Brüssel, 22. März 2016

Von Amrai Coen und Tanja Stelzer

Drei Bomben. 35 Tote. 340 Verletzte. Gibt es ein Leben nach dem Terror?

Es ist Freitagnachmittag, die gläubigen Muslime der Stadt sind vom Gebet zurück, die gläubigen Juden treffen die letzten Vorbereitungen für den Sabbat. Auch Walter Benjamin, Jude, aber nicht gläubig, ist vorbereitet. Er hat dabei:

das Antibiotikum,

das Mittel gegen die Phantomschmerzen,

die Tabletten gegen die Angst,

die Thrombosespritzen,

das Pflaster gegen den Grundschmerz,

die Kapseln gegen den Akutschmerz.

Die Medikamente stecken in drei Papiertüten, »Freitag«, »Samstag«, »Sonntag«. Walter Benjamin ist guter Dinge. Noch 26 Treppenstufen bis zum Wochenende.

Am besten, riet die Krankenschwester, nimmst du eine von den Akutkapseln, bevor du raufgehst.

Walter Benjamin, 47 Jahre alt, bis zum 22. März dieses Jahres, 7.58 Uhr, Chef einer Partnervermittlungsagentur, seitdem Attentatsopfer auf der Suche nach einer Zukunft für sich und die Welt, hat Heimaturlaub. Jetzt, an diesem Freitag im Mai, darf er für zwei Tage sein Zimmer im Krankenhaus gegen seine Wohnung im Brüsseler Stadtteil Ixelles tauschen. Ein Jugendstil-Altbau, im ersten Stock: vier Zimmer, zwei Erker, ein Hund. Seit zwei Monaten hat Walter Benjamin nur noch ein Bein, das linke, und das ist, sechsfach gebrochen, in ein Metallgestell eingespannt. Rechts trägt er seit zwei Tagen eine Prothese.

Die Ärzte sagen, er muss ausziehen aus seiner Wohnung. Walter Benjamin sagt, die kennen Walter Benjamin nicht. Ihn, der seit der Explosion eine noch viel größere Aufgabe hat als jene, die 26 Stufen zu bewältigen.

Es sind zwei Freunde da, um ihn aufzufangen, falls er fällt. Walter Benjamin stemmt sich mit der Krücke aus dem Rollstuhl hoch und wankt die Treppe hinauf, das Prothesenbein, eine Schiene aus Stahl, ist auf einmal aus Gummi, und Walter Benjamin, eben noch ein kräftiger Mann, hat sich in eine viel zu schwere Marionette verwandelt, die jede Sekunde zu Boden sinken muss. Auf Stufe 19 strauchelt er, die Freunde halten ihn. Sie halten ihn noch einmal auf Stufe 21. Stufe 25 ist schräg angeschnitten. Er setzt die Krücke ab und findet auf Stufe 25 keinen Platz für das Prothesenbein. Er hat vergessen, die scheiß Schmerzkapsel zu nehmen, denkt Walter Benjamin, aber da liegt er schon.

340 Menschen wurden bei den Brüsseler Anschlägen am 22. März verletzt, 35 getötet, davon drei Attentäter. Viel ist geschrieben worden über die Terroristen Ibrahim und Khalid El Bakraoui, Mohamed Abrini und Najim Laachraoui. Nach den Anschlägen wurde ein Netz sichtbar, das der »Islamische Staat« zwischen Rakka in Syrien, Paris und Brüssel gesponnen hatte, auch nach Deutschland führen einige Fäden. Es gibt aber noch ein zweites Netz, über das bisher wenig geschrieben wurde. Das Netz, das die Opfer miteinander verbindet.

Walter Benjamin, der gerade den aufrechten Gang neu lernt, bildet eine Schmerzensgemeinschaft mit Menschen in den USA, in Liberia, China, Japan, Ecuador, Polen, Deutschland. Mit Frommen und Atheisten, Armen und Reichen. Walter Benjamin, benannt nach seinem Großvater, nicht nach dem berühmten Philosophen, ist aus Zufall und ohne dass er sich dazu entschlossen hätte, verbunden mit den Angehörigen des Software-Ingenieurs Raghavendran Ganesan, die am anderen Ende der Welt leben, in Chennai, Indien. Er ist verbunden mit dem Witwer und den drei Kindern der muslimischen Lehrerin Loubna Lafquiri, die am anderen Ende der Stadt leben. Walter Benjamin ist verbunden mit den Eltern von Sascha und Alexander Pinczowski, zwei Geschwistern, die zwischen Maastricht und New York pendelten. Alles Menschen, denen sich die für unser Jahrzehnt existenziellen Fragen brutal konkret stellen: Wie kann man nach dem Terror weiterleben? Wie kann man mit ihm leben? Wie geht das, »die Terroristen nicht gewinnen lassen«, wie alle reflexhaft fordern, sobald wieder einmal etwas passiert ist?

Man kann als westlicher Bürger ein halbes Jahr nach dem 13. November zu einem EM-Spiel ins Stade de France in Paris gehen. Man kann in Orlando demonstrativ in einem Schwulenclub tanzen. Man kann in Brüssel, wo tagtäglich EU-Beamte, Diplomaten und Politiker ein- und ausfliegen, weiter einen globalen Lebensstil pflegen. Man kann in der Türkei Urlaub machen, auch nach dem jüngsten Anschlag am Atatürk-Flughafen in Istanbul. Aber es wird sich nicht anfühlen, als würde man »einfach weitermachen wie bisher«, sondern, unterschwellig zumindest, wie eine gesellschaftliche Pflicht. Andere ahnen es erst. Diejenigen, die zum Netz der Opfer gehören, wissen es: »Einfach weitermachen wie bisher« ist weder klug noch möglich.

Die chirurgisch-orthopädische Station des Universitätskrankenhauses Jette, Brüssel, ein Tag im Mai. Gerade hat die Besuchszeit begonnen. In Walter Benjamins Zimmer drängeln sich schon seine Mutter, ein Freund, den er seit 20 Jahren nicht gesehen hat, und zwei frühere Schulkameraden. Die Tür steht offen, es lohnt sich nicht, sie zu schließen. Weitere Besucher werden kommen, und für jeden werden die Pfleger geduldig einen neuen Stuhl hereintragen.

