Der Letzte seiner Art

von Caterina Lobenstein und Stephan Lebert

Der ehemalige Maschinenschlosser Karl-Josef Laumann ist der einzige deutsche Spitzenpolitiker mit Hauptschulabschluss. Seine Partei, die CDU, streitet verbissen, wie sie aus der Krise kommt. Laumann hätte da ein paar Ideen.

Die Zeit

Über den CDU-Mann Karl-Josef Laumann kursiert in seiner Partei ein merkwürdiges Gerücht. Es hat mit seiner Vorliebe für Schweinefleisch zu tun. Und mit der furchteinflößenden Wirkung, die Laumann auf einige seiner Parteikollegen zu haben scheint. Das Gerücht geht so:

Laumann, der einer der wichtigsten Minister in Nordrhein-Westfalen ist, aber aus einer einfachen Bauernfamilie stammt, kauft sich jeden Sommer zwei Schweine. Er hält sie in seinem Garten und behandelt sie gut. Er häckselt ihnen Maiskolben, kocht Kartoffelschalen, füttert sie von Hand. Will Laumann die Schweine schlachten, greift er auf eine gewiefte Taktik zurück: Um die Tiere nicht unter Stress zu setzen, was die Qualität des Fleisches beeinträchtigen würde, verabreicht er ihnen einen besonderen Leckerbissen. Er füttert sie mit Schokolade. Er wartet, bis sie vor lauter Zucker ganz selig sind. Dann schneidet er ihnen die Kehle durch.

Das Gerücht, so viel sei vorweggeschickt, stimmt nur halb. Es sagt wenig über Karl-Josef Laumann aus. Aber es zeigt, wie Laumanns Parteikollegen auf ihn blicken: mit einer Mischung aus Respekt und Befremden, aus Bewunderung und Belustigung. Die Juristen, Ökonomen und Unternehmer, die die Führungszirkel der CDU dominieren, sie haben mit dem Bauernsohn und gelernten Maschinenschlosser Karl-Josef Laumann wenig gemein. Aber sie trauen ihm einiges zu.

Vielleicht ahnen sie sogar, dass Laumann seiner geschlagenen Partei einen Weg aus der Krise weisen könnte. Die Frage ist nur, ob sie auf ihn hören wollen.

Karl-Josef Laumann ist ein Urgestein der CDU. Kreistag, Landtag, Bundestag, er hat seine Partei schon überall vertreten. Laumann war Staatssekretär im Bundesgesundheitsministerium und ist nun zum zweiten Mal Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales in Nordrhein-Westfalen. Er sitzt im CDU-Präsidium, dem obersten Führungszirkel der Partei. Und er ist seit 16 Jahren Vorsitzender der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA), er ist also so etwas wie der Arbeiterführer der CDU.

Laumann ist 64 Jahre alt. Als er in die Partei eintrat, das war Mitte der Siebzigerjahre, erreichte sie bei der Bundestagswahl fast 50 Prozent der Stimmen. Die CDU von damals war eine kraftstrotzende Volkspartei, ein konservativer Machtblock, der die unterschiedlichsten Milieus vereinte.

Bei der Bundestagswahl vor zwei Monaten kam die Union nur noch auf 24,1 Prozent – das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte. In den Wochen darauf sackte sie in einigen Umfragen sogar auf 19 Prozent ab. Seither versuchen sich Parteistrategen und Kommentatoren an einer Deutung des Debakels.

Karl-Josef Laumann kommentiert es auf seine Weise: »Große Scheiße. Punkt.«

In den vergangenen Wochen haben zahllose Experten zu analysieren versucht, warum die einst so stolze Partei am Boden liegt. Sie haben Wählermilieus studiert, Nachwahlbefragungen gesichtet und Wählerwanderungsstatistiken ausgewertet.

Sie hätten auch nach Birgte fahren können, in Laumanns Heimatort.

Birgte, die Einheimischen sagen »Birchte«, ist ein kleines Dorf im Tecklenburger Land, eine halbe Autostunde westlich von Osnabrück. 1200 Einwohner, drei Kneipen, eine Kirche. Karl-Josef Laumann hat sein Grundstück am Rande des Dorfs, direkt an der Landstraße. An einem Novembersonntag betritt er dort seinen Schweinestall, ein grob verputztes Steinhaus, vor dem ein Futtereimer und eine Schubkarre stehen. Laumann ist fast 1,90 Meter groß und von schwerer Statur, ein Hüne mit mächtigem Schädel und zerzaustem Haar. Ein Mann, der auch auf den zweiten Blick nicht aussieht wie ein Spitzenpolitiker.

»Na, wo seid ihr?«, ruft Laumann in den halbdunklen Stall. Zwei grunzende Schweine kommen angerannt und strecken ihm ihre Schnauzen entgegen. »Ihr habt es gut!«, sagt Laumann und tätschelt die Schweine. »Ihr habt ein feines Leben!« Fragt man ihn, ob die Schweine Schokolade kriegen, guckt er irritiert. »Nee«, sagt er. Na ja, vielleicht ab und zu eine kleine Praline.

Immer um Weihnachten werden die Tiere geschlachtet – so weit stimmt das Gerücht. Allerdings nicht von Laumann persönlich, sondern von einem Metzger im Nachbardorf. Eigenhändig schlachtet Laumann nur seine Kaninchen. Sie leben in seinem Garten, neben dem Grünkohlbeet. Er tötet sie mit einem Knüppel, per Nackenschlag.

