Die große Trauer kam erst Jahrzehnte später

Von Amien Idries

 

 

Nuran Joerißen wird als 14-Jährige zwangsverheiratet. Ihr gewalttätiger Vater ist gegen die Heirat, die von der Mutter vorangetrieben wird.

Gangelt. Am besten erzählt man die Geschichte von Nuran Joerißen wohl als einen langen Kampf zwischen innerem Freiheitsdrang und äußerem Druck. Ein Kampf, bei dem eben dieser Druck ihrer Familie und der türkischen Community so unvorstellbar groß wird, dass ihr Freiheitsdrang förmlich zermahlen wird, nicht mehr da ist oder nicht mehr da zu sein scheint.

Der Punkt, an dem der äußere Druck den Sieg davonträgt, ist ihre Hochzeitsnacht. Anfang der 80er Jahre ist das. Nuran ist noch ein Kind, gerade mal 14 Jahre alt. Sie befindet sich in der Türkei mit ihrem fast doppelt so alten Cousin, der seit ein paar Stunden ihr Ehemann ist. Vor der Tür des Schlafzimmers wartet die Hochzeitsgesellschaft auf den „Vollzug“ der Ehe, der durch ein blutiges Laken dokumentiert werden soll. Hinter der Tür ist Nuran mit einem wildfremden Mann allein und muss sich ausziehen . . .

„Das war der Nullpunkt. Da ist etwas in mir zerbrochen“, sagt Joerißen 30 Jahre später. Die Tatsache, dass dies heute eine Frau sagt, der die Lebensfreude aus jeder Pore dringt und die ihr Wohnzimmer in Gangelt mit ihrem ansteckenden Lachen flutet, deutet darauf hin, dass es nach diesem Endpunkt weiterging. Es ändert aber nichts an der Dramatik der damaligen Situation: Nuran wird als 14-Jährige zwangsverheiratet.

Geboren wird Nuran Aslan 1966 im türkischen Adana, nahe der syrischen Grenze. Der Vater ist Gastarbeiter in Bocholt, die Familie kommt im Rahmen der Familienzusammenführung nach. Nuran ist ein wildes Mädchen. Sie liebt das Leben, hat viele deutsche Freunde und vor allem ihren eigenen Kopf. Einen Freund will sie haben, Schauspielerin will sie werden. Lauter Ideen, wie sie auch viele ihrer Freundinnen haben. Was Nuran allerdings nicht hat, ist eine Familie, die ihrem Freiheitsdrang den nötigen Platz einräumt.

Ihre Familie ist anders, was vor allem am Vater liegt. Der ist gut integriert und ein Lebemann, der gerne feiert und manche Nacht in fremden Betten verbringt. Für seine Familie hat er im besten Fall Desinteresse übrig. Im schlechtesten rastet er aus, ist aggressiv und gewalttätig. Seine Kinder schlägt er zwar nicht, aber die Gewaltausbrüche gegen seine Frau nehmen beängstigende Ausmaße an. Wie sehr auch Nuran von diesen Exzessen traumatisiert ist, wird ihr erst später klar.

Klar ist für die junge Nuran die Rollenverteilung in ihrer Familie: Vater = Täter, Mutter = Opfer. Heute weiß sie: eine etwas simple Sicht der Dinge. Ihre Mutter ist nämlich ein Opfer, das seine Ohnmacht dadurch kompensiert, dass es Macht über jemand anderen ausübt: Tochter Nuran.

Die Mutter wird zur Täterin und treibenden Kraft der Zwangsverheiratung ihrer Tochter. Sie holt sich so ein Stück von der Macht zurück, die sie an ihren prügelnden Mann verloren hat. Der ist strikt gegen die Heirat der Minderjährigen, hat sich aber bereits so gut wie von der Familie verabschiedet und schützt seine Tochter nicht.

Das ist eine der widersprüchlichen Erkenntnisse aus der Geschichte von Nuran Joerißen: Nicht selten sind es die Frauen – selbst Opfer patriarchaler Strukturen –, die jene Werte an ihre Kinder weitergeben und somit ihrerseits zu Opfern patriarchalen Denkens machen. Joerißen sagt es heute so: „Anstatt ihre Energie dazu aufzuwenden, mir Emanzipation zu eröffnen, hat sie alles dafür getan, mich zu bändigen.“ Der Freiheitsdrang ihrer Tochter verunsichert die Mutter derart, dass sie den Druck erhöht. Zwangsheirat als finales erzieherisches Mittel. Sie will das Mädchen unter die Haube bringen, bevor es entjungfert wird. Nur so werde sie ihren mütterlichen Pflichten gerecht.

