuses von heute verkaufen keine Dosensuppen. Sie verkaufen sich selbst in TV-Kochshows.                                                  

Samstagabend, Primetime. Wer deutsche Spitzenköche beim Ausrasten erleben will, kann zum Beispiel Kitchen Impossible beim Privatsender Vox schauen. 180 Minuten exerzierter Heroismus, perfekte Dramaturgie, Gewinner des Deutschen Fernsehpreises. Kochshows wie diese, in der Stargastronomen gegeneinander zum Kochduell antreten, sind im Fernsehen ein Megatrend. Vielleicht auch, weil ihre Protagonisten etwas geschafft haben, wovon die meisten Zuschauer nur träumen können: Viele Sterneköche stammen aus einfachen Verhältnissen, werden aber von Prominenten und Superreichen als Genies verehrt – wie Starpianisten, Malerinnen und Erfolgsregisseure.

In den Kochshows wird die alte Erzählung von der kulinarischen Perfektion, die nur mit Brüllen und Befehlen zu erreichen ist, ironisch gebrochen fortgeschrieben – und dadurch in eine schwer angreifbare Harmlosigkeit überführt.

Da ist Tohru Nakamura, der frühere Chef von Jacob Weis, der 2018 in einer Folge von Kitchen Impossible verkündet, die Zuschauer könnten sich vielleicht nicht vorstellen, »wie ich mal bin, wenn ich mal ausraste oder so«.

                                                                      

Da ist Christian Lohse, der frühere Chef von Felix Geiger, 2018 bei Kitchen Impossible: »Wenn mir einer sagt, das Essen schmeckt scheiße, dann könnt’ ich ihm eine knallen. Weil Scheiße hab ich noch nie gemacht.«                                      

Oder Tim Raue, Zwei-Sterne-Koch aus Berlin, der 2017 in einer Folge von Chef’s Table einen Mitarbeiter anfährt: »Beweg deinen verfickten Arsch und bring mir schnell die Palette!«

Manche unserer Gesprächspartner erzählen, sie seien anfangs geblendet gewesen von der TV- Prominenz ihrer neuen Chefs. Einer sagt, er habe zu Hause stolz verkündet: »Oma, ich koche für den Typ im Fernsehen!« Ein anderer sagt, die Realität sei viel schlimmer gewesen als all das Macho-Getue vor der Kamera.                                                         

In einem Café in München treffen wir Aron Uhl, der seinen echten Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Er will über die Arbeitsbedingungen bei einem der bekanntesten Gastronomen der Stadt sprechen: Alfons Schuhbeck. Allein in der Münchner Altstadt besitzt der 72-Jährige zwei Restaurants, eine Eisdiele, einen Gewürzladen und ein Tee- und Schokoladengeschäft. Schuhbeck hat Angela Merkel und die Queen bekocht. Er war Werbegesicht von Aldi und McDonald’s, er tritt in TV-Shows auf und verköstigt die Fußballprofis des FC Bayern München. 2020 verlor er nach knapp 40 Jahren seinen einzigen Stern. Im Juli 2021 musste er für seine Restaurants Insolvenz anmelden, außerdem wird gegen ihn wegen Steuerhinterziehung ermittelt. Schuhbecks Imperium brö- ckelt, aber noch steht es. In Interviews sagt Schuhbeck, er wolle weitermachen. Seine Res- taurants haben trotz der Pleite geöffnet. Auch die Südtiroler Stuben.

Aron Uhl, Mitte zwanzig, Gastronomen-Sohn, kochte dort mit Unterbrechung von 2016 bis 2019. Der Patriarch Schuhbeck habe damals nur noch selten in der Küche gestanden, erzählt Uhl. Der Druck sei vor allem von einem seiner Sous-Chefs ausgegangen. Der habe ihn manchmal minutenlang angebrüllt.                                                        

Außerdem sei in Schuhbecks Restaurant regelmäßig ein Arzt gerufen worden, der direkt vor Ort Schnittwunden, Verbrennungen und andere Verletzungen versorgt habe, damit niemand zeitraubend ins Krankenhaus musste oder krankgeschrieben wurde. Zwei weitere ehemalige Mitarbeiter von Alfons Schuhbeck bestätigen das. Einer will unerkannt bleiben. Der andere heißt Tobias Fritsch und kocht heute in einem Restaurant in London. Zuvor arbeitete er bei Schuhbeck. Er erinnert sich: »Wenn du Schuhbeck gesagt hast, ich hab Schmerzen, ich hab mich überhoben, weil ich Kisten mit 20 Kilo Fleisch tragen musste, hat er den Arzt gerufen. Spritze ins Kreuz. Schmerzmittel.« Dann habe Schuhbeck gesagt: Jetzt kannst du weiterarbeiten, Junge!                                               

