Der falsche Freund?

von Christoph Cadenbach

Ein deutscher Flüchtlingshelfer und ein Flüchtling werden beste Freunde. Plötzlich wird der Flüchtling als Terrorverdächtiger verhaftet. Es beginnt die sehr persönliche Suche nach der Wahrheit: Hat mich dieser Mann die ganze Zeit getäuscht? Was hatte er vor? Oder ist er doch unschuldig?

Es ist ein ungewöhnlich warmer Morgen im April 2018, als Jan Bergmann, ein 38-jähriger Sportlehrer aus Berlin, in ein Flugzeug steigt, um herauszufinden, ob sein Freund Karim ein Terrorist gewesen ist.

Mockup des nominierten Textes von Christoph Cadenbach von der von der SZ-Magazin-Website
SZ-Magazin / BDZV

Bergmann, der in Wahrheit anders heißt, trägt eine weite Jeans, ein T-Shirt, Turnschuhe aus Leinen. Seine Haut ist gebräunt, sein dichter Bart und seine lockigen Haare schimmern sommerblond. Er sieht aus, als käme er aus einem Surfurlaub. Mit federnden Schritten läuft er die Gangway entlang, nur seine Augen wirken müde. Seinen Rucksack verstaut er im Fach über seinem Sitz 9A, der Flug geht nach Frankfurt, ein Zwischenstopp auf seiner Reise. Er hat wenig Gepäck, aber viele Fragen: Hat Karim tatsächlich für den IS, den sogenannten Islamischen Staat, in Syrien gekämpft? Wollte er in Berlin mit einem Messer losziehen oder mit einem Auto Menschen überfahren, wie es Medien berichtet haben? Karim, mit dem Bergmann seine Wohnung teilte, mit dem er feiern war und durch den Kiez gelaufen ist wie mit einem kleinen, coolen Bruder. Bei dem er das Gefühl hatte, direkt in die Seele zu blicken, wenn Karim lachte oder weinte. Und der offenbar so oft gelogen hat. Der liebe Karim, ein Terrorist wie Anis Amri, der den Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz verübte?

Noch vor dem Start schläft Bergmann ein, eine Sonnenbrille über den Augen. Er hat die Nacht durchgemacht, saß am Abend noch einmal in dem Café, in dem er mit Karim so oft gewesen war und in dem Bergmann von einem Polizisten des Sondereinsatzkommandos auf dem Boden fixiert wurde. Noch heute grübelt er manchmal, ob sein Handy abgehört wird, obwohl er nie als Verdächtiger galt. Wer weiß, was von so einer Geschichte an einem kleben bleibt? Und was wohl künftige Bekannte und Arbeitgeber darüber denken? Deshalb hat er darum gebeten, seinen echten Namen im SZ-Magazinnicht zu erwähnen.

»Prepare for landing, please!«

Bergmann bleibt sitzen, bis die anderen Gäste ausgestiegen sind. Er mag das Gedrängel nicht, er lebt in einem eigenen, ruhigeren Tempo. Als im Sommer 2015 das begann, was als »Flüchtlingskrise« in die Geschichtsbücher eingeht, hatte Bergmann gerade seine Stelle an einer Berliner Schule gekündigt, weil er etwas Neues probieren wollte, was ihm mehr Freiheiten lassen würde. Eine Art Friedensarbeit. Er wollte in den Libanon ziehen, um für eine NGO zu arbeiten, etwas mit Sport und Bildung. Doch nun waren die Menschen, denen er helfen wollte, hier, in Berlin. Bergmann entschied sich zu bleiben. Er ist das, was Politiker der AfD abfällig einen Gutmenschen nennen. Was ihm dann widerfuhr, wurde zu einer der Nachrichten, die ein Klima anheizten, welches die AfD in den Bundestag getragen hat und die Regierung um Angela Merkel in die Krise. Ein Klima, in dem die Sprache schärfer und die Thesen unversöhnlicher wurden: Die Migration sollte bald die »Mutter aller Probleme « sein, wie der Bundesinnenminister Horst Seehofer es formulierte. Bergmann hat etwas erlebt, was erst wenige und dann immer mehr Menschen in Deutschland befürchtet haben: Er hat seine Hand ausgestreckt und wurde enttäuscht. Doch statt sich ängstlich, frustriert oder wütend abzuwenden, hat er ganz anders reagiert. Im Transitbereich des Frankfurter Flughafens kauft er sich einen Kaffee und bittet um einen zweiten Becher. Er will Leitungswasser abfüllen, um Geld zu sparen. Dann fliegt er weiter in das Land, über das Karim nie geredet hat, obwohl er aus ihm stammt, und in dem er nun in einem Gefängnis sitzt. Die Geschichte von ihm und Bergmann leuchtet auch eine dunkle Ecke deutscher Sicherheitspolitik aus. Wie wird gegen mutmaßliche Attentäter ermittelt? Und was passiert mit Terrorverdächtigen, nachdem sie in ihre vermeintlich sicheren Herkunftsländer abgeschoben wurden?

Gegen halb elf am Vormittag landet Bergmann in Tunis, schultert seinen Rucksack und versucht nun, Schritt für Schritt, mit diesen absurden zweieinhalb Jahren abzuschließen, die im Oktober 2015 für ihn begannen.

Deutschland verändert sich in jenen Wochen. Zehntausende Menschen kommen über die Grenze, manchmal zu Fuß und in dreck- und salzverkrusteten Kleidern wie in einem Bibelfilm. Noch ist die Stimmung geprägt von Merkels »Wir schaffen das«. An den Bahnhöfen werden Geflüchtete mit »Willkommen«-Schildern empfangen.

Bergmann reichen solche Gesten nicht, er will anpacken. Fünf Fahrradminuten von seiner Wohnung in Schöneberg entfernt liegt der ehemalige Flughafen Tempelhof, in dessen leer stehenden Hangars gerade eine Notunterkunft eingerichtet wird. Bergmann meldet sich als Freiwilliger.