Karl-Josef Laumann wurde in Birgte geboren, und obwohl ihn sein Lebensweg bis in die höchsten Etagen der deutschen Politik geführt hat, in die Regierungsviertel von Berlin und Düsseldorf, ist er immer in Birgte geblieben. Er wohnt mit seiner Frau in einem kleinen Backsteinhaus, gleich neben dem Schweinestall. Im Fenster steht ein Gartenzwerg, daneben eine Marienfigur. Eine Tochter und der Sohn haben gleich nebenan ihre Häuser gebaut. Auch die zweite Tochter wohnt in Birgte. »Wir Laumänner sind so. Wir wissen noch, was Heimat ist«, sagt Laumann.

Die Schweine quieken, sie drängen ihre rosigen Bäuche aneinander. Laumann sagt, es handele sich um eine belgische Rasse, bekannt für ihr mageres, aber saftiges Fleisch. Als er ein Kind war, habe man hier in der Gegend noch das Westfälische Landschwein gezüchtet. »Das war ziemlich groß und sehr fett.« Das Landschwein hatte, was die Bundesbürger der Nachkriegszeit verlangten: dicke Schwarte, viel Speck, Kalorien. Heute sind die Bauern auf fettarme Rassen umgeschwenkt. »Weil der Verbraucher von heute so was ja nicht mehr will«, sagt Laumann.

Mit dem Westfälischen Landschwein und den Verbrauchern verhält es sich so ähnlich wie mit Laumanns Partei und den Wählern: Jahrzehntelang hat die CDU etwas verkörpert, das der Mehrheit der Deutschen gefiel. Heute scheint es, als ziele sie an den Bedürfnissen der meisten Menschen vorbei.

An diesem Wochenende beginnen die rund 400.000 Mitglieder der CDU mit der Abstimmung über ihren neuen Parteichef. Helge Braun, Friedrich Merz, Norbert Röttgen – seit Wochen wird spekuliert, welcher Kandidat am besten geeignet ist, die Christdemokraten wieder aufzurichten. Laumann winkt ab. Er sagt, seine Partei müsse begreifen, dass es weniger um Personalfragen als um inhaltliche Defizite gehe. Um die Vernachlässigung eines Themas, das einst zu seiner Partei gehörte, ihr dann aber abhandenkam: das Streben nach sozialer Gerechtigkeit. »Das ist uns verdunstet, so wie Wasser beim Kochen«, sagt Laumann.

In den vergangenen Jahren hat die CDU vor allem gegen die AfD gekämpft, die den Christdemokraten zahlreiche Stimmen abnahm. Zugleich versuchte sie, den Grünen die Stirn zu bieten, die sich längst als moderne Volkspartei begreifen und im Milieu der CDU nach neuen Wählern suchen. So kam es, dass die CDU bei Reizthemen wie der Migration immer weiter nach rechts rückte – und sich in Fragen der Ökologie einen grünen Anstrich verpasste.

Karl-Josef Laumann glaubt, dass es vielen Wählern um etwas anderes geht. Nicht um die Rettung des Klimas oder den Schutz der europäischen Außengrenzen. Sondern: um soziale Themen. Um ihre Rente. Um ihren Lohn. Um die Frage, warum die Vermögen im Land so ungleich verteilt sind und die Mieten so stark steigen.

Die Statistiken geben Laumann recht: Die Union hat bei der Bundestagswahl fast zwei Millionen Wähler an die SPD verloren. Laut dem ZDF-Politbarometer war die soziale Gerechtigkeit das entscheidende Thema der Wahl. Wichtiger als der Klimaschutz. Wichtiger als die Migrationspolitik. Und nur zwölf Prozent der Befragten waren der Meinung, dass dieses Thema bei der CDU gut aufgehoben ist. Auch die CDU selbst schien sich dafür nicht zuständig zu fühlen. Im Team ihres Kanzlerkandidaten Armin Laschet spielten Sozialpolitiker kaum eine Rolle. Während die SPD für bezahlbare Mieten warb, für höhere Löhne und eine Reform des Hartz-IV-Systems, hatte die CDU zu sozialen Themen wenig zu sagen. Das, glaubt Laumann, sei der große Fehler gewesen. »Die Menschen halten uns nur noch für eine reine Wirtschaftspartei.«

Der einstige Bundeskanzler und CDU-Chef Helmut Kohl hatte ein feines Gespür für die verschiedenen Flügel seiner Partei. Er scharte Sozialpolitiker wie Norbert Blüm und Heiner Geißler genauso um sich wie den stramm konservativen Alfred Dregger oder den aufstrebenden Wirtschaftspolitiker Friedrich Merz. Als Kohl abtrat, geriet das fein austarierte Gefüge aus dem Gleichgewicht. Die Wirtschaftsliberalen gewannen an Einfluss; auf dem Leipziger Parteitag von 2003 setzten sie sich schließlich durch. Laumann erinnert sich: »Da gab es Reden, da hörtest du nur noch das Wort Freiheit.« Der Begriff soziale Gerechtigkeit verlor in der Partei an Glanz, er sollte sogar aus dem CDU-Grundsatzprogramm gestrichen werden. Der Arbeiterflügel, von manchen als »Herz-Jesu-Flügel« verspottet, wurde zum Nischenverein.

Nach dem schlechten Wahlergebnis im Jahr 2005 rückte Angela Merkel von diesem Kurs wieder ab. Fortan, so hört man es heute oft, habe sich die Union sozialdemokratisiert, sie sei nach links gerückt. Das ist nicht falsch. Aber auch nicht ganz richtig. Während die Union regierte, wurde die Wehrpflicht abgeschafft, die Homo-Ehe erlaubt und die doppelte Staatsbürgerschaft eingeführt. Die CDU ist sogar aus der Atomkraft ausgestiegen. Doch bei näherem Hinsehen war das eher ein kultureller Linksruck. In der sozialen Frage hat sich die Partei wenig bewegt. Einige Vorstöße des Koalitionspartners SPD hat sie widerwillig mitgetragen, oft stellte sie sich quer. Die CDU hat die Grundrente blockiert und die Regulierung der Leiharbeit zu verhindern versucht. Ein Lobbyregister für Abgeordnete, das Kontakte zwischen Wirtschaft und Politik offenlegen soll, hat sie jahrelang vehement bekämpft.

