Hausbesuch

Von Bernd Kastner

Täglich schreiben Leserinnen und Leser an die „Süddeutsche Zeitung“. Vor allem die Briefe der Anhänger von Pegida sind voller Wut, oft auch voller Hass. Zeit für ein paar Gespräche

Die Reise ins Pegida-Land beginnt mit der Lektüre älterer E-Mails an die Redaktion. „Der Artikel strotzt nur so von Blödheit“, schreibt eine Leserin. Der Artikel hatte über den Protest gegen ein Asylheim berichtet, Rechtsextremisten waren die Wortführer – und sie fühlte sich angesprochen, „als aufmüpfiges rechtes Pack abgetan“. Dabei sei die „Massenzuwanderung“ schuld, dass München „nicht mehr die ehemals lebens- und liebenswürdige Stadt, sondern von Asylanten besetzt“ sei, schreibt die Frau. Sie nennt, was nicht selbstverständlich ist, ihren Namen samt Anschrift. Jutta Wölk, München, Stadtteil Laim. Gleich nebenan entsteht ein Containerheim für Flüchtlinge. Frau Wölk, darf die Süddeutsche Sie mal besuchen?

Pegida-Land ist kein Ort, nicht Dresden, nicht Sachsen, auch wenn die Bewegung das Image dieser Region prägt. Pegida-Land ist eine Gedankenwelt. Man kennt Pegida als gesichtslosen Block in der Nacht, man liest anonyme Hassbotschaften im Internet. Aber wie ist es bei den Leuten daheim? Bei denen, die mitlaufen und die Diskussionskultur in diesem Land zunehmend prägen?

Ein reizvoller Gesprächspartner wäre auch der Mann, der bei einem Finanzdienstleister arbeitet und in Mails an die Lügenpresse schreibt: „Der Hass, den Ihr hier beklagt, ist nur die Antwort auf die Hass-Religion Islam. Nehmt das endlich mal zur Kenntnis, Ihr Knallchargen von der vierten Gewalt, die Ihr noch nie den Koran gelesen habt! Ich persönlich würde sogar bewaffnete Gewalt gegen den Münchner Moscheeneubau begrüßen.“ Der Mann schreibt so etwas von seinem Firmen-Account aus. Ruft man ihn an, legt er auf.

Jutta Wölk reagiert anders: „Herzlichen Dank für das interessante Angebot.“ Sie staunt, dass ein Journalist mit ihr reden will. „Sie erwartet“, schreibt sie zurück, „eine kritische, manche sagen auch liebenswürdige, alte Dame im 80. Lebensjahr mit viel Freude am Diskutieren politischer Ereignisse.“ Es gibt nur eine Einschränkung. „Nicht Montag und Donnerstag. Da gebe ich Migranten Deutschunterricht.“

Bis zum Treffen ist Zeit für einen Besuch in Dresden. Michael Stürzenberger war es, der eine Gesprächspartnerin empfohlen hat. Für ihn und seine Mitstreiter hat der bayerische Verfassungsschutz eine eigene Extremismus-Kategorie geschaffen, die „Islamfeindlichkeit“. Er trat bei Hogesa auf, dieser Mixtur aus Hooligans und Rechtsradikalen, und schrieb nach den Kölner Übergriffen: „Bei jeder Begegnung mit dunkelhäutigen Mohammedanern sitzt die Angst im Nacken, im nächsten Moment besprungen zu werden. Es wäre nur mehr als gerecht, wenn Merkel die bittere Medizin selbst kosten müsste, die sie den Frauen dieses Landes indirekt verabreicht hat.“ Es folgt eine Zeichnung, die Merkel in den Händen von Männern zeigt, dazu die Sprechblase: „Ficki ficki Mama Merkel.“

Stürzenberger also hat Frau Oberland empfohlen. Sie kennen sich, weil die Dresdnerin für ihn in München Unterschriften gesammelt hat gegen das dortige Moschee-Projekt. Frau Oberland ist 68, hat nach der Wende im Finanzamt gearbeitet und berichtet am Telefon, dass sie seit dem zweiten „Spaziergang“ mitlaufe.