Tobias Fritsch und Aron Uhl sind nicht die Ersten, die sich beschweren. »Die Gerüchte in der Gastronomie halten sich hartnäckig, dass im Hause Schuhbeck wohl mitunter die schlimms- ten Bedingungen vorherrschen«, heißt es von der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG). Allerdings könne man die Vorwürfe nicht beweisen.

Die NGG ist Deutschlands älteste Gewerkschaft – und bleibt doch oft machtlos. Sie hat zu wenige Mitglieder. Von all unseren Gesprächspartnern war kein einziger in die NGG eingetreten. Manche wussten gar nicht, dass es sie gibt.                         

Ähnlich machtlos erscheinen die Industrie- und Handelskammern, die für die Kontrolle der Ausbildung in einem Betrieb zuständig sind. Und die Gewerbeaufsichtsämter, die den Arbeitsschutz überwachen sollen. Weil es keine flächendeckenden unangemeldeten Besuche gibt, müssen die Kontrolleure warten, bis sich jemand aktiv und unter seinem echten Namen beschwert – und damit seine Anstellung riskiert. Das passiert nur selten.

Man identifiziert sich mit dem, worunter man leidet. Da ist die junge Köchin, die sich nicht traute, während der Servicezeiten am Abend auf die Toilette zu gehen – das mache man einfach nicht, sagt sie, es sei wie ein ungeschriebenes Gesetz. Während ihrer Regelblutung habe sie zur Sicherheit außer einer Menstruationstasse auch noch eine Binde getragen.

Da ist die Sous-Chefin, die an einer chronischen Blasenentzündung leidet, weil sie ihren Harndrang regelmäßig über Stunden unterdrückte. Sie berichtet von Schuldgefühlen beim Gedanken daran, sich krankzumelden. Dann lasse man ja die Kollegen im Stich.     

Da ist der junge Koch, der unter dem Dauerstress in der Küche an einer Magenschleimhautentzündung erkrankte und sich während der Arbeit regelmäßig übergeben musste. Erst nach vielen Packungen Schmerzmitteln habe er seinem Chef gestanden, dass er zum Arzt müsse, daraufhin sei er vor den anderen bloßgestellt worden: Er mache »einen auf Mimimi«.

Und da ist der ehemalige Azubi, der sagt, er sei inzwischen zu der Einsicht gelangt, die Arbeit in der Spitzengastronomie könne abhängig machen wie bei einem Soldaten, der von Kampfeinsatz zu Kampfeinsatz zieht. »Jemanden Chef nennen zu können. Eine Struktur zu haben. Da werden ganz komische masochistische Bedürfnisse in einem befriedigt.«

In Rottach-Egern, am Ufer des kristallblauen Tegernsees, ist eines der nobelsten Sternerestaurants des Landes angesiedelt. Im Überfahrt, drei Michelin-Sterne, werden die Gäste vom überlebensgroßen Porträtfoto eines Mannes begrüßt, der die Arme tatkräftig verschränkt und freundlich lächelt, die Zähne so weiß wie die Kochjacke. Daneben steht der Name des Mannes: Christian Jürgens.                                                    

»Der König vom Tegernsee« – so nennt ihn Alex Hirzel, ein junger Koch, auch er einer von denen, die hier nicht mit echtem Namen genannt werden wollen. Hirzel hat bis 2017 unter Jürgens gearbeitet und sagt heute, der Starkoch habe die Angestellten manchmal wie Sklaven behandelt. Hirzel, vor und nach seiner Zeit bei Christian Jürgens in anderen Sterneküchen tätig, sagt: »Ich koche für mein Leben gern, ich brenne dafür.« Aber was er unter Jürgens erlebt habe, sei »unterste Schiene« gewesen.