Die ersten drei Tage langweilt er sich in der Kleiderkammer. Dann kauft er zwei Tennisnetze und baut sie auf dem Rollfeld vor den Hangars auf. Tennis, denkt er, ist eine körperlose, wenig aggressive Sportart. Das lenkt sie ab, das bringt sie runter.

Bergmann sieht, wie überreizt viele Geflüchtete sind: von ihren langen, oft gefährlichen Reisen und den Umständen, in denen sie nun leben sollen. Die Hangars sind lang und breit wie Fußballplätze und 15 Meter hoch. Für die Menschen werden darin Zelte aufgestellt und Kabinen aus dünnen Plastikwänden, ohne Dach, in denen sie zu zehnt oder zwölft schlafen. Außer auf den Toiletten gibt es keinen Zentimeter Privatsphäre. Um zu duschen müssen die Geflüchteten mit einem Bus in ein Hallenbad fahren. Auf ein Mittagessen warten sie in den Schlangen manchmal eine Stunde lang. Morgens um sieben geht das Licht für alle an, abends um zehn geht es aus. Und jeden Tag werden mehr Betten aufgebaut. Tempelhof wird bald die größte Notunterkunft Berlins sein, ein Symbol der Krise und der Überforderung, bis zu 3000 Menschen in Flugzeughallen.

Zu Bergmanns Tennisstunden jeden Abend kommen vor allem junge Männer, die ohne ihre Familien nach Europa aufgebrochen sind. Bergmann begrüßt jeden mit klatschendem Handschlag, raucht mit ihnen, verteidigt sie, wenn sie mal Ärger mit den Sicherheitsleuten haben. Chillt mit denen, mit denen niemand chillen will, so sagt er das. Er glaubt an die Kraft von Schlüsselerlebnissen und begegnet den jungen Männern als Freund. Karim ist einer von ihnen. Ein sportlicher Typ mit breitem Gesicht und Ansätzen von Geheimratsecken. Ein junger, arabischer John Travolta.

Auf Bergmann wirkt er besonders mitgenommen. Karim ist laut, impulsiv, manchmal kommt er volltrunken zum Spiel. Aber er lacht auch viel und ist offener als andere. Bergmann und er unterhalten sich auf Französisch. Karim erzählt, er habe die Sprache im Hotel seines Onkels gelernt, wo er manchmal ausgeholfen und einer der Köche Französisch gesprochen habe. Das Hotel sei im Libanon gewesen, er selbst sei aber Syrer und komme aus einem Dorf bei Aleppo. Seine Familie habe sich den Rebellen angeschlossen, der Freien Syrischen Armee, als Assad einen Krieg gegen die eigene Bevölkerung begann. Auch er, Karim, habe gekämpft. Seine beiden Brüder seien in Gefechten gestorben. Der eine habe zwei Tage lang tot auf einer Straße gelegen, die von Heckenschützen belauert wurde. Erst dann hätten sie den Körper bergen können. Der Vater habe ihn, Karim, dann zur Flucht gedrängt.

Karim zeigt Bergmann seinen syrischen Reisepass, Nummer 009753913, in dem als Geburtsdatum der 1.1.1989 steht. In diesem Herbst 2015 wäre Karim demnach 26 Jahre alt.

In den Hangars fällt er nicht nur Bergmann auf. Unter den Geflüchteten geht das Gerücht um, Karim habe eine Affäre mit einer Mitarbeiterin von Tamaja, der Firma, die die Notunterkunft betreibt. Die Geschichte stimmt nicht. Karim und die Mitarbeiterin reden zwar oft miteinander, er schreibt ihr unzählige WhatsApp-Nachrichten, und sie fühlt sich für ihn besonders verantwortlich, aber es ist keine Liebesbeziehung. Die Mitarbeiterin, die wie Bergmann ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will (und heute nicht mehr bei Tamaja beschäftigt ist), hat das Gefühl, jemandem gegenüberzustehen, der keine Schutzmauer mehr hat, dessen Gefühle ungefiltert aus ihm strömen. Karim wirkt auf sie wie ein zerrütteter Junge.

Im Februar 2016, als in den Hangars kaum noch Platz für neue Betten ist und auf dem Rollfeld ein eisiger Wind weht, spitzt sich auch die Lage um Karim zu: Mit Scherben einer Bierflasche ritzt er sich in den Arm und wird für kurze Zeit in die psychiatrische Abteilung eines Krankenhauses eingewiesen. Einige Tage später randaliert er vor den Hangars, schmeißt mit leeren Glasflaschen.

Bergmann spricht immer öfter mit ihm. Will ihn stützen. Sorgt sich. Und als Karim an einem Tag Ende März vor ihm steht und erzählt, dass gerade sein Vater in Syrien verletzt worden sei, ein Bauchschuss, fasst Bergmann einen Entschluss. In Deutschland kippt in jenen Wochen die Stimmung. Seit der Silvesternacht und den Übergriffen in Köln zweifeln viele am »Wir schaffen das« und wundern sich darüber, dass die Täter von Köln vor allem aus Nordafrika stammen und trotzdem als Asylbewerber eingereist sind. Der Massenmord in Paris im Konzerthaus »Bataclan« und an anderen Orten hat zudem die Angst vor islamistischem Terror befeuert: Wer ist da eigentlich zu uns gekommen? Wer lebt nun in unserer Nachbarschaft, in den Sporthallen und Containerdörfern? Und war es ein Fehler, diese Menschen aufzunehmen? Diese Fragen werden in Talkshows und an Abendbrottischen diskutiert. Und während viele Türen zufallen, öffnet Bergmann seine. Er lädt Karim ein, bei ihm zu wohnen.

Um Bergmann in diesem Moment zu verstehen, muss man sein Leben ein Stück zurückspulen. Aufgewachsen ist er in einem bürgerlichen, aber bunten Viertel von Berlin-Steglitz. Seine Schulfreunde hatten Wurzeln in der Türkei oder Thailand. Vor seinem Sportstudium ist er ein Jahr lang um die Welt gereist, Australien, Neuseeland, Indonesien, Brasilien. Manchmal hat er in Hostels übernachtet, öfter bei Einheimischen, die er kennengelernt hatte. Von Chile nach Argentinien ist er getrampt. Im Winter fliegt er regelmäßig nach Marokko, im Sommer nach Portugal, wegen der Wellen. Surfen ist für ihn ein Lebensstil. Überall hat er Freunde, bei denen er schlafen kann. Bergmann spricht Französisch, Spanisch, Portugiesisch, Englisch und ein paar Wörter Arabisch. Er wurde so oft mit offenen Armen empfangen, dass er sich auch gastfreundlich zeigen will.