Vier Freunde sitzen dann in ihrem Wohnzimmer, ihr Mann ist auch dabei, Frau Oberland serviert Sächsische Eierschecke. In der Schrankwand stehen viele Bücher, Meyers Lexikon in neun Bänden ist abgegriffen, darunter Tucholsky und Kisch. Auf dem Boden liegt ein Stapel der Sächsischen Zeitung. In Wahrheit heißen sie und ihr Mann anders, aber ihnen ist ein Pseudonym wichtig, man wisse ja nie bei der Presse. Paul Oberland, Jahrgang vierundvierzig und promovierter Diplom-Ingenieur, sagt: „Ein Jahr laufen wir jetzt im Kreis. Es hat sich in der Politik immer verschlechtert. Es wird nicht gehört auf uns.“

Den Oberlands gegenüber sitzen Tilo Bretschneider, 49, Inhaber einer Autowerkstatt im Erzgebirge, und Frank Geißler, 72, Rentner aus Dresden, früher Maschinenschlosser. Montagabends trägt er einen Teleskopstab mit sich, als Fahnenhalter. Auf seinem Deutschlandtuch sind Aufkleber, „Heimatliebe ist kein Verbrechen“, steht da etwa, ein Spruch der „Identitären Bewegung“. „Das sind die Vordenker für uns“, sagt Geißler. Dass diese „Vordenker“ sehr weit rechts stehen, habe er nicht gewusst. Der Verfassungsschutz-Präsident Hans-Georg Maaßen hat die Identitären schon vor Jahren als virtuelle Erscheinungsform des Rechtsextremismus bezeichnet. Inzwischen gehen sie regelmäßig auf die Straße, der Bremer Verfassungsschutz hält sie für eine „neue Aktions- und Organisationsform der neonazistischen Szene“. Sie fordern die „Festung Europa“ und mobilisieren ihre Anhänger so: „Lasst Euch nicht demütigen. Trainiert und wappnet Euch, um Eure Lieben zu schützen, wenn es darauf ankommt. Wehrt Euch, es ist Euer Land!“ Der Kontext lässt keinen Zweifel, wer der Gegner ist: Muslime, Flüchtlinge.

Scheu vor der Lügenpresse hat keiner in der Runde, alles muss raus. Geißler zählt große Namen aus dem Westen auf, Adenauer, Erhard, Strauß, ja, der Strauß: „Wenn der noch leben würde.“ Aber sie haben ja Lutz Bachmann, den Vater von Pegida, der Asylbewerber als „Viehzeug“, „Dreckspack“ und „Gelumpe“ bezeichnet hat. „Jetzt ist er eine Person der Weltöffentlichkeit“, sagt Bretschneider. Sie schätzen es, dass ihr Anführer so offen mit seiner kriminellen Vergangenheit umgeht: Einbrüche und andere Taten hatten ihm eine Gefängnisstrafe eingebracht, er floh nach Südafrika. Christine Oberland verrät, was sie Bachmann mal ganz persönlich gesagt habe: „Bei Ihnen stimmt einfach alles.“

Die vier Freunde sind überzeugt, Bescheid zu wissen. Täglich lese sie den Internetblog „Politically Incorrect“, sagt Frau Oberland. Glauben Sie denn, was auf PI steht? Frank Geißler antwortet: „Das ist zu hundert Prozent glaubhaft.“ Auf PI schreiben Islamhasser für Islamhasser. Stürzenberger alias „Byzanz“ ist einer der Stammautoren, der Verfassungsschutz hält die Münchner PI-Gruppe für extremistisch. Am Tag des Treffens bei den Oberlands schreibt ein anderer PI-Autor: „Deutsche Bürger lassen sich ausrauben, vergewaltigen und unterjochen. Und die Politiker fördern, die Medien verschleiern und die Kirchen bekreuzigen dies.“ Noch extremer sind viele der Kommentare der anonymen User. Dort findet etwa Frauke Petry, die AfD-Chefin, mit ihrer Forderung, an der Grenze notfalls auf Flüchtlinge zu schießen, viele Unterstützer: „Wir sollten keine Scheu davor haben, das auszusprechen, was wahr, selbstverständlich und vernünftig ist“, steht da, oder: „Grenzsicherung mit Schusswaffen? Mit was denn sonst?“

Schießen auf Flüchtlinge: Ja, sagt Frank Geißler, aber nur zur Abschreckung, in die Luft, nicht mehr. Herr Oberland tut sich etwas schwerer. Eigentlich nein, keine Schusswaffe. Was aber, überlegt er, „bei einer Gefährdung durch Massen“? Am Ende sagt er: „Nein, das geht nicht.“

Einer am Tisch empört sich: Wenn ein Muslim stirbt, der mit vier Frauen verheiratet war, kriegen alle vier Witwenrente, so weit ist es gekommen in Deutschland! Viermal Witwenrente? Ja, heißt es bei der Rentenversicherung Bund, unter bestimmten Voraussetzungen bekämen alle vier Frauen Hinterbliebenenrente. Aber nur den regulären Betrag, der dann gerecht geteilt werde. Nicht der Staat zahlt mehr, sondern jede Frau bekommt weniger.