Ihr Ziel verfolgt die Mutter mit perfiden Methoden. Damit Nuran bereits mit 14 Jahren verheiratet werden kann, gibt die Mutter etwa bei den türkischen Behörden an, es sei bereits zum Sex zwischen den künftigen Eheleuten gekommen. So greift eine zum damaligen Zeitpunkt gültige Ausnahmeregelung.

Und Nuran? Der dämmert nur langsam, was passiert. Als die Mutter Nurans Cousin nach Hause einlädt, denkt sie noch, dass es um ihre ältere Schwester geht. Die Mutter aber sagt ihr, die Heirat sei bereits zugesagt, man müsse jetzt sein Wort halten. Ansonsten sei die Familie entehrt. Zumindest die Verlobung solle Nuran mitmachen, danach könne man das Ganze geräuschlos beenden.

Nuran gibt nach. Als sie dem Cousin den Verlobungsring zurückgeben will, sagt der: „Nee, nee, wir sind jetzt verlobt.“ Spätestens da ist ihr klar, dass etwas gewaltig schiefläuft. Der Flug in die Türkei wird gebucht, im Juni 1981 findet die Hochzeit statt. Zu einer Zeit, in der der Begriff Zwangsheirat in der deutschen Öffentlichkeit noch nicht angekommen ist. Selbst Nuran kann dem, was ihr angetan wird, erst viel später einen Namen geben.

Das erklärt auch, warum niemand angemessen auf die Hilfesignale reagiert, die die angehende Braut immer wieder aussendet. An den Deutschlehrer etwa, der zum Gespräch bei der Familie erscheint und unverrichteter Dinge wieder abzieht. Oder an die deutsche Freundin des älteren Bruders, zu der sie ein enges Vertrauensverhältnis hat, die aber schlicht überfordert ist.

Eines Tages ruft Nuran aus einer Telefonzelle sogar das Bocholter Jugendamt an:

Nuran: „Ich soll heiraten, will aber nicht.“

Jugendamt: „Wie alt bist Du denn?“

Nuran: „14 Jahre.“

Jugendamt: „Mmmhh. Dann ist das gar nicht erlaubt. Wir sprechen mal mit Deinen Eltern.“

Nuran: „Aber die sind doch das Problem. Wenn Sie das machen, werden meine Schwierigkeiten noch größer.“

Totale Hilflosigkeit also, die bei Nuran schließlich in Resignation mündet. Sie und ihr Freiheitsdrang fügen sich. Nach der Hochzeit zieht sie zu ihrem Mann in den Heinsberger Raum. Sie ist zwar noch schulpflichtig, aber die Behörden nehmen das nicht wahr. Auch, weil sie älter aussieht, als sie tatsächlich ist. Sie ist jetzt eine Teenager-Hausfrau. Und ziemlich bald auch eine Teenager-Mutter.

1982 wird ihr erster Sohn Bünyamin geboren. Nuran heißt inzwischen Mangitay und lebt mit ihrem Mann zusammen. Die Beziehung zu ihrem Sohn ist schwierig, wohl auch, weil sie selbst noch ein Kind ist. Solange Nuran aber funktioniert, gibt es zumindest den äußeren Druck nicht mehr.

Ihr Freiheitsdrang meldet sich aber wieder. Ihr Mann führt neben seinem Fabrikjob noch eine Kneipe, in der kurioserweise die Emanzipation von Nuran Mangitay beginnt. Sie kümmert sich um die Küche in der Kneipe und schmeißt nebenher den Haushalt. In ihr wächst die Erkenntnis: „Eigentlich könntest Du das alles auch alleine schaffen.“

Sie hatte bereits vorher einen Sozialarbeiter kennengelernt, der zum väterlichen Freund wird und immer wieder Zweifel in ihr sät. Mit der Geburt des zweiten Sohnes Orhan 1985 entschließt sie sich, auf eigenen Beinen zu stehen. Sie zieht aus, macht den Führerschein, gibt Deutschkurse für türkische Frauen und würde am liebsten die ganze Welt retten. Bis sie feststellt, dass sie wohl erst sich selbst retten muss.

Denn mit wachsendem Freiheitsdrang nimmt auch der Druck von außen wieder zu. Ihr Noch-Ehemann ist nicht begeistert vom Selbstverwirklichungsdrang seiner Frau und bedroht sie. Auch ihre Familie möchte die rebellische Tochter wieder in die „richtigen“ Bahnen lenken. Irgendwann steht ihr ältester Bruder mit einem Messer vor ihr: „Wenn Du nicht machst, was wir Dir sagen, bringe ich Dich um.“ Nuran greift ebenfalls ein Messer: „Dann nehme ich Dich mit.“ Was sich wie das Drehbuch eines schlechten Rachefilms liest, ist die Zuspitzung des Kampfes zwischen Druck und Freiheitsdrang. Nuran will nicht mehr zurück und ist zum Äußersten bereit. Eine Situation, die tödlich hätte enden können, so etwa wie bei Hatun Sürücü, die 2005 von einem ihrer Brüder erschossen wurde. Nurans Bruder aber legt das Messer weg und geht. Nurans Freiheitsdrang gewinnt. Endgültig.