In seiner Zweizimmerwohnung in einem Altbau zieht Karim ins Wohnzimmer. Für ein paar Tage, zum Erholen, so ist ihr Plan. Gemeldet bleibt er in Tempelhof. Doch dann erreicht Karim die Nachricht, dass sein Vater gestorben sei, so erzählt er es. Bergmann legt an dem Abend Platten auf, sie sprechen über ihre Familien, weinen – und Karim bleibt.

Während Anis Amri in Moscheen betet, die der Verfassungsschutz beobachtet, und in Berliner Parks Drogen verkauft, fährt Karim mit Bergmann und dessen Freunden nach Rügen zum Campen und mit einem Floß auf der Havel. An den Wochenenden gehen sie gemeinsam ins »Prinz Charles«, einen Club in Kreuzberg, auf Hip-Hop-Partys. Bergmann, der tanzen kann wie ein Brasilianer, muss Karim anfangs noch auf die Tanzfläche schieben, weil der zu schüchtern ist. Später lernt Karim hier eine deutsche Architekturstudentin kennen und beginnt eine Affäre mit ihr. »Freundschaft plus« nennt sie das im Gespräch mit dem SZ-Magazin. Auf der Geburtstagsfeier von Bergmanns Mutter steht Karim im Garten und isst Kuchen. Die Fotos aus dieser Zeit wirken wie eine Bebilderung zum Thema gelungene Integration. Karim geht es nun besser, denkt Bergmann. Und auch er genießt die Zeit. Ein Sommer wie ein Rausch, sagt er später. Außer den Sportstunden in Tempelhof, für die er mittlerweile etwas Geld bekommt, gerade so viel, dass er davon leben kann, hat er kaum Pflichten. Er hat auch keine feste Freundin, aber in Karim einen Freund, der nie an morgen zu denken scheint. Warum nicht noch mal vor die Tür? Warum nicht noch mal was erleben? Die beiden nennen sich gegenseitig »frère«, Bruder.

September 2016, noch zwei Monate bis zur Verhaftung. In Deutschland ist in diesem Sommer der Terror angekommen. In einem Zug bei Würzburg attackiert ein junger Mann aus Afghanistan mehrere Menschen mit einer Axt. In Ansbach zündet ein Syrer eine Bombe vor einem Weinlokal und verletzt 15 Menschen. Beide Täter sind Flüchtlinge. Der IS nennt sie »Soldaten«.

Karim telefoniert in diesen Wochen sehr viel – mit seiner Schwester, erzählt er Bergmann, die irgendwo in Griechenland festhänge. Eine Bombe habe ihr Haus in Syrien getroffen, auch die Mutter sei nun tot, die Schwester auf dem Weg nach Deutschland. Bergmann bucht ein Flugticket nach Athen, um ihr zu helfen, doch kurz vor der Abreise meldet Karim, sie habe es nun nach Serbien geschafft.

Bergmann ahnt, dass sein Freund nicht immer die Wahrheit sagt. Einmal behauptet Karim, auf seiner Flucht zwanzig Kilometer weit durchs Mittelmeer geschwommen zu sein. Ein anderes Mal, dass er gerade auf der Straße beobachtet habe, wie einer alten Frau die Handtasche geklaut wurde. Er habe die Diebe verfolgt und gestellt. Es sind Heldengeschichten, denkt Bergmann, von jemandem, der sich klein fühlt. Er forscht ihnen nicht nach, weil er Karim diese Freiheit lassen möchte. An dessen Familiengeschichte zweifelt er nicht. Mit der Schwester telefoniert Bergmann einmal sogar. Ça va – wie geht’s? Ein kurzer Smalltalk. Karim scheint die Flucht der Schwester sehr mitzunehmen. Er schläft nächtelang nicht. In Bergmanns Erinnerung sind es merkwürdige Wochen.

Ich muss dir noch was erzählen, etwas Wichtiges.

An einem Nachmittag ist die Wohnungstür von innen abgeschlossen, als Bergmann nach Hause kommt. Er klopft. Karim öffnet. In der Küche ist das Fenster mit einem Handtuch verhängt. Karim erklärt, er habe gerade Frauenbesuch gehabt, und grinst. An einem Abend spielen sie stundenlang Mensch ärgere dich nicht, reden und rauchen. Irgendwann steht Karim auf, stellt sich vor einen Spiegel, vergisst wohl, dass Bergmann ihn beobachtet, und sagt zu sich selbst: Superman. Und obwohl sich Karim nie an Religion interessiert gezeigt hat, findet Bergmann einen Koran in der Wohnung. Karim erzählt, den habe ein Freund liegen gelassen. Drei Tage vor der Verhaftung, auf einer Halloweenparty im »Soho House«, einem schicken Privatclub in Prenzlauer Berg, stehen Bergmann und Karim auf der Dachterrasse neben dem Pool, betrunken und happy, sie schauen über Berlin, und Karim sagt: »Ich muss dir noch was erzählen, etwas Wichtiges.« Doch da platzt jemand in ihr Gespräch.