Nächste Empörung: Überall sitzen die Parteien drin, im Fernsehen, in der Presse, die Sächsische Zeitung gehöre dem Verlag Gruner und Jahr, und der zu 51 Prozent der SPD. Stimmt das? Der SPD gehört nichts an Gruner und Jahr, der 60 Prozent der Sächsischen Zeitung hält. Die restlichen 40 Prozent hat die Deutsche Druck- und Verlagsgesellschaft, ein SPD-Unternehmen. Auf der Internetseite des Zeitungsverlags steht nur Gruner und Jahr.

Noch ein Aufreger: Der Staat zahle den Flüchtlingen ihre Handygebühren, ein Unding! Dazu erklärt das sächsische Innenministerium: Im Asylverfahren erhält jeder Leistungen gemäß Asylbewerberleistungsgesetz, inklusive Taschengeld, etwa 140 Euro bekommt ein Alleinstehender. Dieses Geld kann der Asylbewerber ausgeben, wie er will. Da das Handy für viele das wichtigste Kommunikationsmittel mit der Heimat ist, geben viele dafür recht viel aus.

Wo also liegen die Grenzen zwischen Halbwahrheit und Unwahrheit? Wann ist ein Fehler Versehen, wann ist er Absicht? Die Pegida-Welt prägen viele Gerüchte, die Flüchtlingen die Ausbeutung Deutschlands und Kriminalität aller Art nachsagen. Solche Gerüchte sind langlebig und vergiften das Klima. Da hilft es wenig, dass die Polizei regelmäßig falsche Horrormeldungen einzufangen versucht oder die Tiere eines Streichelzoos sehr munter sind. Das Gerücht sagt, dass Flüchtlinge diese Tiere gegessen hätten. Und was das Gerücht sagt, das hat Gewicht. Ein Graus ist den Freunden auch der deutsche Westen, sie erzählen von den schlimmen Zuständen in Frankfurt am Main, Essen und München. Überall „Allahu-Akbar-Schreier“. Kennen Sie München, Herr Geißler? „Meine Verwandtschaft wohnt dort!“ Die sei entsetzt gewesen von der Sorglosigkeit des Besuchs aus Dresden. Sie mussten abends zurück ins Hotel im Arabellapark und nahmen die U-Bahn. „Seid ihr lebensmüde? Kein Münchner fährt um diese Uhrzeit mit der U-Bahn bis zu dieser Endstation.“ Das ist großer Quatsch. Aber so wirkt München durch die Pegida-Brille. Die Stadt, die die Polizei als die sicherste deutsche Großstadt preist, obwohl sie zu denen mit dem höchsten Migrantenanteil gehört – weit vor Berlin.

Frau Oberland nimmt beim Reden gerne die Hände zu Hilfe, was ihren Mann in Gefahr bringt. Er greift nach ihrem Arm, um keine abzukriegen. „Wir haben eine andere Sensorik“, sagt Tilo Bretschneider. Wer in der DDR aufgewachsen ist, achte viel mehr auf Zwischentöne als die Westler. „Man erkennt zwischen den Zeilen mehr, als im Text steht.“ Zwischen den Zeilen gedeiht das Misstrauen. Sorgen machen nicht nur die Fremden, sondern auch die eigenen Kinder. Tilo Bretschneider hat vier, ein Junge ist 16, und der bekomme im Unterricht die Welt ganz anders erklärt als zu Hause, was den Vater an seine Schulzeit in der DDR erinnert. „In eurem Leben wird man immer versuchen, euch zu verarschen“, erkläre er daheim. So pflanzt sich Misstrauen fort.

Frank Geißlers Tochter ist längst erwachsen, sie hat die Pflegedienst-Firma der Mutter übernommen. „Die armen Flüchtlinge!“ Solche Sachen höre er immer wieder von ihr. „Du hast zwei Kinder, zuerst kommen unsere Kinder“, entgegne er dann. Irgendwie scheint ihm seine Tochter peinlich zu sein: „Sie hat so eine Empathie. Ich weiß nicht, wo die herkommt.“ Nur mit Mainz könne er sich das erklären, mit dieser christlichen Einrichtung dort, wo die Tochter studiert habe. Das sagt ausgerechnet einer, der mit seiner Deutschlandfahne fürs christliche Abendland kämpfen will.

