An der Grenze

Von Stefan Aust und Helmar Büchel

Eine Völkerwanderung. Seit Monaten strömen Flüchtlinge aus aller Herren Länder in Richtung Deutschland. Jeden Tag kommen mehr, manchmal zehntausend binnen vierundzwanzig Stunden. Seit dem 4. September gibt es praktisch keine Grenze mehr. Jeden Tag wird der Zustrom größer. Zu Fuß ins gelobte Land. Über die grüne Grenze. Wir laufen in einem der Flüchtlingstrecks mit, die die Bundespolizei in Gruppen von jeweils 250 Menschen bei Kollerschlag in Österreich übernimmt und durch Felder und Wald zum nächsten Verteilpunkt im bayerischen Wegscheid eskortiert. "Alle wollen nach Deutschland, alle sprechen über Mama Merkel", freut sich ein junger Afghane. Auch eine blondierte Endzwanzigerin aus Damaskus in Daunenjacke und modischem Basecap stimmt ein: "Sie ist perfekt. Ich habe im Fernsehen gesehen, was sie für die syrischen Menschen tut. Alle Syrer mögen Merkel." Ein Exodus auf Einladung. Die Kanzlerin als globale Botschafterin deutscher Willkommenskultur mit ihrem millionenfach im Netz verteilten "Wir schaffen das".

Mittwoch, 28. Oktober 2015. 4.52 Uhr, Berlin, Bundeskanzleramt: Noch schläft die Politik. An den Grenzen des Landes ist es mit der Nachtruhe längst vorbei.

5.07 Uhr, Passau, Bayern: Das zentrale Registrierungszentrum für Flüchtlinge, die aus Österreich über die Grenze kommen. Seit Wochen stehen Beamte der Bundespolizei und freiwillige Helfer hier kurz vor dem Kollaps. Tausende Asylsuchende werden hier zunächst versorgt – und dann von Amts wegen mit einer Anzeige wegen illegaler Einreise bedacht. Viel mehr kann man nicht tun. In der Dreiländerhalle können sich die Migranten kurzzeitig von den Strapazen der Flucht erholen. Eigentlich müssen Flüchtlinge, die aus einem sicheren Drittstaat wie Österreich kommen, nach Artikel 16a des Grundgesetzes an der Grenze abgewiesen werden. Doch auf höchste Anweisung aus Berlin ist das Gesetz außer Kraft gesetzt worden. Ohne irgendeinen Parlamentsbeschluss. Die Bundespolizei nimmt lediglich Personalien, Fotos und Fingerabdrücke auf, und dann dürfen die Flüchtlinge einreisen. Niemand wird abgewiesen. Streng genommen gilt das als Beihilfe zur illegalen Einreise und ist strafbar. Doch das Willkommen steht über dem Gesetz.

"Alle einladen ist wahrscheinlich zu viel gewesen. Man sieht es ja, es wird deutlich zu viel", sagt Annika Heise, eine junge Bundespolizistin, zum Kurs der Kanzlerin, während sie einen Mann aus Syrien bei der Erstaufnahme erkennungsdienstlich behandelt, "aber wenn man dann eine harte Linie fährt und nur die nimmt, die aus einem Krisengebiet stammen, dann sehe ich das als durchaus richtig. Aber wir können halt nicht jeden aufnehmen. Das wird zu viel."

Die Bundespolizei hieß bis 2005 übrigens Bundesgrenzschutz.

6.18 Uhr, Sentilj, die Grenze zwischen Slowenien und Österreich: Am Vortag haben sich Kroatien und Slowenien darauf verständigt, die Flüchtlinge von der serbischen Grenze ohne Halt bis hierher durchzuleiten. Doch von dem kleinen Grenzdorf müssen die dreitausend Menschen an diesem Morgen zu Fuß weitergehen. Ihr Weg führt durchs Niemandsland in Richtung österreichische Grenze. Sie sind froh, den Balkan bald hinter sich zu haben. "Sie behandeln uns wie Tiere. Die Polizei behandelt uns so. Die Armee auch. Wir werden auf unserem Weg nicht menschlich behandelt", ruft eine junge Syrerin in perfektem Englisch. "Wir wollen doch nur diese Grenze überqueren und erleben stattdessen einen Albtraum."