2. November 2016. Ihr letzter gemeinsamer Tag beginnt mit einer guten Nachricht. Seine Schwester sei endlich in Berlin, erzählt Karim. Bergmann und er fahren in Bergmanns Bulli durch die Stadt: zum Busbahnhof an der Messe, zum Lageso in Moabit, der zentralen Asylaufnahmestelle, zum Flughafen Tempelhof. Doch sie finden sie nicht. Ihr Handy ist ausgeschaltet. Am Abend gegen halb neun verlassen sie noch einmal Bergmanns Wohnung, weil er gehört hat, dass in Tempelhof gleich ein paar Busse mit Geflüchteten ankommen sollen. Von der Kolonnenstraße biegen sie in die ruhigere Naumannstraße ein. Laternenlicht, Altbauten auf beiden Seiten, parkende Autos. Auch Bergmanns Bulli steht da. Er zieht den Schlüssel aus der Tasche, drückt auf den Knopf, um das Auto zu entriegeln, die Blinker leuchten, und im selben Augenblick rasen zwei Autos die Straße entlang, bremsen, die Türen fliegen auf, und schwarz vermummte Gestalten rennen auf ihn zu. »Halt! Polizei!«

Bergmann rennt weg. Zurück zur Kolonnenstraße, ein paar Verfolger hinter sich. Das kann ja jeder rufen, denkt er. In seinem Stammcafé brennt noch Licht – die werden mir helfen! Er drückt die Tür auf, hastet hinein, erschrockene Blicke. Ein schwarz Vermummter stürmt in den Laden, packt Bergmann, drückt ihn gegen die Wand, hält ihm einen Dienstausweis vors Gesicht. Er gehört zum SEK, dem Sondereinsatzkommando. Bergmann schreit: Was soll das? Was wollt ihr?

In seiner Erinnerung wirft ihn der Polizist dann zu Boden, legt ihm Handschellen an und richtet ihn wieder auf, sodass Bergmann mit dem Rücken an einer Glasvitrine lehnt, in der tagsüber Kuchen gekühlt wird. Durch die Fenster sieht er, wie Blaulicht die Straße erhellt. Vom Aufschlag auf den Boden blutet er an der Stirn. Seine Gedanken rasen und bleiben bei einer Frage stehen: Was ist mit Karim?

Die Ermittlungen gegen seinen Freund hatten erst 13 Tage zuvor begonnen, dieses Bild ergibt sich aus der mehr als tausendseitigen Akte, die einen seltenen Einblick in die deutsche Terrorfahndung gibt.

Am 20. Oktober 2016 hatte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ein Schreiben an das Berliner Landeskriminalamt, kurz LKA, geschickt: Karims Reisepass sei womöglich gefälscht. Am 24. Oktober ordnete das LKA 5, Abteilung Staatsschutz, eine kriminaltechnische Untersuchung des Passes an. Auf dem Antrag steht der Vermerk: »Eilt! Islamismusbezug«.

Karim wurde vom 24. bis zum 30. Oktober von Mitarbeitern des Verfassungsschutzes observiert. Sie fotografierten auch Bergmann, der in dem Bericht als »mP1« bezeichnet wird – das Kürzel steht für »männliche Person« und ist durchnummeriert. Den Ermittlern fiel nichts Verdächtiges auf, sie protokollierten dennoch alles: »16:18H: Die ZP und die mP1 verlassen Saturn und gehen zurück zum Fahrzeug.« ZP bedeutet Zielperson. Zu Karims Verhaftung führte dann insbesondere ein Hinweis des US-Inlandsgeheimdienstes FBI, so steht es in einem Beschluss des Bundesgerichtshofs, der in Terrorverfahren zuständigen Behörde. Ein BGH-Richter ordnet darin an,Karims Wohnung zu durchsuchen. Karim stehe im Verdacht, Mitglied des IS in Syrien gewesen zu sein und in Deutschland eine »schwere staatsgefährdende Gewalttat« vorzubereiten. Die Gründe für diese Vorwürfe werden in dem Beschluss nur wenig konkretisiert: Der Verfassungsschutz habe entsprechende Hinweise, und das FBI kenne einen von Karims Facebook-Accounts, über den er mit einem IS-Mann in Kontakt stehe, der für »externe Operationen« zuständig sei und Karim »die Erlaubnis für die Durchführung eines Selbstmordanschlages« erteilt habe.

Als Bergmann den Beschluss von einem Polizisten gezeigt bekommt, hört er auf, Fragen zu stellen. Er sitzt mittlerweile in einem Polizeibus. Der Ermittler erklärt ihm, dass er nur als Zeuge gelte, nicht als Beschuldigter. Dann führen sie ihn in seine Wohnung, er setzt sich auf sein Sofa und sieht zu, wie sie Schubladen durchwühlen und in Lampenschirme spähen. Die Polizisten nehmen seinen Laptop, mehrere externe Festplatten und USB-Sticks mit. Um 0.41 Uhr verlassen sie seine Wohnung. Bergmann verbringt den Rest der Nacht bei einem Freund, der im selben Haus wohnt. Auf dessen Computer liest er am Morgen die Schlagzeilen: »Berliner LKA nimmt Terrorverdächtigen fest« (Zeit Online). »Es gab Hinweise auf zeitnahen Anschlag!« (BZ). Die Berliner Zeitungschreibt, Karim habe ein Attentat mit einem Messer, einer Axt oder – nach dem Vorbild von Nizza – einem Auto begehen wollen, und beruft sich dabei auf Informationen der Ermittler. Auch der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière äußert sich: »Ich bin sehr froh, dass es gelungen ist, diesen Verdächtigen festnehmen zu lassen.« Thomas de Maizière redet über Karim? Die Nachbarswohnung wird in den folgenden Tagen eine Art Krisenzentrum für Bergmann und seine Freunde, von denen viele ein enges Verhältnis zu Karim hatten. Journalisten klingeln an der Tür, doch sie wollen nicht mit ihnen reden. Stundenlang sitzen sie beisammen, recherchieren, diskutieren. Weil Karims Pflichtverteidiger keine Erfahrungen mit islamistischen Terrorfällen hat, sammeln sie Geld und engagieren einen zweiten Anwalt, einen Spezialisten. Sie glauben nicht, was sie in den Zeitungsberichten über ihren Karim lesen. Die Polizisten müssen ihn verwechselt haben.

Von Karim existiert ein Foto, das ihn mit dichtem Vollbart und einer Kalaschnikow in den Händen zeigt (siehe Titelbild dieser Ausgabe). Er sitzt auf einem Sofa, sein Gesicht wirkt schmal unter dem Bart. Dieses Bild prägt den Eindruck, den die Polizisten von Karim haben, es ist ihr Karim in den Wochen nach seiner Verhaftung, in denen sie weiter gegen ihn ermitteln und er in Untersuchungshaft sitzt.