Zwei Tage nach dem Attentat beginnt Walter Benjamin, auf Facebook über sein Leben im Krankenhaus zu schreiben, erst nur für Freunde, um ihnen zu sagen, dass er noch lebt. Für Helfer, Ärzte, Krankenschwestern, um ihnen zu danken. Dann für ein größeres Publikum. Das Fernsehen wird auf ihn aufmerksam. In seinem Krankenzimmer gibt er dem Sender RTL ein Interview. Er sagt, dass 99,99 Prozent der Muslime fabelhafte Leute seien.

Am 28. März, sechs Tage nach dem Attentat, schreibt Walter Benjamin auf Facebook:

»Ich lese im Internet, dass manche denken, ich hätte 99 Prozent meiner Neuronen verloren.«

Am 29. März, eine Woche nach dem Attentat, bringen die Pfleger Stühle für das belgische Königspaar.

Am 31. März, neun Tage nach dem Attentat, klopft ein Mann schüchtern an die Tür. Es ist Hassan Elouafi, den Walter Benjamin zuletzt am Flughafen sah und der ihn in der Universitätsklinik ausfindig gemacht hat. Von nun an wird er drei-, viermal die Woche zu Besuch kommen.

Auch heute, an diesem Tag im Mai, quetscht er sich zu der Mutter und den anderen Besuchern ins Zimmer. Sofort beginnt Walter Benjamin, seinen alten Freunden von Hassan Elouafis Heldentat zu berichten. Er hat diese Geschichte schon Hunderte Male erzählt, aber auch dieses Mal wird er seinen Retter wieder nach einigen Details fragen, um die Lücken in seiner Erinnerung zu füllen. Es ist, als erobere er sich seine eigene Biografie zurück.

Walter Benjamin wollte nach Tel Aviv fliegen, zu seiner Tochter, die dort bei seiner Ex-Frau lebt. »Ich stand am Check-in-Schalter gegenüber von Starbucks«, sagt er, »da hörte ich einen Knall. Ich dachte, es wäre ein Böller, und fragte mich, wer so doof ist, mitten am Flughafen mit einem Böller rumzuknallen. Dann sah ich eine Feuerkugel ein paar Meter von mir entfernt.«

Als in der Abfertigungshalle alle Menschen, die noch rennen konnten, rannten – um nach draußen zu fliehen, um sich im Gepäckverladeraum zu verstecken oder hinter dem Vorhang eines Fotoautomaten –, da sah der Flughafentechniker Hassan Elouafi, ein 41 Jahre alter Belgier mit marokkanischen Wurzeln, Muslim, verheirateter Vater von vier Kindern, dass sich zwischen all dem Staub und den Trümmern, zwischen den Leichen und den herumliegenden Körperteilen etwas bewegte. Hassan Elouafi stieg über die Toten und kam etwa gleichzeitig mit einem Soldaten bei Walter Benjamin an: Das rechte Bein war weggesprengt, aus dem Stumpf schoss Blut. Der Soldat legte einen Druckverband an. Hassan Elouafi fragte den Schwerverletzten: »Wollen Sie jemanden anrufen?« Walter Benjamin sagte die einzige Nummer, die er auswendig kann. In das Handy, ans Ohr gehalten von seinem Helfer, sprach er hinein: »Mama, sei einmal im Leben still, das ist jetzt wichtig. Ich bin am Flughafen. Es gab eine Explosion, ich bin verletzt worden. Vielleicht werde ich sterben.« Sie solle in Israel anrufen, bei der Familie.

Die Mutter, im Krankenzimmer zusammengesackt auf dem Stuhl, sagt: »Ich bin verrückt geworden vor Angst.«

Hassan Elouafi flüstert: »Der Mann neben Walter hatte keinen Kopf mehr.«

Es ist der 22. März, halb neun am Morgen, am Flughafen Zaventem hält der Muslim Hassan Elouafi den Juden Walter Benjamin wach, als Raghavendran Ganesan in seiner Brüsseler Wohnung sitzt. Wie jeden Morgen öffnet er das Computerprogramm Skype, um die 8000 Kilometer in seine indische Heimat zu überbrücken und seine Mutter und seine Frau anzurufen.

Sie reden über die Hitzewelle in Indien, und er fragt, wie es seinem Jungen geht, Arjun, erst sechs Wochen alt, die letzten Tage hat er ein wenig gekränkelt. Wieder gesund, sagt die Mutter, aber komm bald, er braucht seinen Vater. In zwei Monaten bin ich zurück und bleibe für immer, sagt er und legt auf.

Raghavendran Ganesan ist 30 Jahre alt und schlauer als die meisten Menschen, ein Programmierer, der von seinen Kollegen »Genie« genannt wird. Ein schlanker, langer Mann mit freundlichem Gesicht, Seitenscheitel und Brille. Vor vier Jahren kam er nach Brüssel, um für den größten Mobilfunkanbieter des Landes zu arbeiten. Er hat hier in Belgien viel Geld verdient und sich in Indien eine Wohnung gekauft, in einem neuen Hochhauskomplex, fernab von den überfüllten, schmutzigen Straßen der Stadt, in einer Gated Community. Die Globalisierung, sie hat ihm den sozialen Aufstieg ermöglicht. In wenigen Wochen will er dort einziehen: mit seinem Sohn, seiner Frau und seinen Eltern. Den Flug in seine Zukunft hat er schon gebucht, ein One-Way-Ticket.

Raghavendran Ganesan ist ein pünktlicher Mensch, jeden Tag um kurz vor neun verlässt er das Haus, um die U-Bahn zur Arbeit zu nehmen. Von der Station Merode sind es mit der Metrolinie 5 vier Stationen bis zu seiner Arbeit. Er steigt an diesem Morgen in den zweiten Waggon, jenen, in den zwei Stopps zuvor auch Khalid El Bakraoui gestiegen ist. Die Metro hält bei der Station Schuman und dann in Maelbeek. Um 9.11 Uhr sprengt Khalid El Bakraoui sich in die Luft.