Die CDU wurde liberaler. Sozialer wurde sie nicht. Der Arbeitnehmerflügel blieb in der Ära Merkel dauerhaft gestutzt. Um Leute wie Karl-Josef Laumann wurde es einsam.

Im September, noch vor der Bundestagswahl, empfängt Laumann zum Gespräch in seinem Ministerbüro in Düsseldorf. Gerade hat er mit Sozialverbänden und Migrantenvereinen besprochen, wie sich die Impfquote erhöhen ließe, später muss er in eine Ausschusssitzung. Jetzt erzählt er von seinem Arbeitsalltag in der Pandemie, von überteuerten Masken, traumatisierten Krankenschwestern und einem Pflegeheim, das er besucht hat. Zwölf alte Menschen sind dort an Covid-19 gestorben.

Der Raum wirkt wie ein gewöhnliches Politikerbüro: ein wuchtiger Schreibtisch, ein Konferenztisch, dazu die Landes- und die Deutschlandflagge. Nur die Vitrine in der Ecke fällt auf: Bunte Modellfahrzeuge stehen darin, Laumanns Treckersammlung.

Laumann konnte Traktoren lenken, bevor er lesen und schreiben lernte. Nach der Volksschule arbeitete er als Schlosser in einer Landmaschinenfabrik, er hat dort Pflugscharen geschmiedet. Dass einer wie er mal Minister wird, war mehr als unwahrscheinlich. »Wenn ich mich in meinem Ministerium um eine Stelle beworben hätte, mit meiner Ausbildung, die hätten sich hier kaputtgelacht und meinen Brief zurückgeschickt«, sagt Laumann. »Hier kommst du nur rein, wenn du studiert hast.«

Noch als Lehrling trat Laumann in die Gewerkschaft und in die CDU ein. Später saß er für die Christdemokraten im Rat seines Heimatdorfs. In die große Politik hat er sich nicht hineingedrängt. Er wurde gefragt. Vom damaligen Direktkandidaten seines Wahlkreises. »Er war genau das Gegenteil von mir«, sagt Laumann. »Ein sehr reicher Mann.« Der sehr reiche Mann hatte einen sehr langen Namen, er hieß Constantin Bonifatius Herman Josef Maria Freiherr Heereman von Zuydtwyck. Er war Waldbesitzer, Forstwirt und Präsident des Deutschen Bauernverbands. Er wohnte in einem Schloss, nicht weit von Laumann entfernt. Laumann nannte ihn »Herr Baron«. Der Baron nannte ihn »Karl-Josef«.

Hat so die Klassengesellschaft in der CDU funktioniert, Herr Laumann?

»Unsinn. Der Baron, der war einfach eine Persönlichkeit, der hatte überhaupt keinen Standesdünkel, null.«

Wie hat er Sie für die Kandidatur in Ihrem Wahlkreis gewonnen?

»1990, nach einer Kreisvorstandssitzung, hat er zu mir gesagt: Wir müssen reden. Und so bin ich an irgendeinem Sonntagmorgen mit meinem Fahrrad zu seinem Schloss gefahren, wo er gelebt hat. Ich habe das Rad am Schloss geparkt und bin die Treppe hochgestiegen. Er saß in seinem Rittersaal vor dem Kamin, wie man sich einen Baron vorstellt, und guckte ins Feuer, und neben ihm lag sein Hund, wie sich das gehört. Er sagte: Lass uns erst mal einen Cognac trinken! Das war einer, der nicht so im Hals kratzte, den konntest du gut trinken.«

Und dann?

»Ja, dann hat er einfach nur gesagt, er habe sich entschieden, nicht mehr für den Bundestag zu kandidieren, und dann hat er gesagt: Karl-Josef, du musst das machen. So war das.«

Würde so etwas auch in der CDU von heute geschehen?

»Nein, ich glaube nicht. Der Baron war eine Ausnahmeerscheinung.«

142 von 152 CDU-Abgeordneten im neu gewählten Bundestag haben eine akademische Ausbildung. Nur einer hat einen Hauptschulabschluss. Bei den übrigen Parteien sieht es kaum anders aus. »Volksparteien leben davon, dass sie aus unterschiedlichen Erfahrungswelten schöpfen«, sagt Laumann. »Und natürlich ist die Erfahrungswelt eines Arbeitnehmers eine andere als die eines mittelständischen Unternehmers.«

Der mächtigste Flügel der CDU ist die Mittelstands- und Wirtschaftsunion, sie hat etwa 25.000 Mitglieder. Der Arbeiterflügel, die CDA, hat nur rund 10.000. Laumann hält das für eine Gefahr. Die Mehrheit der Bevölkerung, das seien nicht die, die Betriebe besitzen. Das seien die, die dort arbeiten. »Die CDU ist eine Volkspartei und kein wirtschaftsliberaler Klientelverein«, sagt er. Es klingt nicht wie eine Feststellung. Es klingt wie ein Wutausbruch.

Laumanns Temperament ist in der CDU legendär. Bei der Krisensitzung im Parteipräsidium am Morgen nach der desaströsen Bundestagswahl ist er ausgerastet. »Es reicht jetzt! Ich bin es endgültig leid!«, soll er gebrüllt haben. »Die CDU ist jetzt nur noch zweimal FDP!« So stand es später in den Zeitungen. Ein CDU-Mann aus dem Bundesvorstand sagt: »Wenn der Kajo mit seinen Pranken auf den Tisch haut, dann hört erst mal jeder zu«.