Das Foto entdeckten LKA-Mitarbeiter auf Karims konfisziertem Smartphone. Es wurde ihm im Juli 2016 über WhatsApp geschickt, von einem Gesprächspartner mit einer türkischen Mobilfunknummer. Karim löschte das Foto, aber die Ermittler haben es wiederhergestellt. Sie wissen nun auch, dass Karim seine deutschen Freunde angelogen hat. Das Interpol-Büro in Tunis hat seine Fingerabdrücke zugeordnet. Karim heißt tatsächlich Charfeddine T. und wurde am 4. Juni 1992 geboren, also rund dreieinhalb Jahre nach seinem erfundenen Geburtsdatum. Er ist Tunesier. Seinen gefälschten Reisepass untersuchen Kriminaltechniker genauer: Einige Seiten darin wurden mit einem Canon-Laserdrucker hergestellt, der wie jeder Laserdrucker eine Art Fingerabdruck hinterlässt. Derselbe Drucker war benutzt worden, um die Pässe von zwei IS-Schläfern anzufertigen, die im September 2016 in Schleswig-Holstein verhaftet wurden.

Verdächtig kommt den Ermittlern auch eine Unterhaltung vor, die Karim über den Messengerdienst Telegram geführt hat. Die französische Nummer, mit der er kommuniziert, war in früheren Terrorermittlungen bereits aufgefallen. Ein hochrangiger IS-Mann in Syrien soll sie benutzt haben, zumindest im Frühjahr 2016, davon geht der französische Inlandsgeheimdienst DGSI aus. Karim chattete mit diesem Telegram-Account im Oktober 2016, kurz vor seiner Verhaftung. Er könne nun nichts mehr machen, schrieb er, außer zu Gott zu beten, der ihm sein »Anliegen« ermöglichen solle. Den Gesprächspartner forderte Karim auf, ihn anzurufen, »sobald ihr eine Entscheidung getroffen habt«. Um welches »Anliegen« es geht, was entschieden werden soll und wer mit »ihr« gemeint ist, bleibt unklar. Die Ermittler gehen »mit hoher Wahrscheinlichkeit « davon aus, dass es sich bei dem Chat um Aktivitäten für den IS handele, heißt es in den Akten. Und sie finden noch andere digitale Gesprächsfetzen von Karim, die sie ähnlich deuten. Aber zweifelsfreie Beweise, dass er tatsächlich einen Anschlag plante, entdecken sie nicht – zumindest tauchen sie nicht in den Dokumenten auf, die dem SZ-Magazin vorliegen (und in denen die Erkenntnisse des FBI nicht weiter erörtert werden). Als ihn die Ermittler in einer Vernehmung auf den Telegram-Chat ansprechen, erklärt Karim, er habe die französische Nummer von einem jungen Mann namens Khaled bekommen, den er auf seiner Reise nach Europa an einer Bushaltestelle kennengelernt habe. Sie hätten sich mal wieder treffen wollen, deshalb das Gespräch über Telegram.

Am Abend, als er festgenommen wurde, schlug Karim in seiner Zelle mehrmals seinen Kopf gegen die Wand, bis ihm seine Bewacher Hand- und Fußfesseln anlegten und einen Helm aufsetzten. In den Vernehmungen einige Wochen später wirkt er gefasst – so klingt es zumindest in den Protokollen: Karim erzählt, er habe Tunesien 2014 wegen »privater Probleme« verlassen und sei über Libyen in die Türkei gereist, um dort als Tagelöhner auf dem Bau zu arbeiten, vor allem im Süden der Türkei, wo er viele syrische Flüchtlinge kennengelernt habe. Gemeinsam mit ihnen habe er den Entschluss gefasst, nach Europa zu gehen, wo er sich als Syrer habe ausgeben wollen, um bessere Chancen auf Asyl zu haben. Er habe dann den syrischen Akzent und viel über das Land gelernt. Karim konnte diesen Akzent tatsächlich so gut imitieren, dass ihn selbst die Syrer, mit denen er in Tempelhof die meiste Zeit verbrachte, für echt hielten. Im Herbst 2015 sei er dann von der Türkei über Griechenland, die Balkanstaaten und Österreich nach Deutschland gereist. Sicher ist, dass er am 26. Oktober 2015 die österreichisch-deutsche Grenze passierte und in Deutschland registriert wurde.

Das Foto mit der Kalaschnikow sei während seiner Zeit in der Türkei entstanden, sagt Karim. Ein Freund habe die Waffe mitgebracht, mit der er sich zum Spaß habe fotografieren lassen.

Seinen Pass habe er auf der Straße gekauft, wie es viele Flüchtlinge tun.

Die Ermittler entdecken noch einen Facebook-Chat, der Karim wiederum in ein anderes Licht setzt. Im Juli und August 2016 unterhält er sich da mit einer Person namens »Asyr Asyr«, die sich wohl in der Türkei aufhält. Karim erzählt, dass »Daesh«, also der IS, ihn am Ende tot oder lebendig wolle. Nur unter großer Anstrengung sei es ihm gelungen, auszureisen. Es gehe wohl das Gerücht um, dass er im Meer ertrunken sei. Dieses Gerücht solle man ruhig aufrechterhalten. Ansonsten würden ihm die »Hurensöhne« Leute vorbeischicken.

War er beim IS und ist desertiert? In seiner Vernehmung tut Karim jenes Gespräch als Witzelei ab. In Syrien sei er nie gewesen.