Vor Kurzem kam an der TU Dresden eine Studie heraus, angefertigt von Politikwissenschaftlern des Lehrstuhls von Hans Vorländer, die sich als Heimatforscher der besonderen Art betätigen: Eine „Empörungsbewegung“ mit starken Aversionen gegen die politischen und medialen Macher sei Pegida. Es ist, als wären die vier Freunde vom Kaffeetisch eben diesem Buch entstiegen. Die Pegida-Patrioten, heißt es in der Studie, charakterisiere sächsischer Chauvinismus, mit dem sie Fremdes abwerteten. Das Etikett „rechtsextrem“ passe nicht, Pegida operiere aber mit nationalistischen Parolen und befördere die fremdenfeindliche Stimmung, ja, auch Übergriffe auf Asylheime. Fremdenfeindlich? Frank Geißler ärgert sich: „Das ist pauschalisierend.“

Dabei prägt bei Pegida daheim der bestimmte Artikel das Gespräch: Der Islam. Die Muslime. Die Politiker. Die Medien. Ist das nicht pauschalisierend? „Um ein Problem zu erfassen“, sagt Tilo Bretschneider, „muss man es vereinfachen.“ Wie hat Karl Valentin, der auch ins Bücherregal der Oberlands einsortiert ist, gesagt: „Jedes Ding hat drei Seiten, eine positive, eine negative und eine komische.“

Die Oberlands haben einen Sohn, 35 ist der jetzt und macht ihnen viel Freude. Er hat studiert und ist in der Welt herumgekommen. Tags darauf, in der Mittagspause beim Schweinebraten, landet das Gespräch mit ihm bei der Diskussionskultur. Eine „Brandmauer“ haben die TU-Forscher ausgemacht, gezogen von den etablierten Parteien: Bloß keinen Kontakt zu Pegida und Co. Wäre es nicht gut, Herr Oberland, diese Mauer einzureißen, mehr miteinander zu streiten? Nein! Er habe keinen Bedarf, nicht mit diesen Politikern, nicht mit den „gleichen Fressen, die uns Tag und Nacht zulügen“. Er meint Merkel und die anderen. „Wir haben genug darüber gesprochen, es muss entschieden werden.“ Dann muss er wieder an die Arbeit.

Wie hatte Jutta Wölk sich vorgestellt? Als liebenswürdige Dame mit viel Freude am Diskutieren. Auf ihrem Esstisch liegen Deutsch- und Mathebücher, hier sitze sie immer mit ihren Schülern. Aber nun geht es nicht um Mathe oder Deutsch, sondern ums Große und Grobe. Frau Wölk, 79, aufgewachsen in der DDR, kurz vor dem Mauerbau geflohen, ist in Stimmung. Sie hat Zeitungsartikel aus dem Internet ausgedruckt und mit gelbem Leuchtstift markiert: „Was darf man in Deutschland sagen – und was nicht?“, fragt eine Überschrift.

Das Wohnzimmer ist stilvoll eingerichtet. Die Bücher stehen hier in einem Vitrinenschrank, ein weißer, gefalteter Zettel fällt hinter der Scheibe auf. Er ist vor die Bücher drapiert, wie sonst das Foto der Liebsten. Drei Kinder hat Frau Wölk und sieben Enkel, sie kommen oft vorbei. „Die wollen schon gar nicht mehr hören, wenn ich kritisch bin.“ Auch in der Familie fühle sie sich in die ganz rechte Ecke gestellt. Der Vorwurf sei „ganz, ganz entsetzlich“. Sie habe den Krieg doch erlebt, habe ihre Eltern verloren und wisse, was Schmerz bedeute. Nicht, dass sie bei Pegida mitlaufe, aber sie ist zornig, die Medien, sagt sie, würden Pegida pauschal als rechtsextrem hinstellen. „Unsere Regierung möchte nicht, dass wir irgendwas gegen Flüchtlinge sagen.“

Stunden verbringe sie jeden Tag im Internet, lese hier, lese dort, auf dem Tisch liegen Texte von Focus und Welt, von Jüdischer Allgemeine und Süddeutscher Zeitung. Die SZ sei auch Teil des Schweigekartells, das Anweisungen der Politik befolge. Wie, Frau Wölk, stellen Sie sich das vor? „Da ruft der Seehofer an, die Frau Merkel, und sagt: Das wird nicht gedruckt. So einfach.“ So einfach? „Ich bin überzeugt, dass es so läuft.“ Tatsächlich? „Wie soll ich Ihnen das erklären? Natürlich rufen die nicht selbst an, sie lassen anrufen.“ Woher wissen Sie das? „Natürlich habe ich keinen Beleg dafür.“ Warum dann dieser Vorwurf? „Mir gefällt einfach die Haltung der SZ zur Flüchtlingspolitik nicht.“