Auf seinem Grundstück in Birgte verabschiedet sich Karl-Josef Laumann von seinen Schweinen. Er gibt ihnen einen Klaps, dann zieht er den Kopf ein und tritt durch die kleine Tür des Stalls nach draußen. Er klopft sich den Dreck und das Stroh von den Sohlen und steigt in sein Auto. Ein alter Ford, der beim Fahren piept. »Der Wagen braucht ein Ersatzteil«, flucht Laumann. »Aber das Ersatzteil gibt es in der Werkstatt nicht.« Er fährt zu einer kleinen Siedlung im Dorfkern von Birgte. Rotklinkerhäuschen mit spitzen Dächern und gepflegten Vorgärten. »Hier wohnen ganz normale Arbeitnehmer«, sagt Laumann. »Handwerker, Krankenschwestern, einfache Büroangestellte.«

Laumann glaubt, dass man an den Häusern ein Problem ablesen kann, das der CDU bald um die Ohren fliegen könnte: das Problem, dass es für Normalverdiener immer schwieriger geworden ist, Wohneigentum aufzubauen. »Die Leute, die hier vor langer Zeit gebaut haben, die könnten sich solche Häuschen heute gar nicht mehr leisten«, sagt Laumann.

In Deutschland sind die Preise für Mieten und Immobilien in den vergangenen Jahren explodiert. Die Löhne der mittleren und unteren Gehaltsgruppen sind dagegen gar nicht oder nur moderat gestiegen.

Laumann findet, das dürfe seiner Partei nicht gleichgültig sein: »Ich habe hundertmal gesagt: Wir sind eine Eigentumspartei, eine Partei, die Leistung belohnen will. Wenn du fleißig bist, wenn du strebsam bist, wenn du sparsam bist, dann kommst du in deinem Leben auch zu etwas.« Dieses Etwas, sagt Laumann, sei für viele Menschen noch immer das Eigenheim – oder zumindest eine schöne Wohnung. Wenn beides unbezahlbar werde, müsse die CDU dieses Thema für sich reklamieren: »Wenn in Berlin die Mieten so hoch sind, dass 60 Prozent der Bürger für die Enteignung der Wohnungskonzerne stimmen, dann muss uns als Volkspartei doch interessieren, was da schiefläuft.«

Ohne ein Zuhause, das man sich dauerhaft leisten kann, könne ein Wohnort kaum zur Heimat werden, glaubt Laumann. Und ohne Heimatgefühl könne ein Dorf wie Birgte nicht überleben. »Wenn du keine Heimat hast, dann gehst du nicht in die Feuerwehr. Dann engagierst du dich nicht im Schützenverein. Dieses Engagement, das ist unverzichtbar für eine bürgerliche Gesellschaft, wie sie die CDU verkörpert.«

Laumann redet sich in Rage – und liefert nebenher genau das, wonach die Parteistrategen in der CDU-Zentrale in diesen Wochen so verzweifelt suchen: eine Erzählung, ein Narrativ, das die Probleme der heutigen Zeit mit den konservativen Werten der CDU verbindet. Und das noch dazu jeder versteht.

Anfang Oktober, knapp zwei Wochen nach der Bundestagswahl, ist Laumann in der Stadthalle von Olpe zu Gast. Eine kleine Stadt im Sauerland, Kernland der CDU. An diesem Abend wird der 100. Todestag von Franz Hitze begangen, einem katholischen Sozialethiker, der in Olpe begraben liegt. Hitze, der wie Laumann aus einer Bauernfamilie stammte und später Abgeordneter im Reichstag wurde, war einer der wichtigsten deutschen Sozialpolitiker. Kein Sozialist, sondern ein tiefreligiöser Konservativer.

Hitze zählt zu den Vätern der deutschen Renten- und Sozialversicherung und war ein Vorreiter der Caritas. Norbert Blüm hielt ihn für den Wegbereiter der sozialen Marktwirtschaft. Karl-Josef Laumann sieht in ihm den Beweis, dass der Kampf für die Armen und Schwachen nicht nur von links ausgefochten wird. Dass nicht nur die SPD, sondern auch die CDU über ein sozialpolitisches Erbe verfügt. Laumann hat Hitzes Schriften während seiner Zeit als Schlosser gelesen, als er in der Landmaschinenfabrik im Betriebsrat saß.

In der Stadthalle spielt ein Posaunenchor, an einer Theke gibt es Pils, im Publikum sitzen Rentner mit Schiebermützen und Nonnen mit Flügelhauben. Auch der ehemalige Bürgermeister aus dem Nachbarort ist da, ein Mann im Sonntagsanzug, der seit mehr als vier Jahrzehnten CDU-Mitglied ist und sich seit der Rente um Langzeitarbeitslose kümmert.

Als Laumann die Bühne betritt, bedankt sich der Moderator, dass sich der Minister »in diesen ja nicht so ganz einfachen Zeiten« auf den Weg nach Olpe gemacht hat. Es ist der Abend, an dem der gescheiterte Kandidat Armin Laschet seinen Rückzug vom CDU-Vorsitz verkündet. In den Nachrichtentickern ploppen Eilmeldungen auf, über Twitter bringt sich der erste Parteikollege für Laschets Nachfolge ins Spiel. Innerhalb der CDU wird jetzt vor allem über eines geredet: über Posten. Laumann redet über Solidarität. Ein Wort, das er nicht als linken Kampfbegriff versteht, sondern als Synonym für christliche Nächstenliebe. Er beklagt, dass es in der heutigen Zeit fast immer nur um die individuelle Freiheit gehe – und viel zu selten um soziale Bindungen.