Auch Bergmann wird in dieser Zeit mehrmals von LKA-Mitarbeitern vernommen. Er erinnert sich gut an die Polizisten: einen kleinen, kräftigen mit Glatze; einen netten, jungen mit Dreitagebart; und einen »Pfiffikus« mit blondierten Haaren. Obwohl er glaubt, dass sie seinem Freund etwas anhängen wollen, wirkt er auf die Ermittler »ruhig« und beantwortet ihre Fragen »bereitwillig« und »glaubwürdig«, wie sie im Protokoll vermerken. Bergmann weiß mittlerweile, dass Karim auch ihn belogen hat. Dass er in Wahrheit Tunesier ist. Diese Lüge trifft ihn, gleichzeitig denkt er: Deutschland lässt Karim halt keine andere Chance. Von den weiteren Ermittlungsergebnissen erfährt er wenig. Als Karim eine Anhörung vor Gericht bevorsteht, schreiben Bergmann und seine Freunde Briefe an den Richter, in denen sie schildern, wie sie Karim erlebt haben: liebevoll und fröhlich. Daneben kleben sie Fotos von gemeinsamen Grillabenden. Der bewaffnete, bärtige und der lachende Karim, der mit seinen Berliner Freunden in der Abendsonne anstößt: Man kann diese Fotos nebeneinanderlegen, aber die Person darauf nicht zusammenbringen.

Januar 2017. Als Bergmann Karim zum ersten Mal wiedersieht, gibt es in Deutschland nur noch ein Thema: Drei Wochen zuvor ist Anis Amri mit einem Lastwagen in einen Berliner Weihnachtsmarkt gerollt, jetzt stehen die Arbeit der Sicherheitsbehörden und die Flüchtlingspolitik der Regierung im Brennpunkt. AfD-Politiker sprechen von »Merkels Toten«. Das ist nun der Umgangston.

In der JVA Berlin-Plötzensee wird Bergmann in einen Raum geführt, der von einer Panzerglasscheibe durchtrennt ist. Auf der anderen Seite geht die Tür auf. Karim und Bergmann schauen einander an – und lachen. So erinnert sich Bergmann an diese Szene.

»Wie geht’s?« »Okay«, sagt Karim.

»Bist du jetzt Tunesier, oder was?« Karim nickt.

»Und deine Schwester?« Karim sagt nichts, senkt den Blick. Bergmann weiß, dass Karim nicht frei sprechen kann. Mehrere Polizisten stehen mit im Raum. Er will seinen Freund unterstützen und aufbauen. Gleichzeitig hatte er auf ein Zeichen gehofft, an dem er erkennen kann, was wahr ist. Einen Satz. Einen Blick. Die Geschichten über die Reise der Schwester und den Tod von Karims Eltern nagen an Bergmann. Warum diese Lügen? Es müssen ja Lügen sein – oder? Und warum bittet Karim jetzt nicht darum, alles zu tun, um ihn hier rauszuholen? Warum schreit er nicht: Die haben den Falschen! Warum sitzt er da so ruhig und plaudert? Das Gefängnis, denkt Bergmann, hat ihn nicht gebrochen. Warum kann er das so gut ab?

Karim nennt Bergmann in dem Gespräch »frère«. Bergmann erwidert »ami« – Freund.

Ein paar Wochen später, bei seinem drittem Besuch, erlebt Bergmann einen anderen Karim, eine gebeugte, bleiche Person. Karim steht vor der Panzerglasscheibe, die Arme daran abgestützt, und erzählt von seiner Familie: von seinem jüngeren Bruder, seiner jüngeren Schwester und seiner Mutter, die nun die Einzigen seien, die ihm noch helfen könnten. Er erklärt nichts, schildert bloß. Dann sagt er noch, dass er Angst habe vor dem, was jetzt komme. Bergmann glaubt ihm. »Du musst stark sein«, sagt er. »Pass auf dich auf. Hör auf dein Herz.« Karim sagt nichts. Der Prozess, auf den beide warten, wird nicht stattfinden. Fünf Tage später, am 8. März 2017, wird Karim nach Tunesien abgeschoben. Während er in U-Haft saß, war sein Asylantrag abgelehnt worden.

Die Bundesanwaltschaft erklärt nicht, warum sie keine Anklage erhoben hat, auch nicht auf Nachfrage des SZ-Magazins. Vielleicht reichten die Indizien nicht, vielleicht war Karims Fall nicht groß, nicht wichtig genug, vielleicht wollte man Prozesskosten sparen.

April 2018, Tunis. Bergmann läuft eine staubige, menschenleere Straße entlang, hinein in Karims Vergangenheit. Weiß gestrichene Mauern rechts und links, an vielen bröckelt der Putz, hinter manchen ragen Zypressen hervor, ein Wohnviertel der unteren Mittelschicht. Die Mittagssonne sticht.

Vor dem Haus, in dem Karim aufwuchs, drei Stockwerke, flaches Dach, bleibt Bergmann stehen wie vor einem Ausstellungsstück. Er will Karim begreifen. Mit ihm reden kann er nicht. Im Gefängnis darf ihn hier nur seine Familie besuchen. Eigentlich hat Bergmann in dem Jahr seit der Abschiebung versucht, sich von Karim zu lösen. Er hat sein Engagement in Tempelhof aufgegeben und ist für einige Monate nach Portugal gereist, um in einem Surfcamp zu arbeiten und selbst eines aufzubauen. Es war eine Flucht in seinen Traum. Jeden Tag der Blick aufs Meer, trotzdem ließ ihn Karim nicht los.

Über Facebook bekamen er und seine Freunde Nachrichten von Karims Bruder. Bergmann antwortete nicht selbst, wollte aber alles erfahren. Der Bruder berichtete, dass Karim seit seiner Rückkehr in Untersuchungshaft sitze, in Mornaguia, dem größten Gefängnis Tunesiens. Seine Zelle teile er mit fünfzig Männern. Während der Verhöre sei er geschlagen und an den Füßen aufgehängt worden. Karims deutsche Anwälte hatten solche Folter befürchtet und deshalb versucht, die Abschiebung zu verhindern, doch anders als gut ein Jahr später im Fall von Sami A., einem mutmaßlichen früheren Leibwächter von Osama bin Laden, lehnte ein Berliner Verwaltungsrichter ihren Antrag ab – so kurzfristig, dass sie die Entscheidung nicht mehr an fechten konnten. Auch Bergmann kannte die Berichte von Amnesty International und Human Rights Watch über die oft menschenunwürdigen Zustände in tunesischen Haftanstalten. Besonders hart treffe es da mutmaßliche Dschihadisten. Bergmann sammelte noch einmal Geld von Freunden und schickte 600 Euro an eine tunesische Anwaltskanzlei, damit Karim gut verteidigt wird.