Im indischen Chennai sitzt die Mutter des Getöteten, vergräbt ihr Gesicht in den Händen und ruft: »Fünf Minuten! Hätte ich doch nur fünf Minuten länger mit meinem Sohn gesprochen! Ich hätte sein Leben gerettet.« Sechs Wochen sind vergangen, seit der Terror auch ihren Alltag zerstörte. Sechs Wochen, in denen sie sich in Hätte-wäre-könnte-Spiralen verfängt. Sie sitzt auf dem nackten Boden ihres bescheidenen Hauses aus Beton, an den Wänden hängen Bilder von Hindu-Göttern, ein Ventilator weht die Hitze durch den Raum. Von draußen dringt eine Kakophonie aus Hupen und knatternden Rikscha-Motoren ins Haus.

An ihrer Seite sitzt die trauernde Familie: der Vater, der früher Angestellter bei einem Logistikunternehmen war und vor ein paar Monaten in Rente gegangen ist. Der kleine Bruder, der in Paderborn Elektrotechnik studiert und nun angereist ist, um der Familie zu helfen. Und die Ehefrau Vaishali, Witwe mit 26, eine indische Schönheit mit riesigen braunen Augen, aus denen Tränen fallen. In ihren Armen hält sie das schlafende Baby, eine ständige Erinnerung an das Hätte-Leben.

Raghavendran war der einzige Verdiener der sechsköpfigen Familie, er hatte seinen Eltern gesagt, er werde sie nun, da sie alt sind, versorgen. Auch deshalb schien den Ganesans die Globalisierung wie ein Segen: Raghavendran konnte in Europa Karriere machen, konnte sich und seiner Familie damit in der Heimat neue Freiheit erkaufen. Heute wissen sie, dass die Globalisierung nicht nur den Wohlstand bringt, sondern auch den Terror.

Brüssel, die Stadt, in der die Attentäter ihre Zelle gegründet hatten, ist eine der globalsten Städte der Welt. Die Hauptstadt Europas, 1,2 Millionen Einwohner, davon sind zwei Drittel nichtbelgischer Herkunft. Wer durch die Straßen geht, hört Niederländisch, Französisch, Arabisch, Englisch, Türkisch.

Globalisierung bedeutet immer, dass Grenzen verwischt werden, die Grenzen zwischen den Ländern, die Grenzen in den Köpfen, die Grenzen zwischen den Kulturen. Traditionen gehen verloren, alte Regeln gelten nicht mehr. Die neue Freiheit bringt auch neue Unsicherheit. Man kann sagen: Die Globalisierung ist die Stärke und die Schwäche der Moderne zugleich.

Die Bakraoui-Brüder, Abrini, Laachraoui und die anderen Terroristen: Sie wollen den Westen zurückbomben in eine Welt, in der sich Kulturen nicht mischen.

Am 11. September 2001 griffen die Terroristen den Kapitalismus an, beim Massaker in der Redaktion von Charlie Hebdo die Meinungsfreiheit, beim Attentat vom Bataclan den westlichen Lebensstil und in Orlando die sexuelle Freiheit. Brüssel war ein Angriff auf die Internationalität. Der Anschlag am Flughafen Zaventem und an der Metrostation Maelbeek mitten im EU-Viertel steht wie kaum ein anderer für die Überforderung durch diese neue Weltordnung.

Während die Mutter indisches Curry und Chapatis serviert, erzählt die Familie von den Stunden nach dem Attentat. Als sie das Skype-Gespräch beendet hatten, schaltete die Mutter den Fernseher ein und sah die Trümmer am Brüsseler Flughafen, die Menschen, die aus dem Terminal flüchteten. Immer wieder wählte sie die Handynummer ihres Sohnes, es klingelte und klingelte, aber Raghavendran hob nicht ab. Der Bruder erreichte Brüssel noch am selben Tag und lief in der panischen Stadt von Krankenhaus zu Krankenhaus, aber keiner konnte ihm sagen, wo Raghavendran war. Zwei Tage später kamen auch die Eltern in Brüssel an, Arbeitskollegen von Raghavendran halfen ihnen bei der Suche. Als sie auch am dritten Tag nichts von ihm hörten, wuchs der Gedanke an das Unerträgliche.

Raghavendran Ganesan, Walter Benjamin, Hassan Elouafi: Man könnte sie als Kriegsopfer unserer Zeit bezeichnen. Wie die Weltkriege bringen die terroristischen Attentate Witwen und Waisen hervor, Versehrte und Traumatisierte.

»Frankreich ist im Krieg«, sagte François Hollande nach den Anschlägen von Paris. Auch Joachim Gauck nannte den Terror eine »neue Art von Krieg«, und Papst Franziskus sprach vom »Dritten Weltkrieg«.

Es gibt heute keine klare Definition mehr: Krieg bedeutet längst nicht mehr, dass Staaten gegen Staaten kämpfen. Nicht mal im Frieden ist kein Krieg.

Als George W. Bush nach dem 11. September den »Krieg gegen den Terror« begann, war das eine Entschuldigung für alles: für Guantánamo, für Folter, für den Angriff auf den Irak. Wenn wir das, was jetzt geschieht, einen Krieg nennen – tun wir dann genau das, was die Terroristen von uns wollen?

Am 7. April, 16 Tage nach dem Attentat, postet Walter Benjamin:

»Wir dürfen nicht das Spiel jener Barbaren spielen, die zu Unrecht eine Religion benutzen, um den Tod zu säen und Unschuldige in Henker zu verwandeln. Muslime, Juden, Christen, lasst uns handeln.«

9. April, 18 Tage nach dem Attentat: »Ich weine wie ein Idiot, ich bin 47 Jahre alt, und ich sage mir: Scheiße, welchen Schmerz habt ihr diesem Land zugefügt, das ich so sehr liebe?«

Walter Benjamins Äußerungen werden immer politischer. Der Oberrabbiner von Brüssel, der Vorsitzende der Muslime in Belgien und die israelische Botschafterin besuchen ihn im Krankenhaus. Es tauchen fremde Menschen auf, die Walter Benjamin kennenlernen wollen. Menschen, die ihn schon lange vergessen hatten. Alle bekunden ihre Solidarität. Bald muss Walter Benjamin darum bitten, die Besucher mögen nicht unangemeldet kommen. Wer immer kommen darf: Hassan.

Walter Benjamins Nachricht, Hassan Elouafi habe beim Wiedersehen im Krankenhaus in seinen Armen geweint und gesagt: »Ich bin so froh, dich lebend zu sehen«, wurde 28 000-mal auf Facebook geteilt.