Ein Geistlicher tritt auf die Bühne und zündet eine Kerze an. »Wer sind die Verlierer unserer Gesellschaft heute?«, fragt er. »Und was müssen wir tun, dass es weniger solcher Verlierer gibt?« Er bittet die Zuhörer, nicht mit Barmherzigkeit zu geizen. »Wir sind fratelli tutti!«, ruft er. Wir sind alle Brüder.

Fratelli tutti. Keine Worte, die man einem Politiker wie Friedrich Merz zuordnen würde. Merz, der Wirtschaftsanwalt, einst Aufsichtsrat von BlackRock, dem weltweit größten Vermögensverwalter. Merz, der zum Parteitag auch mal im Privatflugzeug anreist. Doch als ausgerechnet dieser Friedrich Merz vor drei Wochen verkündete, dass er neuer Vorsitzender der CDU werden will, hörte er sich beinahe an wie Karl-Josef Laumann: »Es gibt ein großes Thema, das heißt soziale Gerechtigkeit. Und da ist die CDU, wie ich finde, nicht gut genug aufgestellt.«

Merz ist nicht der Einzige in der Partei, der jetzt viel von seinem sozialen Gewissen spricht. Da ist auch Carsten Linnemann, der scheidende Chef der Mittelstands- und Wirtschaftsunion, der nun für den Vizevorsitz der CDU kandidiert. Fragt man ihn, was er von Laumanns Kritik an den Christdemokraten hält, sagt er: »Karl-Josef hat recht. Wir haben die sozialen Themen nicht gut abgedeckt.«

Ist dies also die Stunde des Karl-Josef Laumann?

Das Gerücht, das über Laumann verbreitet wird, die Geschichte von der Schweineschokolade, geht noch weiter. Es besagt, dass Laumann nicht nur seine Schweine gefügig macht, sondern auch seine innerparteilichen Gegner. Selbst die, die mit dem Herz-Jesu-Flügel noch nie etwas anfangen konnten. Erst nimmt Laumann sie für seine Themen ein. Dann legt er sie um. So beschreibt es einer seiner Kabinettskollegen in Düsseldorf.

Vor zehn Jahren zum Beispiel, auf dem Bundesparteitag der CDU. Es war die Zeit der EU-Osterweiterung, es gab noch keinen Mindestlohn, und in manchen Branchen wurden Stundenlöhne von nicht mal fünf Euro gezahlt. Die SPD forderte ein Verbot der Billiglöhne. Laumann gehörte zu den wenigen Christdemokraten, die das für richtig hielten. Nun stieg er auf die Bühne und forderte, was viele Christdemokraten nicht einmal aussprechen wollten: einen Mindestlohn.

Laumann schimpfte auf Unternehmen, die sich nicht an Tarifverträge halten – kein Applaus. Er wetterte gegen Dumpinglöhne – kein Applaus. Dann aber argumentierte er, man müsse den Mindestlohn einführen, damit es die anderen nicht tun: »Kommunisten verstehen von Löhnen und von Wirtschaft nichts!«, rief er in den Saal. Da kamen die Delegierten in Fahrt. Erst gab es Applaus. Dann eine Mehrheit für Laumann. Das Wort »Mindestlohn« hatte er geschickt vermieden. Er sagte stattdessen »Lohnuntergrenze«, ein Wort, das nicht so sehr nach roten Socken roch.

Laumann hat in seiner Partei nie die Richtung bestimmt. Aber er hat es hin und wieder vermocht, den Kurs der CDU in seinem Sinne zu korrigieren. Er hat den Mindestlohn durchgesetzt, obwohl ein Großteil der Partei dagegen war. Er hat für höhere Gehälter in der Pflege gestritten, lange bevor das Thema die Talkshows und Plenardebatten beherrschte. Und wie kein anderer Politiker hat er sich mit den Konzernen der Fleischindustrie angelegt. Das Gesetz, das im vergangenen Jahr beschlossen wurde, um die Schlachthofarbeiter zu schützen, geht in großen Teilen auf Karl-Josef Laumann zurück. Bis zuletzt wurde es von Kollegen aus seiner eigenen Partei bekämpft.

Laumann hat viel erreicht, er ist der mächtigste Außenseiter der CDU. Doch der Flügel, den er vertritt, hat seine frühere Kraft nicht wiedererlangt. Laumann selbst ist über die Jahre zu einer Art sozialem Maskottchen geworden. Einer, auf den die Partei zurückgreifen kann, wenn sie jene Wähler umgarnen will, die man im Berliner Regierungsviertel als »kleine Leute« bezeichnet. Die CDU kann dann auf Laumann verweisen. Folgen muss sie ihm deshalb noch lange nicht.

Der Europa-Abgeordnete Dennis Radtke, ein enger Parteifreund Laumanns und Chef des Arbeitnehmerflügels in Nordrhein-Westfalen, sagt: »Wir sind zur Folkloreabteilung unserer eigenen Partei verzwergt.«

Regina Görner, einst Mitglied im Bundesvorstand von CDU und CDA, warnt davor, die warmen Worte eines Friedrich Merz ernst zu nehmen: »Bei mir gehen da alle Warnlampen an.« Sie kenne Merz als jemanden, der puren Casino-Kapitalismus betrieben habe. Also das Gegenteil von sozialer Marktwirtschaft. Sie habe das so oft erlebt, sagt Görner: Erst hieß es, die CDU müsse die soziale Gerechtigkeit wieder in den Mittelpunkt rücken – und dann wollte keiner mehr was davon wissen. Görner hat sich mittlerweile aus der ersten Reihe der Politik zurückgezogen.