»Warum musst du dich wieder so einbringen?«, hat seine Mutter ihn nun vor dem Abflug nach Tunis gefragt. »Schau auf dein eigenes Leben.« Bergmann erklärte ihr, dass er die Kultur spüren wolle, in der Karim groß geworden ist. Die Reise fühle sich richtig an. Bergmann ist ein Bauchmensch, seine Mutter weiß das. Am Ende googelten sie gemeinsam tunesische Kochrezepte, und auch die Mutter, die in ihrer Freizeit Flüchtlingen Deutsch beibringt, war nun gespannt auf die Reise ihres Sohnes.

In einer schattigen Ecke vor Karims alter Schule steht ein Lehrer in einer rissigen Lederjacke. Zur Begrüßung legt sich Bergmann die rechte Hand aufs Herz, wie es in arabischen Ländern üblich ist. Auf Französisch fragt er, ob der Lehrer einen Charfeddine T. kenne. Der Lehrer überlegt und hält Rücksprache mit dem Direktor. »Tut mir leid«, sagt er dann. »Wir haben hier 1200 Schüler.« Bergmann geht weiter in das Viertel, in dem Karim das letzte Jahr vor seiner Abreise lebte. Es heißt Dibouzville. Die Straße führt einen Berg hinauf, Schritt für Schritt nähert er sich nun dem Punkt von Karims Geschichte, an dem dessen Leben eine Wendung nahm, die ihn zu Bergmann führen sollte. Die Häuser sind schief, unverputzt, dicht gedrängt und ineinander verschachtelt. Bergmann wird langsamer, bewegt sich vorsichtig wie auf einem zugefrorenen See. Aus der Straße wird eine Gasse, und er bleibt stehen.

War er zu naiv? Hat Karim ihn ausgenutzt? Waren Karims Tränen echt? Hat Karim eine posttraumatische Belastungsstörung? Hat er Menschen getötet? Wie viele? Wie? Ist er psychisch krank? War er ein so guter Schauspieler? Warum wollte er nie Deutsch lernen? Ich muss dir noch was erzählen, etwas Wichtiges – was meinte Karim damit? Wollte er tatsächlich einen Anschlag verüben und vorher noch einmal das Leben genießen? Ist er deshalb so oft feiern gegangen? Oder ließ er von seinen Anschlags plänen ab, weil er ihn, Bergmann, kennengelernt hatte? Hat er Karim aus der Dunkelheit geholt? Auch an diesem Gedanken hält sich Bergmann manchmal fest. Oder war am Ende doch alles nur eine Verwechslung?

Karim könnte so vieles sein: ein Mitläufer, ein Mörder, ein Hochstapler, ein Schläfer. Bergmann glaubt mittlerweile, dass Karim beim IS in Syrien war. Er hofft, dass Karim diese Vergangenheit in Deutschland abschütteln wollte. Damit könnte er umgehen. Aber wenn Karim in seiner Wohnung einen Anschlag plante? »Puh«, schnauft Bergmann, wenn er diesen Gedanken ausspricht.

Seine Fragen trägt er nun schon so lange mit sich herum, aber er glaubt nicht, dass Karims Familie sie beantworten kann. Beantworten will. Er steht in der Gasse und kehrt um.

Karims Mutter wohnt noch immer in diesem Viertel, in einem der schiefen Häuser, das nur aus einem Raum besteht. Im schmalen Hof laufen ein paar Hühner, als das SZ-Magazin sie ohne Bergmann besucht. Sie trägt ein schwarzes Gewand, ein braunes Kopftuch, fünfzig Jahre ist sie alt. Den einen Raum teilt sie mit ihren Eltern. Neben ihr sitzen ihr Sohn, dessen Hände ölverschmiert sind von der Arbeit auf einer Baustelle, und ihre Tochter, die Jeans und T-Shirt trägt und deren schulterlange Haare glänzen. An ihrem Rucksack hängt eine kleine Plüschfigur: Goleo, das deutsche WM-Maskottchen.

Glaubt man der Geschichte, die die Familie erzählt, ist der Vater tatsächlich tot. Allerdings schon seit 18 Jahren. Sein Bruder, Karims Onkel, habe die Mutter und die drei Kinder danach aufgenommen: in dem dreigeschossigen Haus. Vor allem mit der Tante habe es Konflikte gegeben, sodass die Familie im Oktober 2012 erneut umgezogen sei – nach Dibouzville, zu den Eltern der Mutter in dieses eine Zimmer, das sie sich damals zu sechst geteilt hätten. Karim, also Charfeddine, war damals zwanzig Jahre alt, verdiente etwas Geld mit Gelegenheitsjobs, hörte Rap-Musik und träumte von Europa, so schildert es der Bruder. In seinem Leben spiegelte sich demnach die Krise seiner Generation, die sich bei ihm mit der persönlichen Krise verknotete, ohne Vater aufzuwachsen. Und das in einem Land, in dem gerade eine Zeitenwende angebrochen war: der Sturz des Machthabers Ben Ali und seines Regimes. Der Beginn des arabischen Frühlings. Dem Bruder zufolge lief Karim 2011 bei den Protestmärschen im Zentrum von Tunis mit. Aber es sei ihm dabei – so wie vielen jungen Männern aus den ärmeren Vororten – nicht nur um Politik gegangen. Geschäfte wurden geplündert, und Karim habe mitgeklaut: Alkohol, Klamotten bei Zara.

Ein paar Monate später, bei den ersten freien Wahlen, gewann eine islamisch geprägte Partei, die unter Ben Ali verboten gewesen war. Auch Karim, erzählt sein Bruder, habe Ennahda seine Stimme gegeben. Die Partei sprach die Probleme vieler Menschen an – Lebensmittelpreise, Gesundheitsversorgung – und galt als konservativ, aber nicht als radikal. Die neue Freiheit im Land nutzten aber auch Islamisten, in Tunis wehten an manchen Moscheen schwarze Banner von den Minaretten. In Karims neuem Viertel Dibouzville zum Beispiel.