Mit Anfang 20 beginnt ihr neues Leben. Nuran macht ihr Fachabi, dann eine Ausbildung zur Industriekauffrau. Sie arbeitet, zieht ihre Kinder groß und absolviert nebenher noch ein Studium an der Verwaltungs- und Wirtschaftsakademie in Aachen. Während des Studiums lebt sie sogar noch einmal mit ihrer Mutter zusammen, die sich um die Enkel kümmert. Das Thema Zwangsheirat kommt da nur einmal zur Sprache. Die Reaktion der Mutter: „Ich weiß gar nicht, was Du willst. Du hast zwei tolle Kinder, bist eine junge Mutter und hast das ganze Leben noch vor Dir.“ Alles super gelaufen also.

Wie unrecht sie damit hat, wird erst später deutlich. Denn die große Trauer über das, was ihr angetan wurde, kommt bei Nuran Joerißen genau in dem Moment, als es ihr besser denn je geht. Sie hat Andreas Joerißen, einen Künstler aus dem Kreis Heinsberg, lieben gelernt. Der erste Mann, mit dem sie sich vorstellen kann, alt zu werden. Die beiden heiraten und ziehen ins Eigenheim.

Je mehr Nuran Joerißen aber zur Ruhe kommt, desto größer wird die Trauer in ihr. Der Tiefpunkt ist eine Situation im heimischen Badezimmer. Sie will zu ihrem Mann in die Wanne steigen, erlebt statt Entspannung aber eine totale körperliche und seelische Blockade. Wie aus dem Nichts taucht eine vergrabene Kindheitserinnerung auf: Ihr Vater steht über der Mutter und versucht, sie in der Bocholter Badewanne zu ertränken. Die Tochter Nuran muss das alles mit ansehen. Ihre Familiengeschichte hat Joerißen mit aller Wucht eingeholt. Die Folge: maximale Emotionen und Weinkrämpfe.

„Schreib das doch alles mal auf“, sagt ihr Mann irgendwann später. Und sie schreibt alles auf. Ihre Kindheit mit gewalttätigem Vater und (ohn-)mächtiger Mutter, die in dem Unrecht der Zwangsheirat gipfelte. Sie schreibt und therapiert sich quasi selbst. Irgendwann ist ihr klar, dass ihr Schicksal auch eine politische Dimension hat. Weil sie nicht die Einzige ist, der so etwas angetan wurde.

Und so wird aus der Selbsttherapie ein Buch, das 2009 unter dem Titel „Süßer Tee“ veröffentlicht wird. Roh und weitgehend unredigiert stellt sie der Gesellschaft ihre Geschichte zur Verfügung. Joerißen hält Lesungen, bei denen kontrovers diskutiert wird. Sie erlebt Anfeindungen aus der türkischen Community und erhält Applaus von denen, die schon immer vor dem Fremden gewarnt haben.

Dabei sind aus Joerißens Sicht Pauschalurteile beim Thema Zwangsheirat nicht angebracht. Anders, als man etwa annehmen könnte, ist ihre alevitische Familie nicht besonders religiös. „Ich bin sehr säkular aufgewachsen, meine Mutter hat mir eine tolerante Religion vorgelebt“, sagt Joerißen und ergänzt: „Wenn man jemanden unterdrücken will, findet man immer Gründe.“ Das könne der Koran, die Ehre oder eben gesellschaftlicher Druck sein. Den gebe es übrigens nicht nur in Einwandererfamilien. Auch in so manchen Dörfern der Umgebung sehe sie durchaus Nachholbedarf in Sachen Emanzipation.

Und ihre Familie? Zu ihren Söhnen hat Joerißen inzwischen ein inniges, ehrliches Verhältnis. Zu ihren Geschwistern und der Mutter ist der Kontakt abgebrochen. Vor allem wegen des Buches, über das die Familie empört war.

Wenn man so will, ist das der Preis, den Joerißen für den Sieg ihres Freiheitskampf zahlen musste. Schaut man diese lebensfrohe Frau an, mit dem kaum zu bändigenden Lockenkopf und der einen Strähne, die ihr immer wieder ins Gesicht fällt, hat man den Eindruck: Sie hatte auf lange Sicht keine andere Wahl.