Mitte Oktober steht Karl-Josef Laumann auf der Bühne einer Messehalle in Münster. Hier findet an diesem Wochenende der Deutschlandtag der Jungen Union statt, das traditionelle Jahrestreffen des CDU-Nachwuchses. Es ist die erste große Zusammenkunft der Christdemokraten nach der Wahlniederlage. Eigentlich war Laumann für ein fünfminütiges Grußwort eingeladen. Er hält dann aber eine Grundsatzrede, fast 30 Minuten lang. Laumann sagt, eine Volkspartei könne nicht überleben, wenn wichtige Posten fast immer nur an die Akademiker, an die Juristen gingen. Er mahnt, auch den anderen eine Chance zu geben. Und das christliche Erbe der Partei nicht gänzlich zu vergessen. »Das C ist ein hoher Anspruch«, sagt Laumann. »Ein verdammt hoher Anspruch.«

Als Laumann fertig ist, spurtet Tilman Kuban zu ihm, der Chef der Jungen Union, ein studierter Jurist. »Lieber Karl-Josef, wir brauchen so authentische Köpfe wie dich!«, ruft er ins Mikrofon. »Jemand, der Schlosser gewesen ist, der weiß, was es heißt, an der Werkbank zu stehen.« Kuban überreicht Laumann ein paar Sneaker, weiße Turnschuhe mit schwarz-rot-goldenen Streifen. Er sagt: »Die CDU muss wieder laufen lernen, dafür gibt’s noch ein paar Schuhe.« Laumann nimmt die Sneaker und verschwindet von der Bühne.

Tilman Kuban hat in seiner Partei den Begriff »Sneaker-Konservatismus« geprägt. Damit will er sagen: Die CDU fuße zwar auf konservativen Werten, doch jetzt müsse sie Lösungen für die Probleme der Gegenwart finden. Für die Turnschuh-Zeit. Deshalb verschenkt er die Sneaker an die Führungsleute seiner Partei. Angela Merkel hat welche bekommen, Friedrich Merz und jetzt auch Laumann.

Überall in Europa haben sich konservative Parteien in den vergangenen Jahren zu modernisieren versucht. Viele sind daran gescheitert. Die französischen Republikaner zum Beispiel, die einst den Präsidenten stellten und mittlerweile nur noch bei Regionalwahlen erfolgreich sind. Oder die Christdemokraten in den Niederlanden, die bei der letzten Wahl nicht mal mehr zehn Prozent der Stimmen bekamen. Andere probieren neue Spielarten des Konservatismus aus. Der britische Regierungschef Boris Johnson, Vorsitzender der Tories, hat erkannt, dass die Klassengegensätze die britische Gesellschaft zu zerreißen drohen. Er, der einst für eine liberale Wirtschaftspolitik stand und mit seinem Brexit-Populismus bekannt wurde, plädiert mittlerweile für höhere Löhne und einen Ausbau der öffentlichen Infrastruktur. Gerade hat er ein Programm aufgelegt, das den strukturschwachen Norden des Landes mit Milliardeninvestitionen unterstützen soll. Johnson hat es fertiggebracht, dass Arbeiter und einfache Angestellte mittlerweile zu großen Teilen für die Konservativen stimmen. »Mitfühlenden Konservatismus« nennt Johnson seine Politik. Es klingt wie das, was Karl-Josef Laumann schon seit Jahren sagt.

In Birgte steuert Laumann jetzt seinen Wagen an einem Acker vorbei. Vor einem alten Gehöft hält er an. Ein Bauernhof aus Naturstein mit grünen Fensterläden, davor ein paar alte Eichen und drei Futtersilos. »Hier bin ich groß geworden«, sagt er. In diesem Haus wurde er geboren, hier hat er eine Kindheit verbracht, wie sie damals auf dem Land üblich war: »Ich kam aus der Schule, da hat man sich das gute Zeug ausgezogen, das alte Zeug angezogen, und dann ging’s los: Runkeln ziehen, Rüben ziehen, Kartoffeln suchen.«

Er fährt ein Stück weiter, zu einer winzigen Kapelle – die Kirche von Birgte. Daneben steht ein Haus mit beigefarbener Klinkerfassade und braun getönten Scheiben. »Meine Stammkneipe«, sagt Laumann. Früher sei er mehrmals pro Woche hier gewesen. Seit er Minister ist, schaffe er es nur noch ein-, zweimal im Monat: »Bier trinken, Schnitzel essen – Kneipe halt.« Die Tür der Kneipe öffnet sich, ein alter Mann mit Hut und Gehstock wankt nach draußen. »Hallo, August!«, ruft Laumann. »Frühschoppen schon vorbei?« Ein katholisches Dorf, sagt Laumann, erkenne man auf den ersten Blick: »Daran, dass die Kirche direkt neben der Kneipe steht.«

Wer mit einem Minister sprechen will, kann versuchen, sich zu ihm hochzutelefonieren – und wird fast immer irgendwo hängen bleiben. Minister haben Vorzimmerdamen, sie haben Referentinnen, Assistenten und Pressesprecher. Sie haben Dienstlimousinen mit blickdichten Scheiben und Visitenkarten, auf denen keine Durchwahl steht. Karl-Josef Laumann hat seine private Nummer im Telefonbuch stehen. Er schreibt sie seinen Wählern auf, er gibt sie bei öffentlichen Auftritten bekannt. Eine seiner Mitarbeiterinnen erzählt, sie dränge ihn schon seit Jahren, die Nummer aus dem Telefonbuch zu nehmen. Laumann aber bleibe stur.

Vor der Pandemie hat Laumann einmal pro Woche eine Bürgersprechstunde abgehalten, immer sonntags nach der Messe in Birgte, bei sich zu Hause am Wohnzimmertisch. Bei schönem Wetter hat er sich mit den Bürgern in den Garten gesetzt, unter einen großen Pavillon, gleich neben dem Schweinestall. Ein Tisch, vier Gartenstühle, ein Kasten Bier. »Mein Wahlkreisbüro«, sagt er.