»Hassan« heißt übersetzt »der Gute«. Am Flughafen war Hassan Elouafi bis zum 22. März zuständig für die Luftzufuhr der Flugzeuge und die Bildschirme im Flughafengebäude. Als die erste Bombe explodierte, machte er gerade einen Kontrollgang durch die Abflughalle. Seitdem war er nicht mehr am Flughafen, er weiß nicht, wie er diesen Ort wieder betreten soll, an dem er den Daueralarm der blockierten Gepäckbänder hörte, wie er den Fuß auf den Boden setzen soll, auf dem die Trümmer und die Leichen und die abgetrennten Körperteile lagen. Das Wasser der Sprinkleranlage regnete darauf, bis alles einen See bildete und bis irgendjemand ihn, den Techniker, bat, die Sprinkleranlage abzuschalten.

Sein Körper ist gesund, und trotzdem wirkt Hassan Elouafi im Vergleich zu Walter Benjamin viel schwerer verletzt. Er ist krankgeschrieben. Anstatt zur Arbeit zu gehen, bringt er jetzt Couscous an Walter Benjamins Klinikbett. Er rasiert seinem Freund den Schädel, er schiebt ihn im Rollstuhl durch den Krankenhauspark. Ein Zeichen des Sieges über die Terroristen: Ihr wolltet den Krieg zwischen den Religionen – was ihr bekommt, ist unsere Versöhnung.

Sobald Walter Benjamin wieder reisen kann, wollen sie zusammen nach Israel fliegen. Walter Benjamin will einen Baum für Hassan Elouafi pflanzen, Hassan Elouafi will in der Al-Aksa-Moschee in Jerusalem beten, weil ein Gebet dort 500-mal so viel wert ist wie ein Gebet in Brüssel. Walter versucht, seinem Freund Hassan zu erklären, dass die israelische Mauer ein notwendiges Übel ist. Hassan ermahnt seinen Freund Walter, ihn bitte nicht als »Araber« zu bezeichnen, sondern als »Muslim«. Die beiden versuchen im Kleinen, was die Gesellschaft im Großen lernen muss, nach jedem Terroranschlag mehr: sich auszutauschen.

Die weiterführende Schule La Vertu, »Die Tugend«, an der Loubna Lafquiri unterrichtete, ist in einem Altbau im Brüsseler Stadtteil Schaerbeek untergebracht. Die Nachbarn rechts und links: zwei katholische Schulen. La Vertu ist eine muslimische Schule. Sie wurde, nach jahrelangem Streit mit den Behörden, erst im letzten Sommer gegründet. Zuletzt hatten Gegner eine Online-Petition gestartet. Die Unterzeichner wüteten: »Man will uns infiltrieren!« – »Wir sind nicht in Saudi-Arabien!« – »Aus diesen Schülern werden Dschihadisten!«

Heute hat La Vertu 122 Schüler. Sport, Schwimmen, Biologie sind Pflicht, das Kopftuch ist es nicht. Trotzdem tragen es viele Schülerinnen und die meisten Lehrerinnen.

Das Wort »Ghetto-Schule« trifft es nicht. Die Schüler sind wild gemischt: Diplomaten- und Professorenkinder sind dabei, viele kommen aus einfachen Familien. Imame schicken ihre Töchter und Söhne hierher, auch Salafistenfamilien. An der Schule La Vertu zählt die Toleranz mehr, als die Kritiker vermuteten. Und die Toleranz gilt auch für die, die ihren Glauben streng leben. Mit allen, auch mit den Salafisten, sagen die Kollegen, kam die Sportlehrerin Loubna Lafquiri gut zurecht.

Loubna Lafquiri trug kein Kopftuch, dafür neonfarbene Turnschuhe, was gut zu ihrem Tempo passte, wie die Kollegen sagen. Sie ging oft schwimmen und joggen, sie tanzte, sie spielte Hockey. Vor einigen Jahren hatte sie einen Verein gegründet, der Schwimmkurse und Wanderausflüge für Frauen anbot. Loubna Lafquiri wollte die muslimischen Mütter aus ihren Wohnungen herausholen, ihnen ein positives Körpergefühl vermitteln, Selbstbewusstsein.

Ein Foto, das nach dem Attentat kursierte, zeigt eine strahlend lächelnde Frau, die ein Kleinkind auf dem Rücken trägt. Ihren Arm hat sie um ein älteres Kind gelegt. Die beiden sind ihre jüngeren Söhne, zwei und acht Jahre alt, es gibt auch noch einen Zehnjährigen.

Bevor sie ihre Arbeit an der neuen Schule antrat, hatte Loubna Lafquiri zehn Jahre an einer muslimischen Grundschule unterrichtet. Jetzt wollte sie sich um die Älteren kümmern, sie dazu motivieren, sich eine Zukunft aufzubauen.

Im Lehrerzimmer ist das Fach mit der Aufschrift »Loubna« unberührt, die Schule will noch keinen Nachfolger suchen. »Wir stecken immer noch mittendrin«, sagt Loubna Lafquiris Vorgesetzter Hamza Boukhari. Ein bärtiger Mann, Belgier mit marokkanischen Wurzeln, 35 Jahre alt. An seinem Büro hängt ein Schild mit einem Descartes-Zitat: »Der Zweifel ist der Weisheit Anfang.« Hamza Boukhari bedauert es, dass die Gesellschaft so viel über Kopftücher streitet. Er würde sich lieber über Bildung unterhalten.

»Die muslimische Gemeinschaft zahlt einen höheren Preis als alle anderen«, sagt Hamza Boukhari. Seine Schüler trauern nicht nur um ihre Lehrerin, die viele von früher aus der Grundschule kannten. Sie haben nicht nur, wie alle, Angst vor einem neuen Attentat. Für sie gibt es da noch etwas anderes, etwas, wovon sie erst eine grobe Ahnung haben. »Die Islamophobie wird noch ganz neue Formen annehmen.«

Einmal, erzählt Hamza Boukhari, sei Loubna Lafquiri mit 50, 60 Schülern zu einem Ausflug gefahren. Viele der Mädchen trugen ein Kopftuch. In der Metro stürmte ein Mann auf die Lehrerin zu und schrie sie an: »Ihr seid alle Terroristen!«

Nachdem Loubna Lafquiri selbst Opfer von Terroristen geworden war, kam niemand von den katholischen Schulen nebenan vorbei, um zu kondolieren. Kein Politiker ließ sich blicken. Das kränkt Hamza Boukhari. Als Opfer passen die Muslime nicht ins Bild, nur als Täter.