An einem Samstagmittag im Jahr 2017 habe es in der Küche Leerlauf gegeben. Das Team habe sich kurz hinlegen wollen, um Kraft für den Abend zu sammeln. Die Bitte um eine Pause sei abgelehnt worden, stattdessen hätten sie, schon um die 70 Wochenstunden auf dem Rücken und völlig übermüdet, an neuen Gerichten herumwerkeln müssen. Bis zu 80 Stunden in der Woche seien im Überfahrt normal gewesen. Das bestätigen Alex Hirzels Mutter und ein ehemaliger Kollege, wir nennen ihn hier Lenn Hartmann.                  

Hartmann sagt, er sei an manchen Samstagen nach drei Stunden Schlaf und einer Dusche um fünf Uhr morgens zurück ins Restaurant gefahren, um die Arbeit zu schaffen. Dann wieder bis gegen Mitternacht in der Küche. Man habe keinen Anschiss riskieren wollen: Du bist zu langsam!                                                          

Die Kölner Althoff-Gruppe, die das Überfahrt betreibt, gibt zu, dass in Pausen an neuen Rezepten gearbeitet wurde. Glaubt man der Stellungnahme, hatte das nichts mit Schikane zu tun, sondern mit der Notwendigkeit, ständig neue Gerichte zu präsentieren. Das sei »dem Wesen der Spitzengastronomie immanent« und werde »von den Gästen unseres Hauses erwartet«. Die Personalplanung und der Betrieb des Restaurants hätten sich im fraglichen Zeitraum »der Maxime des Arbeits- und Gesundheitsschutzes unterworfen«. Niemals habe Christian Jürgens oder ein anderer Vorgesetzter zum Ausdruck gebracht, man erwarte Leistungen, für die jemand um fünf Uhr morgens zur Arbeit kommen müsse.

Lenn Hartmann und Alex Hirzel berichten, Jürgens habe Mitarbeiter manchmal so heftig vor dem Team angebrüllt, dass sie die Fassung verloren. Hartmann: »Ein gestandener Mann steht da und weint. Schon heftig.« Habe der Poissonnier, zuständig für den Fisch, zu kleine oder zu große Portionen aufgetan, dann habe er von Jürgens dessen Autoschlüssel zugeworfen bekommen, sagt Hartmann. Der Poissonnier wisse ja, was jetzt zu tun sei, habe Jürgens gesagt: Auto putzen, tanken fahren. Auch zwei weitere Köche aus der Küche des Überfahrt sagen uns, sie hätten miterlebt, wie Jürgens das Kommando zum Putzen seines Autos gab. Der eine sieht darin wie Lenn Hartmann eine Strafaktion, der andere mag nichts Schlimmes daran erkennen. Im Gegenteil, es sei doch toll, wenn einen der Chef beauftrage, sich um sein Auto zu kümmern. »Ein Vertrauensbeweis!«              

Die Althoff-Gruppe teilt mit, das Herumschreien und Weinen sei »bedauerlicherweise vereinzelt vorgekommen«. Und: »In Absprache mit Herrn Jürgens dürfen wir Ihnen mitteilen, dass (...) Mitarbeitende bei der Pflege des Fahrzeugs behilflich waren.« Jedoch niemals als Strafe – sondern »immer im Einvernehmen, verbunden mit einer durch Herrn Jürgens gesondert ausgesprochenen Anerkennung oder kleinen Belohnung«. Dass ein anderer Eindruck entstand, bedauere man ausdrücklich.                        

Das Restaurant, in dem Christian Jürgens seine Gerichte serviert, ist an ein Hotel angeschlossen. So wie viele andere Spitzenküchen auch. Anders könnte es sie gar nicht geben: Wenige deutsche Sternerestaurants schreiben, nur für sich genommen, schwarze Zahlen. Die meisten sind laut Auskunft von Insidern angewiesen auf Querfinanzierung durch Hotels und Sponsoren, die sich den Ruf der Küche zunutze machen, um für ihre eigenen Marken zu werben.                                               

Die viel zu kleinen Küchenteams, das riesige Arbeitspensum, der brutale Leistungsdruck – wir haben darüber auch mit einigen Spitzenköchen gesprochen, bei denen die Betroffenen, die hier zu Wort kommen, nicht gearbeitet haben. Manche gestanden die Missstände in ihrer Branche ein. Viele berichteten nachvollziehbar, früher sei alles noch viel schlimmer gewesen, und erklärten das Fehlverhalten von heute mit dem, was ältere Kollegen in ihrer eigenen Ausbildung erlebt hätten.                                              

Alle aber redeten sie über eines. Über Geld.