Weit weg von Birgte und Laumanns Schweinen, im Café Einstein im Berliner Regierungsviertel, sitzt Diana Kinnert. Vor ein paar Jahren war die heute 30-Jährige eine Art Shootingstar der CDU, eine junge Frau mit guten Kontakten zur Berliner Start-up-Szene. Weiblich, lesbisch, Tochter eines Polen und einer Philippinerin – anschlussfähig an die Großstadtmilieus, so würden es Parteistrategen sagen. Wie immer trägt Kinnert einen schwarzen Hut, sie nimmt ihn auch im Café nicht ab. Kinnert stammt wie Laumann aus Nordrhein-Westfalen, sie ist in Wuppertal geboren.

Karl-Josef Laumann? Sie lächelt, als sie anfängt, über ihn zu sprechen. »Kajo Laumann war ein wesentlicher Grund, warum ich in die CDU eingetreten bin.« Sie war damals noch in der Schule, und bevor sie Mitglied der Partei wurde, wurde sie Mitglied der CDA. »Das ist bis heute meine politische Heimat.« Laumann sei für sie ein Vorbild gewesen: »Der will das Leben der Leute verbessern, für den gibt es irgendwie keinen Unterschied zwischen Unten und Oben. Das ist sein Ding, und das wurde auch mein Ding.«

Peter Hintze, der frühere CDU-Generalsekretär, wurde aufmerksam auf Kinnert und machte sie zu seiner Büroleiterin, da war sie Mitte zwanzig. Kinnert saß in Talkshows, sie gab Interviews, es sah nach einer steilen Karriere aus. Wenn man so will, ist auch Karl-Josef Laumann schuld, dass daraus nichts wurde. Mit Laumanns Themen kommt man in der CDU schwer nach oben. »Man merkt den Widerstand überall«, sagt Kinnert. »Wenn du die großen sozialen Fragen zum Thema machen willst, dann läufst du ganz schnell gegen die Wand.«

Kinnert merkte es im Kleinen: Wenn die »Segelschuhjungs« der Jungen Union, wie sie sie nennt, Tagungen veranstalteten, fuhren sie ins Schlosshotel. Die CDA fuhr in die Jugendherberge. Und sie merkte es im Großen: Nach den Wahlniederlagen der vergangenen Jahre habe sie jedes Mal auf eine echte Fehleranalyse gewartet – und vergeblich darauf gehofft, dass es dabei um die Schwäche des sozialen Flügels geht. »Es wird immer abgewunken. Wenn man vom Sozialen redet, heißt es: Da spielen wir das Spiel der Sozis. Und übrig bleibt oft nur: Wir müssen rechter werden, nationaler. Oder privatisieren, rationalisieren, uns an den Bedürfnissen der ohnehin Privilegierten orientieren. Es ist schon deprimierend.«

Diana Kinnert ist mittlerweile Unternehmerin, sie hat mehrere Start-ups gegründet. Schon klar, sagt sie, wenn sie hier in Berlin mit Laumann aufkreuzen würde, dann würden ihre Kollegen sagen: Was will der alte Mann? Seine Themen aber seien wichtig. Vor ein paar Wochen wurde in der Berliner Start-up-Szene der Arbeitskampf ausgerufen, Mitarbeiter des Lieferdienstes Gorillas waren wütend auf die Straße gezogen. Das Unternehmen hatte mehrere Fahrer entlassen, weil diese die Gründung eines Betriebsrats gefordert und zum Streik aufgerufen hatten. Die Stärkung der Betriebsräte, das ist eines von Laumanns politischen Lebensthemen. »Seine Anliegen sind nicht aus der Mode gekommen, im Gegenteil«, sagt Kinnert. »Man müsste sie nur ein wenig übersetzen.«

Aber ist das mit dem Übersetzen so einfach? Kirche, Kneipe, Schützenfest – das mag im Tecklenburger Land funktionieren. Funktioniert es auch in Sachsen und Thüringen, wo Dörfer veröden und die AfD die Rolle des sozialen Kümmerers zu übernehmen versucht? Funktioniert es in Hamburg-Billbrook, wo mehr als 80 Prozent der Menschen einen Migrationshintergrund haben? Die sozialen Probleme, gegen die Laumann kämpft, gibt es im ganzen Land. Doch das Milieu, aus dem er stammt und aus dem er seine politische Stärke zieht, ist vielerorts verkümmert. Selbst in erzkatholischen Gegenden schrumpfen die Kirchengemeinden. Die Jungen, die Laumann so dringend bräuchte, um das soziale Erbe seiner Partei zu beleben, sitzen nicht im Gottesdienst. Sie hängen auf Instagram.

Laumann ist nicht auf Instagram. Er twittert auch nicht. Manchmal aber bekommt er mit, was seine jungen Parteikollegen in den sozialen Medien treiben. »Ich versteh das nicht«, sagt er. »Die fotografieren die Sonne. Und dann schreiben sie drunter: Breche gerade auf zur Landtagssitzung in Düsseldorf.« Er guckt ratlos. »Ist das wichtig?«

Am Morgen bevor Karl-Josef Laumann in Birgte nach seinen Schweinen sieht, geht er zur heiligen Messe. St. Kalixtus, die große Kirche im Nachbarort von Birgte. Laumann kniet auf der Kirchenbank, die Arme auf die Lehne der Vorderbank gestützt. Neben ihm seine Tochter und die Enkelin. Laumann, so wird es ein Pfarrer später erzählen, ist fast jeden Sonntag hier. Er wurde hier getauft und gefirmt, er hat hier geheiratet.

Vorn im Altarraum huschen Messdiener in weißen Gewändern umher. Der Priester hält einen goldenen Kelch in die Höhe, die Glocke läutet, die Gemeinde erhebt sich zur Eucharistie. Laumann reiht sich in die Schlange der Gläubigen ein.