Am 18. März hetzte Loubna Lafquiri zur Schule. »Bei uns im Viertel ist der Teufel los«, sagte sie zu Hamza Boukhari, »die haben alles abgesperrt.« Loubna Lafquiri lebte mit ihrem Mann und ihren Kindern in Molenbeek, jenem Stadtteil, den die Welt seit einiger Zeit zu kennen glaubt. Sie fühlte sich wohl dort, sagen die Kollegen. Doch an dem Tag, an dem die Polizei Salah Abdeslam festnahm, den Attentäter von Paris, wurde es Loubna Lafquiri unheimlich. Die Wohnung, in der er sich versteckt hatte, ist nur ein paar Häuser von ihrer entfernt, »so nah!«, sagte sie.

Vier Tage später, am 22. März um 9.07 Uhr, steigt Loubna Lafquiri auf dem Weg zur Schule an der Station Schuman in den zweiten Waggon der Metrolinie 5, in jenen Waggon, in dem schon der indische Programmierer Raghavendran Ganesan sitzt.

Der Mann von Loubna Lafquiri war Metrofahrer. Ein Beruf, den er kaum wieder ausüben wird. Am 1. April, zehn Tage nach dem Attentat, verliest eine Lehrerin bei einer Trauerfeier einen Brief des Witwers: eine Liebeserklärung an seine tote Loubna. Der letzte Satz lautet: »Molenbeek, das ist nicht nur Salah Abdeslam, Molenbeek, das ist auch Loubna Lafquiri.«

Bei der Feuerwehr gibt es eine Regel, die besagt: Der Jüngste muss als Erstes los. Die Regel soll dafür sorgen, dass Feuerwehrleute Einsatzerfahrung sammeln. Als um 8.10 Uhr in der Zentralen Wache von Brüssel, Avenue de l’Héliport, über Lautsprecher die Ansage »Notruf wegen Feuer« tönt, haben die Männer gerade ihren Morgenappell im Innenhof beendet. Der Kapitän Nicolas Jalet, 36, nimmt die Meldung »zwei Explosionen in Zaventem« entgegen und schickt den Jüngsten der Offiziere mit einer Kolonne zum Flughafen. Um 9.12 Uhr wieder ein Alarm – die Explosion in Maelbeek. Maelbeek, das ist die Metrostation von Nicolas Jalets Kindheit. Er kennt sie in- und auswendig. Und er hat, seitdem er Feuerwehrmann ist, immer wieder durchgespielt, wie er bei einem Attentat auf eine U-Bahn-Station vorgehen würde. Er hat das Attentat von London im Kopf.

Es gibt einen Offizier, der jünger ist, der nun eigentlich rausmüsste. Aber das hier ist Nicolas Jalets Ding, »ich mache das«. Seine Kolonne rast los. Sie stoppt an einem Seiteneingang der Metrostation. Dann steigt Nicolas Jalet hinunter in den Rauch.

»Wir sind für das Schlimmste zuständig«, sagt er. »Alle Probleme landen am Ende bei uns.« Es war seine Kompanie, die den verletzten Salah Abdeslam ins Krankenhaus brachte – und es waren er und seine Leute, die die Verletzten aus der Station Maelbeek rausholten.

An seinem freien Tag sitzt Nicolas Jalet in seinem Wohnzimmer, ein durchtrainierter Mann in grauem T-Shirt und einer kurzen blauen Hose, die in auffälligem Kontrast zu seinen strengen Gesichtszügen steht. Er wohnt alleine hier in einem Stadthaus am Rande von Brüssel. Im Regal: Bücher über Stalingrad, Hitler, den D-Day, Pompeji. Eigentlich wollte er Historiker werden. Dann fand er, es sei klüger, im Heute etwas zu verbessern, als zu versuchen, das Früher zu verstehen.

Nicolas Jalet zieht einen Stadtplan aus dem Regal, faltet ihn auseinander und breitet ihn auf dem Marmortisch aus. Über den Plan sind größere und kleinere schwarze Punkte verstreut. Er hält alle Feuer fest, die er gelöscht hat, er kartografiert seine Siege über den Schrecken. Bei der Metrostation Maelbeek ist noch nichts eingezeichnet. Nicolas Jalet hat noch nicht abgeschlossen mit diesem Einsatz.

Vielleicht kann man erahnen, was Nicolas Jalet erlebt hat, wenn man weiß, dass er die Menschen, deren Überreste er in der Metrostation gesehen hat, nicht mit den Fotos zusammenbringen konnte, die später in den Zeitungen erschienen. »Vielleicht bin ich auf diese Leute draufgetreten«, sagt er, als enthalte die Brutalität seiner Worte gleichzeitig eine Beruhigung: »Ich halte das aus.«

Als sie unten waren in der Metrostation, klingelten unablässig die Handys der Toten.

Nicolas Jalet denkt mit Grauen an jenen Tag. »Meine Kollegen und ich, wir sind in gewisser Weise auch Opfer. Wir sind alle gezeichnet.« Trotzdem sagt er, dass er das Leben seit dem 22. März positiver sieht. Er hat überlebt. Er konnte helfen. Und in Zukunft wird er noch besser vorbereitet sein.

»Ich will nicht«, sagt er, »dass der 22. März mein Leben ist.«

Wie kommt es, dass der eine ein grauenvolles Erlebnis gut verkraftet, der andere nicht? Und wenn es eine Antwort auf diese Frage gibt, können wir als Gesellschaft etwas daraus lernen?

Die erste Therapeutin, bei der Walter Benjamins Freund Hassan Elouafi Hilfe suchte, war überfordert. Als er weinte, weinte auch sie. Es war Walter Benjamin, der Hassan Elouafi empfahl, es einmal mit einem Spezialisten zu versuchen, den er kennt. Ein Israeli, der mit der Psyche von Attentatsopfern vertraut ist. Israel hat auf dem Gebiet einen traurigen Vorsprung an Erfahrung.