Frau Wölks Lippen beginnen zu zittern. „Parallelgesellschaft“, ruft sie, „warum kann man das nicht einfach schreiben?“ Warum sind auf den Fotos in den Medien so oft Flüchtlingsfamilien, so oft Kinder? Es seien doch viel mehr alleinstehende Männer gekommen. Jetzt beben die Lippen. „Wo bleibt das Konzept von Frau Merkel?“ Und dann dieser Krieg in Syrien: Die Politiker sollten keine Waffen mehr liefern und sich endlich an einen Tisch setzen, aber: „Wir verdienen dran! An allem wird verdient! Und am Krieg besonders viel.“

„Ich glaube, ich bin eine Pazifistin“, sagt Jutta Wölk. „Ein bisschen links und ein bisschen CSU.“ Bisher habe sie immer SPD gewählt. Und jetzt? „AfD.“ Auch sie bringt die Forderung Petrys, als Ultima Ratio an der Grenze auf Flüchtlinge zu schießen, ins Schleudern: Das sei von den Medien aus dem Kontext gerissen. Stimmt nicht, Frau Petry hat das autorisiert. Lange denkt Frau Wölk laut nach. Kommt vom Ja zum Nein, zum Schuss auf die Beine. „Ich habe dazu keine Meinung“, sagt die sonst so meinungsstarke Dame.

Es ist, als spiegle sich im Gesicht dieser Frau ganz Deutschland. So zerrissen, so verwirrend, so widersprüchlich. Seit sie, die in jungen Jahren Pädagogik studiert hat, in Rente ist, gibt sie ehrenamtlich Nachhilfe, zweimal die Woche für Kinder aus der Nachbarschaft, sie haben Wurzeln in der Türkei und in Kosovo. „Kinder brauchen Hilfe“, sagt sie, steht auf, schiebt die Vitrinenscheibe zur Seite und nimmt das gefaltete Papier. Es ist ein Brief, sie hat ihn zu Weihnachten bekommen. „Danke, dass wir zu jeder Gelegenheit hochkommen können und Sie uns so viel beibringen“, steht da in akkurater Schülerschrift. „Wir sind froh, dass es Sie gibt, und Sie sind und bleiben die beste Lehrerin, die wir jemals hatten und haben werden.“ Jutta Wölk ist aufgetaucht aus ihrer Wutwelt, es spricht jetzt eine Oma. Vor vielen Jahren, da seien zwei Geschwister zu ihr gekommen, Bub und Mädchen, die Hoffnung sei gering gewesen, dass aus ihnen noch was wird. „Und ich hab gesagt: Wir schaffen das!“

Frau Wölk verwendet die Merkel-Worte. Sie kämpft mit den Tränen. „Wir haben es geschafft.“ Das Mädchen sei heute eine junge Frau, sie arbeitet als medizinisch-technische Angestellte, und vor Kurzem habe sie angerufen: „Frau Wölk, danke.“

Ein paar Hundert Meter von ihrer Wohnung entfernt wird bald ein kleines Containerdorf für Flüchtlinge eröffnen. Sie hatte fest vor, da mal reinzugehen und zu sagen, dass sie gerne ein paar Leuten Deutsch unterrichte. Ja, das wollte sie tun, vor Köln. Jetzt aber ist nach Köln, „jetzt hab ich Angst“. Ist das nicht dieselbe Pauschalisierung, die Sie umgekehrt beklagen? „Natürlich“, sagt Frau Wölk. „Aber Gefühle lassen sich nicht so einfach beseitigen.“

Je länger das Gespräch dauert, desto mehr pendelt es sich ein, die Lippen beben nicht mehr. Jutta Wölk erzählt von ihren Reisen, Philippinen, Madagaskar, Russland, Costa Rica, Serengeti, China, und und und. „Ich bin nicht fremdenfeindlich“, sagt sie, „aber ich bin skeptisch geworden.“ Wegen Köln. Auf dem Weg zur Wohnungstür kommt man am Sofa vorbei, auf ihm liegt ein Stapel der Süddeutschen. Haben Sie die abonniert? Frau Wölk wundert sich über diese Frage. „Selbstverständlich.“