Anders als eine Fast-Food-Kette oder der Imbiss um die Ecke kann es sich ein Sternerestaurant kaum leisten, an der Qualität der Zutaten zu sparen. Fast 500 Euro für ein Abendessen zu zweit bei Tohru Nakamura, das klingt nach einer ungeheuren Summe, aber nur, solange man sich keine Gedanken über die Einkaufspreise der verwendeten Produkte macht. Die für ihre verantwortungsvolle Fischerei bekannte spanische Marke Balfegó etwa bietet ihren Thunfisch auf ihrer Website für rund 48 Euro das Kilo an, Kaviar vom Beluga-Stör kostet regulär bis zu 450 Euro pro 100 Gramm. Hochwertig soll alles sein, natürlich, nachhaltig, frisch. Größere Küchenteams und faire Arbeitszeiten seien da finanziell oft nicht drin, sagen uns die Köche.                                  

In jüngster Zeit ist oft vom Einschnitt die Rede, den die Corona-Krise für den Arbeitsmarkt bedeutet, gerade in der Gastronomie. Vom Fachkräftemangel und davon, dass sich Menschen in Serviceberufen während des Lockdowns gefragt haben: Muss ich mir das wirklich antun? Noch ist es zu früh, um zu sagen, welche Auswirkungen die Krise auf die Sternegastronomie haben wird. Klar ist: Die meisten Spitzenrestaurants können nicht einfach ein paar Tische auf den Bürgersteig stellen; Sterneküche findet drinnen statt. Eigentlich wäre jetzt der Augenblick, in dem sich die Branche neu erfinden müsste, aber die über viele Jahrzehnte gewachsenen Strukturen werden nicht von heute auf morgen verschwinden.                                                   

Es gibt einige – vor allem junge – Köchinnen und Köche, die es anders machen wollen. Die, etwa im Berliner Sternelokal Nobelhart & Schmutzig, Mitspracherechte für die Mitarbeiter mit hochwertigem regionalen Essen für die Gäste zu vereinen versuchen. Oder die, wie die kürzlich besternte Dalad Kambhu, auf ein rein weibliches Team setzen und kürzere Arbeitszeiten einführen. Es gibt Initiativen wie #UnfuckGastronomy in Deutschland und die MAD Academy in Kopenhagen, gegründet von einem Spitzenkoch, der Kolleginnen und Kollegen aus aller Welt beibringen will, wie es besser geht.                                                

Und dann gibt es Köchinnen und Köche, es sind gar nicht so wenige, die freiwillig aus dem Kampf um die Sterne aussteigen. René Conrad zum Beispiel, der die Spitzengastronomie mittlerweile als »körperlichen wie geistigen Suizid« beschreibt und heute in Marbella einen Familienbetrieb führt.                                                          

Wird das reichen?

Die Althoff-Gruppe, Betreiberin des Restaurants Überfahrt, in dem Christian Jürgens seine drei Sterne erkocht hat, verschickt einen Tag nach unserer Anfrage eine Pressemitteilung. Kürzere Servicezeiten pro Woche, sieben Wochen Betriebsferien pro Jahr und für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein Seminar mit dem Titel »Die Sternegastronomie – ein toller Karriereweg«: Das soll künftig dabei helfen, »sukzessive die Arbeitsbedingungen auch in der absoluten Top-Gastronomie zu optimieren«.

 

Alfons Schuhbeck hat auf die Anfragen der ZEIT nicht reagiert.

Christian Lohse lässt die Vorwürfe, die gegen ihn erhoben wurden, über seinen Anwalt vehement zurückweisen. Es handele sich um »Unwahrheiten und Verleumdungen in einer einprägsamen und unterhaltsamen Art, damit der Empfänger der Schilderungen davon ausgeht, so etwas müsse wirklich vorgefallen sein.« Verbreitet worden seien die Vorwürfe durch »offenbar enttäuschte ehemalige Mitarbeiter« mit »lebhafter Phantasie«. Das Fischers Fritz gibt es heute nicht mehr. Es wurde umbenannt und neu ausgerichtet – ohne Christian Lohse. Das Hotel Regent Berlin, zu dem das Fischers Fritz gehörte, schreibt auf unsere Anfrage, Lohse habe sich damals aus persönlichen Gründen zurückgezogen. Lohse selbst lässt über seinen Anwalt mitteilen, er habe sich beruflich verändern wollen.       