Yori Gidron ist ein kleiner, freundlicher Mann, der versucht, Gefühle zu ordnen. Ein Psychologe und Neurowissenschaftler, für den das Leiden einer Seele viel mit Hirnzellen, Synapsen und Nervenbahnen zu tun hat. Yori Gidron hat in Kanada und Israel geforscht, zurzeit lehrt er an der Universität Brüssel. Er ist besessen von der Idee, herauszufinden, was genau im Gehirn geschieht, wenn ein Mensch eine existenzielle Bedrohung erlebt – und wie man dieses Wissen nutzen kann, um eine Traumatisierung zu verhindern oder zu behandeln.

Er war schon oft an Orten, an denen sich Katastrophen ereignet hatten. Er hat humanitäre Einsätze im Erdbebengebiet in Nepal begleitet, Einsätze bei Tsunami-Opfern in Japan, zuletzt war er für die Vereinten Nationen in Haiti. Das Erstaunliche ist: An all diesen Orten hat Yori Gidron viele Menschen kennengelernt, denen noch so schreckliche Ereignisse nichts anhaben konnten. Diese Menschen hatten alles verloren, sie hatten Tage in Todesangst verbracht, dennoch waren sie psychisch vollkommen intakt. Yori Gidron nennt sie lieber »Überlebende« als »Opfer«, was ein feiner und gleichzeitig ein großer Unterschied ist.

Betritt man Yori Gidrons kleines Büro an der Brüsseler Universitätsklinik, zwei Etagen unter dem Krankenzimmer von Walter Benjamin, erscheint einem das, was der Terror mit den Opfern macht, zwar noch immer grausam, aber doch zu fassen, mit Zahlen, Berechnungen, Statistiken. Im Gespräch mit dem Fachmann für die Leiden der Seele wird der Blick auf das Leben mit dem Terror beruhigend rational.

Yori Gidron klappt sein Notebook auf und startet eine PowerPoint-Präsentation. Auf dem Bildschirm bauen sich Balkendiagramme auf: Nach einem Verkehrsunfall haben 20 Prozent der Opfer eine posttraumatische Belastungsstörung, nach einer Vergewaltigung 45 Prozent. Bei einem Terrorakt sind es knapp 30 Prozent. 30 Prozent – das heißt, dass 70 Prozent der Menschen, die einen Terrorakt miterleben, seelisch gesund bleiben. Sie haben keine Flashbacks, keinen erhöhten Puls, keine Schlaf- oder Konzentrationsstörungen, alles typische Merkmale einer posttraumatischen Belastungsstörung. Der Fachbegriff für die Unverwüstlichkeit dieser Probanden lautet »Resilienz«.

Was ist anders im Gehirn dieser Menschen?, fragte sich Yori Gidron. Forscherkollegen schoben Patienten, die etwas Bedrohliches erlebt hatten, in ein MRT-Gerät und spielten Geräusche ein, die der Klangkulisse des traumatischen Ereignisses ähnelten: zerspringendes Glas, berstendes Holz, zusammengedrücktes Metall. Andere Wissenschaftler machten ähnliche Versuche mit Videos. Bei den Traumatisierten war eine Hirnregion besonders aktiv, während sie die Geräusche hörten und die Videos sahen: die Amygdala, die für die Verarbeitung von Gefühlen zuständig ist. Bei den resilienten Patienten flackerte der Neokortex auf, der für den Verstand zuständig ist. Was, wenn man den Neokortex animieren könnte?

Es ist bekannt, dass Bilder eher die Amygdala reizen, Worte eher den Neokortex. Yori Gidron bat Unfallopfer, ihre Geschichte zu erzählen. Sie taten das wie alle Menschen, die einer bedrohlichen Situation entkommen sind: durcheinander, aufgeregt, voller Emotion. Yori Gidron unterbrach sie immer wieder. Sagte ein Proband »Ich hatte Angst« oder »Ich war in Panik«, fragte der Professor: Warum hatten Sie Angst? Warum waren Sie in Panik? Er hakte nach: Was geschah zuerst, was genau passierte dann? Er machte sich Notizen, und dann erzählte er seinen Probanden ihre Geschichte noch einmal neu, nüchtern, klar, eins nach dem anderen. Eine logische, ein wenig langweilige Schilderung, in der viele Sätze mit »weil«, »deshalb«, »darum« verbunden waren. »Der Knall, den Sie hörten, kam von dem Aufprall.« – »Sie fürchteten sich, weil Sie Ihre Tochter nicht sehen konnten.« Dann bat er die Patienten, ihre Erlebnisse noch einmal auf genau diese Weise zu berichten. Er bat sie, sie aufzuschreiben.

In Belgien und Israel hat Yori Gidron mehrere Studien zu dieser Methode gemacht, auch mit Terroropfern. »Wir konnten es selbst nicht glauben«, sagt er. Drei Monate nach dem Ereignis hatten die Probanden so gut wie keine Flashbacks mehr. Auch ein israelischer Kollege, der eine ähnliche Methode entwickelte, hat großen Erfolg.

Wenn Yori Gidron seine Forschungsergebnisse bei Kongressen vorstellt, verlassen manche seiner Kollegen den Saal. Denn die Methode widerspricht dem, was in der Traumatherapie lange üblich war und noch oft praktiziert wird: Man animiert den Patienten dazu, die traumatische Situation immer und immer wieder emotional zu durchleben – man provoziert also ein ständiges Feuern der Amygdala.

In Israel ist Yori Gidron selbst um Sekunden einem Attentat in einem Zug entkommen, seine Mutter wurde bei einem Anschlag verletzt. »Wir wissen noch so wenig«, sagt er, »und wir müssen so dringend mehr wissen.« Nicht nur die Medizin wird sich weiterentwickeln müssen. Es geht darum, den Neokortex der ganzen Gesellschaft zu aktivieren.

Edmond und Marjan Pinczowski sind ein schönes Paar, immer noch. Er: 70 Jahre alt, schlank, graue Haare, das Hemd mit Manschettenknöpfen, Kurzname Ed. Sie: 63, zierlich, hellgrüne Augen, der Teint lässt ihre indonesischen Wurzeln erahnen. Die beiden Niederländer sind seit 38 Jahren verheiratet, er war Hotelmanager, sie die Frau an seiner Seite, die ihm überallhin folgte, wo er die Hotels großer Ketten leitete: nach Nairobi, Jerusalem, Jamaika, Brüssel, Antalya, Frankfurt, Athen. Ein Leben, das ihnen viele schöne Momente schenkte. Zu den schönsten gehörten jene Abende in Antalya, wenn der Muezzin rief. Dann ging Marjan Pinczowski raus auf den Balkon, um ihm zuzuhören.