Als Karl-Josef Laumann vor der Bundestagswahl in seinem Ministerbüro saß, neben den Flaggen und der Vitrine mit den kleinen Treckern, kam er auf seinen Glauben zu sprechen. »Es war einfach so, dass ich, als ich ganz klein war, nie eingeschlafen bin, ohne dass ich wusste, der liebe Gott passt auf mich auf. Das ist ein schönes Gefühl. Und ich habe das immer noch. Ich habe mir meinen kindlichen Glauben bewahrt, den möchte ich auch behalten, bis ich tot bin.«

Haben Sie als Kind vor dem Einschlafen gebetet?

»Ja. Ich bete auch jetzt noch. Ich rede nicht darüber, was. Aber es ist schön, dass wir Katholiken eine Mama im Himmel haben.«

Was kommt nach dem Tod?

»Ich bin ein tiefgläubiger Mensch, ich glaube an den Himmel, und ich bin fest davon überzeugt, dass wir uns, wenn wir tot sind, für unser Leben verantworten müssen. Und vielleicht müssen wir Politiker das ein bisschen mehr, weil wir vieles gewusst haben.«

Laumann empfängt die Hostie. Schräg über ihm im Chorraum thront eine barocke Statue: der heilige Kalixtus, der Patron, der der Kirche ihren Namen gab. Kalixtus, so besagt es die Überlieferung aus dem alten Rom, war ein Sklave, der von seinem Herrn freigelassen wurde. Er nutzte seine Freiheit, um sich zu bilden. Später wurde er Diakon, im Jahr 217 sogar Bischof von Rom. Ein hoher Geistlicher aus dem Sklavenstand – das fanden viele Römer unerhört.

Der Priester hebt die Hände zum Segen. Gehet hin in Frieden. Laumann bekreuzigt sich.

Draußen vor der Kirche fängt ihn ein altes Ehepaar ab. Er mit Mantel und Hut, sie mit adretter Frisur und goldenen Ohrringen. Sie wollen ein Handyfoto mit dem Minister.

»Seht mal zu, dass ihr da einen Guten an die Spitze bekommt!«, sagt die alte Dame, als sie sich lächelnd neben Laumann stellt. Laumann antwortet: »Ich sach immer: Augen zu und CDU!«

Wer auch immer neuer Parteivorsitzender wird – ihm bleibt nur ein halbes Jahr Zeit bis zur ersten Bewährungsprobe: der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen. Karl-Josef Laumann will dann einen der Wahlkreise in seiner Gegend gewinnen, als Direktkandidat. Zuvor aber muss Laumann sich in seiner eigenen Partei durchsetzen.

Anfang Oktober, eine Mehrzweckhalle in Lengerich, einem kleinen Ort in der Nähe von Birgte. Hier wird an diesem Abend entschieden, wer für die CDU ins Rennen geht. In dem viel zu großen Saal stehen Bankreihen wie im Bierzelt, nur ohne Bier und Brezen. Auf den Tischen Mineralwasser und Säfte, nicht mal ein Keks ist irgendwo zu sehen. Es gibt eine Pressebank, sie ist leer.

Karl-Josef Laumann betritt die Halle eine halbe Stunde bevor es losgeht. Er schreitet durch die Reihen wie ein Wirt durch seinen Gasthof. Hier ein kurzer Plausch, dort eine kleine Umarmung, ein paar Winker und nette Worte zu alten Weggefährten.

Zuerst hält Laumanns Gegenkandidat seine Bewerbungsrede. Ein junger Versicherungskaufmann, der von »Problemlösungsstrategien«, von Erneuerung und Digitalisierung spricht. Laumann, der nicht für Erneuerung steht, sondern seiner Partei seit fast einem halben Jahrhundert angehört, geht vor die Tür. Er wirkt unruhig, er steckt sich eine Zigarette an. Später wird er sagen: »Klar war ich nervös. Wenn man in solchen Momenten nicht mehr nervös ist, sollte man besser mit der Politik aufhören.« Dann ist er an der Reihe.

Laumann beginnt mit seiner Herkunft. Hauptschulabschluss. Lehre. Maschinenschlosser. Er weiß, wie sicher ihm der Applaus ist, wenn er sagt: »Als die Schöpfung unser Tecklenburger Land geschaffen hat, war sie in Höchstform.« Dann wird er politisch. Er sagt, der ökologische Wandel sei ja richtig, aber er werde nur funktionieren, »wenn man dabei die Menschen in unserer Gegend damit nicht wirtschaftlich kaputt macht«.

Laumann spricht nicht über Erneuerung, nicht über Digitalisierung und Problemlösungsstrategien. Er spricht über das, worin er den Kern der Demokratie sieht: dass einer, der das Volk vertritt, das Volk auch verstehen muss. Er sagt: »Wenn mich einer anruft, bin ich dran. So war das, so ist das, und so wird es bleiben.« Die Leute im Saal jubeln und klatschen. Laumann nennt ihnen seine Festnetznummer.

Dann die Abstimmung, Laumann gewinnt. Mit 78 zu 4 Stimmen.

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Hinter der Geschichte

Für dieses Dossier haben die Autoren mit gut einem Dutzend Wegbegleitern, Parteikollegen und politischen Gegnern von Karl-Josef Laumann gesprochen. Sie haben den Minister in seiner Heimat und auf Terminen begleitet und ihn zu zwei langen Gesprächen in Düsseldorf und Berlin getroffen. Es ist üblich, dass Politiker die Zitate aus solchen Gesprächen vor Veröffentlichung autorisieren, mitunter wandeln sie dann das Gesagte stark ab. Karl-Josef Laumann hat kein einziges Wort geändert.