Tohru Nakamura hat Filterkaffee gekocht. Am Samstagmittag vorletzter Woche sitzt er im T-Shirt in seinem leeren Restaurant, dem Penthouse mit dem spektakulären Blick über München. Sein Pressesprecher, ein Freund von ihm, hat uns eingeladen: Nakamura wolle in den Dialog treten und Fehler eingestehen. Das tut er dann auch.                                              

Zweieinhalb Stunden lang spricht Tohru Nakamura an diesem Tag über einen Menschen, der von seinen Selbstzweifeln und seinem unbedingten Willen zum Erfolg aus der Balance gebracht wurde: Er spricht über sich selbst als Chefkoch seines früheren Restaurants. »Ich hatte vereinzelt ein Stück weit Menschlichkeit und Empathie verloren.« Er habe Fehler seiner Mitarbeiter persönlich genommen, habe versucht, sich auch durch harte Kritik Respekt zu verschaffen. »Ich kann mich nur in aller Form entschuldigen für mein Verhalten von damals.«                                                          

Damals. Nakamura erzählt die Geschichte eines Menschen, der sich gewandelt hat, und er wirkt glaubhaft dabei. »Ich habe irgendwann gemerkt, dass ich nicht die Art von Chef bin, der ich sein will.« Da habe er sich therapeutische Hilfe gesucht und an sich gearbeitet. Inzwischen sei seine Küche nur noch abends offen, Schichtbeginn 13 Uhr. Und einen Weinkeller gebe es im Salon rouge nicht.                                                 

»Ich hoffe sehr, dass Ihr Artikel eine Diskussion über den Wandel der Branche anstößt«, sagt Tohru Nakamura.                              

So wie er jetzt redet, selbstkritisch und reflektiert, wirkt Nakamura weniger wie ein Täter. Eher wie jemand, der selbst unter den Zuständen seiner Branche leidet. Er spricht über den Zwang zur Spitzenleistung. Über das dauernde Bewertetwerden, im Guide Michelin, aber auch auf TripAdvisor. Nakamura beschreibt ein System, das selbst denen zu schaffen macht, die es bis ganz nach oben geschafft haben. Die mit ihrem Namen, ihrem Gesicht, ihrer Präsenz für die Güte ihrer Küche bürgen.                                                  

Was aber würde passieren, wenn Nakamura samstags nicht bis ein Uhr nachts jeden Gast persönlich verabschieden würde? Wenn seine Mitarbeiter sagten: Der Chef verbringt das Wochenende mit seinen beiden kleinen Kindern? Was wäre, wenn er mehr Küchenpersonal einstellen würde und daraufhin die Preise heraufsetzen müsste? Was würden die Gäste dann sagen?                         

Wenn die Kritiker des Guide Michelin wieder ausschwärmen, um Sternerestaurants zu küren, werden sie sich auf Kriterien berufen, die schon seit Jahrzehnten gelten: vor allem auf die Frische der Zutaten, die Qualität der Gerichte, die Kreativität der Küche – auf die Speisen also, und nichts anderes.          

Ginge es nach Tohru Nakamuras einstigem Jungkoch Jacob Weis, ginge es nach Tobias Fritsch, Kayla Miller und all den anderen Köchen und Azubis, mit denen wir gesprochen haben, dann käme ein weiteres Kriterium hinzu. Dann ginge es nicht mehr nur um die Exzellenz der Speisen. Sondern auch um den Umgang mit denen, die sie zubereiten.

Mitarbeit: Dominik Wolf

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HINTER DER GESCHICHTE                                                          

Für dieses Dossier haben die Autorinnen anderthalb Jahre lang recherchiert und mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus knapp 20 deutschen Sterneküchen gesprochen. Gegen etliche Köche wurden Anschuldigungen erhoben, die sich jedoch nicht in jedem Fall belegen ließen. Für die in diesem Text beschriebenen Vorfälle liegen Zeugenaussagen, ärztliche Unterlagen, Arbeitsverträge und/oder eidesstattliche Versicherungen vor. Gefördert wurden die Autorinnen vom Verein Netzwerk Recherche und von der Mercator Stiftung. Das Essen im Münchner Restaurant Salon rouge, das im Einstieg dieses Dossiers beschrieben wird, hat die Redaktion bezahlt.