Die Pinczowskis sind Weltbürger, aufgeschlossene Menschen. Seit Kurzem lebt das Ehepaar in der Nähe von Maastricht, Niederlande, wo Edmond, der die Rente gerade mal zwei Wochen lang ertrug, nun an der Hotelfachschule unterrichtet. Die Tochter Sascha, 26 Jahre alt, und der Sohn Alexander, 29, pendelten nach New York, wo sie studierten. Mit den Eltern waren sie, über Ozeane und Zeitzonen hinweg, ständig über das Handy verbunden.

Gerade waren die Kinder für ein paar Wochen bei den Eltern zu Besuch gewesen, am 22. März wollten sie zurück in die USA. In der Abflughalle, an Schalter 11, Delta Airlines, warteten sie auf die Abfertigung. Alexanders Handy klingelte, es war seine Mutter.

»Habt ihr schon eingecheckt?« – »Wir stehen gerade in der Schlange«, sagte Alexander Pinczowski. »Warte«, sagte die Mutter, »Papa will dir noch was sagen.« Als Edmond Pinczowski das Handy nahm, hörte er ein berstendes Geräusch. Dann war die Leitung tot.

Es ist vieles zerstört seitdem. Der Alltag, ein Lebensplan, Überzeugungen. Nichts ist mehr wie zuvor, die Welt hört sich nicht einmal an wie früher. Die Mutter schläft jetzt mit Ohrstöpseln, weil das Vogelgezwitscher am Morgen sie an den ersten Tag erinnert, an dem sie mit dem Gedanken aufwachte: »Meine Babys sind fort.«

Fünf Wochen nach dem Anschlag, vier nach der Beerdigung der Kinder, begleitete Marjan Pinczowski ihren Mann auf eine Dienstreise in die Vereinigten Arabischen Emirate. Als sie im Hotel eincheckten, drang die Stimme des Muezzins in die Lobby, und Marjan trat vor das Hotel. Die Stimme des Muezzins, sagt sie, klang bittersüß.

Der Flug nach Dubai war ihr erster nach dem Anschlag gewesen. Abflug in Düsseldorf, um es erträglicher zu machen. Einen Sitz neben ihnen, nur durch den Gang von ihnen getrennt, saß ein düster blickender junger Mann. Marjan Pinczowski fand, er sehe den Attentätern ähnlich. Wie konnte er einfach so einen Film schauen und das Bordmenü essen? Sie brach in Tränen aus und weinte den ganzen Flug über, sechs Stunden lang, die Stewardess versuchte, sie zu trösten.

Beschämt erzählt Marjan Pinczowski, die schon auf der ganzen Welt gelebt hat, umgeben von Menschen aller Religionen und Hautfarben, der junge Mann sei vielleicht nicht mal marokkanischer Abstammung wie die Attentäter gewesen, vielleicht war er Inder. Seine Hautfarbe reichte, um ihn in ihren Augen verdächtig zu machen. »Er hörte mit, wie Ed der Stewardess unsere Geschichte erzählte«, sagt sie, »und dann beugte er sich hinüber zu meinem Mann und sagte: Ich bete für Sie und Ihre Frau.«

Nach dem Terror wächst die Angst vor dem Fremden, so war es in den USA nach dem 11. September, so war es in Madrid nach den Zuganschlägen, so war es in Israel nach der Zweiten Intifada. Eine verletzte Gesellschaft ist empfänglich für Vorurteile – und für Populismus. Unsicherheit soll überspielt werden mit Machtdemonstrationen. Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet jetzt Parteien wie die AfD, die FPÖ, der Front National so erfolgreich sind in Europa.

Nach 9/11 schoss der Verkauf amerikanischer Flaggen in die Höhe, die Hersteller kamen nicht hinterher mit der Produktion. Zu groß war der Wunsch, sich gegen den Feind abzugrenzen, den eigenen Patriotismus auszustellen. In der Vergangenheit haben Terroranschläge Gesellschaften immer nach rechts driften lassen.

Man würde annehmen, dass eine Gemeinschaft, die ständigem Terror ausgesetzt ist, auch in ständiger Angst lebt. Dass sie irgendwann angeschlagen sein wird und krank wie ein Boxer, der zu viele Kämpfe hinter sich hat.

Das Gegenteil ist der Fall. Irgendwann gewinnt der Neokortex die Oberhand, jener Teil des Gehirns, der für den Verstand zuständig ist. Je häufiger eine Gesellschaft vom Terror erschüttert wird, desto mehr gewöhnt sie sich daran. Es gibt nicht nur eine individuelle, sondern auch eine soziale Resilienz.

Im Zweiten Weltkrieg verließen Menschen in den Pausen zwischen Luftangriffen den Bunker und holten beim Bäcker Brötchen. Während des Nordirland-Konflikts, in dem Tausende Bomben gezündet wurden, fuhren die Menschen weiter mit dem Bus zur Arbeit. In Israel trafen sich die Bürger mitten in der Intifada im Café und aßen Falafel, auch wenn sie dabei auf ausgebrannte Autos blickten. Und in Bagdad gehen die Menschen jetzt noch täglich auf den Markt, obwohl dort immer wieder Bomben explodieren.

»An alles kann sich der Mensch, dieses Schwein, gewöhnen!«, so formulierte es einst Fjodor Dostojewski.

Der Terror wird zu einer neuen Normalität und dient als weiterer Beweis, unter welch widrigen Bedingungen wir leben können. Und wie immer, wenn der Mensch widrigen Bedingungen ausgesetzt ist, versucht er sich durch Rituale zu beruhigen.

Zwei Monate sind seit dem Attentat vergangen, als die belgische Regierung zu einer Gedenkfeier lädt. Der 22. Mai ist ein verregneter Sonntag, in Brüssel sind die Straßen um den Königlichen Palast abgesperrt, Soldaten marschieren über die Bürgersteige, Polizisten kontrollieren Autos. Vor einer Absperrung steigt aus einem Taxi die indische Familie Ganesan. Die Eltern des Programmierers Raghavendran, der Bruder, die Witwe mit dem Kind im Arm. Die beiden Frauen tragen ihre feinsten Saris, die Männer Lungis, traditionelle Wickelröcke. Sie gehen die Treppen des gigantischen Palasts hinauf.