Viele Tunesier reisten in dieser Zeit in den Krieg nach Syrien, 5000 bis 7000 insgesamt, das Land wurde zu einem der bedeutendsten Truppenversorger des IS. War Karim einer dieser Männer? Der Bruder erzählt, dass Karim in ihrem neuen Viertel auf der Straße von einem Mann mit Bart angesprochen worden und mit ihm zum Beten gegangen sei. Nach zwei Monaten habe er aber die Lust daran verloren und wieder getrunken und gefeiert. Die weitere Geschichte, Karims Reise über die Türkei nach Europa, deckt sich dann in etwa mit dem, was Karim den deutschen Ermittlern erzählt hatte.

Am Nachmittag sitzt Bergmann in einem der Cafés an der Avenue Habib Bourguiba, der Prachtstraße von Tunis, trinkt Espresso und wartet auf Karims Anwalt. »Was mir nicht aus dem Kopf geht«, sagt er, »sind die Lügen über den Tod seiner Eltern.« Die Mutter hatte erklärt, dass Karim sie und den Vater wohl sterben ließ, damit in Deutschland niemand mehr nach ihnen fragte. Bergmann überzeugt das nicht. Er denkt, dass Karim ihn manipulieren wollte.

Auf dem Weg zum Café war Bergmann von einem Mann angesprochen worden, so wie es Touristen dauernd auf der Avenue Habib Bourguiba passiert. »Français? English? Deutsch? Ah, Deutsch, was für ein Zufall, ich arbeite für die Deutsche Botschaft. Soll ich dir die Stadt zeigen?« Der Mann wollte natürlich Geld, und Bergmann wimmelte ihn ab. »Diese Fähigkeit«, sagt er nun, »einem ins Gesicht zu lügen, um zu überleben, hatte wohl auch Karim.« Er kenne das aus den Favelas in Brasilien. »Man nennt das streetwise« – ausgebufft, straßenschlau.

Bergmann macht es sich nicht leicht. Er verdammt nie, zieht keine Schlussstriche, sondern sucht immer weiter nach Erklärungen.

Karim, berichtete dann der Anwalt, sei vorletzte Woche zu 14 Jahren Haft verurteilt worden, weil er sich einer Terrororganisation angeschlossen habe und von dieser militärisch trainiert worden sei. 14 Jahre, dann bin ich 53, denkt Bergmann.

»Welche Terrorgruppe?«, fragt er. »Daesh natürlich«, sagt der Anwalt.

In Karims neuem Wohnviertel Dibouzville habe es eine bekannte Islamistenmoschee gegeben. Etliche Männer seien in den Krieg nach Syrien gereist, viele davon seien gestorben. Karims Bruder habe eine der Witwen kennengelernt und sie mit Karim in Kontakt gebracht, als dieser bereits in Deutschland war. Die beiden hätten sich über Facebook geschrieben. Karim habe der Witwe von seiner Zeit in Syrien erzählt, um sie zu trösten, und dabei habe er quasi alles zugegeben. Denn was er und sein Bruder nicht wussten: Die Witwe war von der tunesischen Polizei als Spitzel angeworben worden.

»Das gibt’s doch nicht«, sagt Bergmann. Der Anwalt lächelt, als wolle er sagen: dumm gelaufen. Das Urteil sei aber noch nicht rechtskräftig, die Revision werde im Dezember verhandelt. Am nächsten Morgen, es ist der Tag seines Rückflugs, wacht Bergmann in seinem Hotelzimmer auf. Durch einen Schlitz im Vorhang schneidet Sonnenlicht in den Raum. Bergmann liegt noch im Bett, seine Stimme klingt wie gedimmt, als er von dem Traum erzählt, den er gerade hatte: Er und Karim spazieren durch Kreuzberg, und Karim sagt, man müsse eine Atombombe auf den IS schmeißen. »Diesen Satz hat er tatsächlich ein paar Mal genau so ausgesprochen´«, erzählt Bergmann. »Das ist doch krass.« Er macht eine Pause. »Ich wünsche mir echt, dass Karim nicht so eine verlorene Seele ist. Nicht für mich, sondern für ihn.«

Bergmann sagt, er sei nicht bitter. Seit seiner Rückkehr aus Portugal ist er in Berlin wieder in der Flüchtlingshilfe engagiert. Er organisiert Sportveranstaltungen und Workshops zum Thema »Zukunft und Beruf«. Eine kurdische Familie, die er in Tempelhof kennengelernt hat, lädt ihn regelmäßig zum Essen in ihre neue Wohnung ein. Die Mutter kocht jedes Mal wie für eine Geburtstagsfeier: gefüllte Paprika, Weinblattwickel, Spieße aus Lammhackfleisch. Bergmann nennt sie »Mama«. Ein junger Syrer aus den Hangars, mit dem Bergmann und Karim befreundet waren, studiert mittlerweile und ist mit einer Bekannten von Bergmann zusammen. »Je öfter die Geflüchteten auf coole, entspannte Leute in Deutschland treffen, desto besser verstehen sie doch, was bei uns wichtig ist«, sagt Bergmann. Das ist seine Philosophie. Er will die Tür nicht zumachen, weil das am Ende mehr Ärger bringt. In Deutschland wird in diesen Wochen über »Ankerzentren« und »Transitzentren« diskutiert, in denen Flüchtlinge kaserniert werden sollen. CSU-Politiker werden bald von »Asyltourismus« reden, als stiegen die Menschen zum Spaß in überfüllte Schlauchboote. Italien wird keine Schiffe in seinen Häfen anlegen lassen, auf denen Menschen ausharren, die beinahe ertrunken sind. Zivile Seenotretter werden als Schleuser beschimpft und angeklagt. Durch deutsche Innenstädte werden Neonazis marschieren und sich in der Mehrheit fühlen.

Im Hotelzimmer in Tunis schiebt Bergmann den Vorhang beiseite. »Ich muss auf jeden Fall wieder hierherkommen, um mir das Land in Ruhe anzuschauen«, sagt er. Dann tritt er ins Licht auf den Balkon.