Vor einem Jahr ist die Witwe Vaishali die Stufen schon einmal hochgelaufen, an ihrer Seite der Mann, mit dem sie ihr Leben verbringen wollte. 2014 hatte sie Raghavendran kennengelernt, und es war eine Liebesgeschichte wie aus einem Bollywood-Film: verliebt beim ersten Treffen, ein halbes Jahr später die Hochzeit mit Henna und Blumen und Tanz. Sie zog zu ihm nach Brüssel, sie spazierten durch den Botanischen Garten und ließen sich durch den Königspalast führen. Als sie schwanger wurde, beschlossen die beiden, dass ihr Kind in Indien geboren werden und aufwachsen sollte. Vaishali sollte auf ihrem gemeinsamen Weg ins neue, indische Leben vorausgehen und dort auf ihn warten.

Rund 600 Gäste sind in den Thronsaal gekommen, Regierungsmitglieder, Botschafter, Soldaten, Feuerwehrmänner, Überlebende und Hinterbliebene aus der ganzen Welt. Zwischen ihnen nimmt Familie Ganesan nun schüchtern Platz in der zweiten Reihe, unter goldverzierten Kronleuchtern, auf Stühlen, die mit rotem Samt bezogen sind.

Ein Bläserquintett spielt Mozart, der König und der Premierminister halten auf Niederländisch und Französisch Reden, in denen sie von Anerkennung, Mut und einer besseren Welt sprechen.

Familie Ganesan sitzt still im Publikum und versteht kaum ein Wort, weil keiner für sie übersetzt.

Die Namen der 32 Todesopfer werden laut und langsam verlesen, und für jedes einzelne wird eine weiße Rose niedergelegt.

Raghavendran Ganesan.

Loubna Lafquiri.

Alexander Pinczowski.

Sascha Pinczowski.

Nach dem Anschlag von Brüssel hat es weitere Attentate gegeben, auf den Schwulenclub in Orlando, auf einen Polizisten bei Paris. Kurz vor Redaktionsschluss dieser Ausgabe dann der Angriff auf den Atatürk-Flughafen. Er wirkt wie eine Kopie der Tat von Brüssel, auch diesmal könnte es der IS gewesen sein. Die Bilder aus Istanbul und die aus Brüssel gleichen sich. Es ist, als wären wir in einer Endlosschleife des Terrors gefangen.

Wie kann man mit dem Terror leben? Die Opfer von Brüssel und ihre Angehörigen haben unterschiedliche Antworten gefunden. Die Eltern und die Witwe von Raghavendran Ganesan werden mit dem Baby in die Wohnung ziehen, die er gekauft hatte; der Bruder überlegt, von Paderborn nach Chennai umzusiedeln, denn er ist es jetzt, der für die Familie sorgen muss. Auch die Pinczowskis überlegen wegzugehen, die Mutter sieht in Europa keinen sicheren Ort mehr. An der Grundschule, an der Loubna Lafquiri früher unterrichtete, wollen sie eine Turnhalle nach ihr benennen. Der Feuerwehrmann Nicolas Jalet hat sich in der Schweiz über Brände im Tunnel fortbilden lassen, denn wer weiß, ob die nächste Bombe nicht in einem Tunnel explodiert.

Und Walter Benjamin?

Im Universitätskrankenhaus, Abteilung Reha, hat er Besuch von einer Schülerzeitungs-AG. Sechs Mädchen, zwischen 15 und 17 Jahre alt, eine Lehrerin und ein Lehrer sitzen auf dem Krankenbett, auf Stühlen, auf dem Fußboden. Die Mädchen gehen auf eine katholische Schule. Trotzdem sind von den sechs Schülerinnen fünf Musliminnen, zwei kommen aus Molenbeek, »die Eltern schicken sie zu uns«, sagt die Lehrerin, »weil sie wissen: Hier lernen sie was.« Jetzt hören sie zu, mit aufgerissenen Augen, wie Walter Benjamin seine Geschichte erzählt: von dem Knall, von der Feuerkugel, von Hassan Elouafi, der ihm den Hörer ans Ohr hielt und der blieb, auch als ihm klar wurde, dass Walter Benjamin Jude ist. Ein Mädchen sagt: »Ich habe noch nie einen Israeli gesehen. Wenn das mein Vater wüsste.« Walter Benjamin erklärt ihr geduldig, dass er zwar Jude sei, aber die belgische und die französische Staatsangehörigkeit habe, dass Religionszugehörigkeit und Nationalität nicht dasselbe sind.

Unter den ungläubigen Blicken der Mädchen entblößt er die Wunde an dem Bein, das ihm geblieben ist, und sagt: »Es wird weitergehen. Es wird noch mehr Attentate geben. Und man wird Moscheen anzünden. Es liegt jetzt bei eurer Generation. Ihr müsst miteinander reden.«

Als das Gespräch zu Ende ist, stehen die Mädchen so vorsichtig auf, als könnten sie mit einer einzigen fahrigen Geste, mit einem einzigen zu lauten Geräusch das Band zwischen Walter Benjamin und ihnen zerreißen. Höflich verabschieden sie sich, aber er lässt sie noch nicht gehen.

Er muss ihnen noch von dem Fotoapparat erzählen, den er in seinem Rucksack hatte, als am Flughafen die Bombe explodierte und wohl auch den Fotoapparat sprengte. Walter Benjamin hing sehr an dieser Kamera. Oft zog er am Wochenende los, um Brüssel, seine geliebte Stadt, zu fotografieren. Nach Molenbeek kam er nie.

Und jetzt will Walter Benjamin nichts dringender als das. Deshalb ist er an seinem Wochenende daheim, dem ersten Wochenende, an dem er wieder aufrecht ging, noch einmal mit seinem Marionettenbein die 26 Treppenstufen hinabgestiegen. Er hat sich zu einem Fotogeschäft fahren lassen und eine neue Kamera gekauft.

Wenn er wieder laufen kann, sagt er jetzt zu den Mädchen, will er als Fotograf durch Molenbeek ziehen. Er will die Jugendlichen, die bei ihm im Krankenhaus waren, auch die Mädchen, zu Hause besuchen. Er will die Welten zusammenbringen. Das ist der einzige Sinn, den er in dem Attentat sehen kann.