6.37 Uhr, Assos, Türkei, Europas Außengrenze: Eine Meerenge zwischen der Türkei und der griechischen Insel Lesbos. Gerade einmal acht Kilometer trennen hier den EU-Staat Griechenland vom Nicht-EU-Staat Türkei. An der türkischen Küste brennen Hunderte von Lagerfeuern. Hier sammeln Schlepper ihre menschliche Fracht ein. An diesem Tag ist die See rau. Das Kamerateam hat ein Fischerboot im Hafen von Assos im Golf von Edremit an der türkischen Westküste bei Izmir gechartert. Kein türkisches Polizeiboot, keine Küstenwache, kein Schiff des gemeinsamen europäischen Grenzschutzes Frontex lässt sich hier sehen.

Von hier aus sind in den vergangenen Monaten täglich mehrere Tausend Flüchtlinge nach Europa aufgebrochen. Für die Schlepperbanden ein Millionengeschäft. In der Morgendämmerung sind die Spuren der Migration zu erkennen: Reste von aufblasbaren Flößen, eher Luftmatratzen als Boote, die kurz nach dem Ablegen gekentert oder geplatzt und gesunken sind.

6.51 Uhr, Spielfeld, Österreich, an der Grenze zu Slowenien: Es ist kalt, drei Grad. In einem beheizten Zelt durften Flüchtlinge die Nacht verbringen, die am Morgen in Bussen an die deutsche Grenze gefahren werden sollen. Sperrgitter sollen sie daran hindern, auf eigene Faust loszulaufen und möglicherweise in Österreich um Asyl zu bitten – oder unterzutauchen. Fast alle wollen nach Deutschland.

"Deutschland ist das sicherste Land", sagt ein Afghane auf dem Weg zu seinem Bus nach Norden, "vielleicht finden wir dort alles, was wir brauchen." Und ein anderer ruft winkend: "Merkel, Merkel!" Die Flüchtlinge wissen, wem sie zu verdanken haben, dass die Österreicher sie so zügig durchreichen.

Die Busfahrer beobachten ihre Fahraufträge an die deutsche Grenze mit gemischten Gefühlen. Einerseits ein gutes Geschäft für die Firma, sagt einer, "ein Wahnsinn, wie lange geht das noch?" Und ein anderer ruft, während die Flüchtlinge in seinen Bus steigen: "Das ist der Tod Europas!" Der Fahrer – offenbar selbst mit Migrationshintergrund – scheint wenig begeistert von der Willkommenskultur. In fünf Stunden wird der Bus an der deutschen Grenze sein.

7.07 Uhr, Berlin, Kanzleramt: Dienstbeginn in der Regierungszentrale. Angela Merkel auf dem Weg zur Arbeit. Begleitet von ihren Leibwächtern. Macht macht einsam. Die Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland geht ihren Weg. Unbeirrt. Ohne zu stürzen. Noch schafft sie es.

07.29 Uhr, Erfurt: Herbstnebel wabert um den Dom der thüringischen Landeshauptstadt. Sie wirbt damit, die Mitte Deutschlands zu sein. Geografisch. Polizisten bereiten sich auf die schon fast regelmäßige Mittwochskundgebung der AfD vor, der Alternative für Deutschland. Bühnentechnik wird für den Abend herangekarrt. Marktplätze sind Orte, an denen sich der politische Puls der Bürger ertasten lässt.

"Es wird zu viel. Die Hilfe auf der einen Seite ist auch richtig so. Aber man muss auch ein gesundes Maß finden", sagt die Verkäuferin eines Brotstandes. Die Wurstverkäuferin nebenan ergänzt: "Man kann nicht drei, vier Länder in ein Land stopfen. Irgendwann ist dann auch die Kapazität erfüllt." Auch der asiatischstämmige Textilhändler will den Merkel-Kurs nicht stützen: "Es kommen ja jetzt ganze Länder her, das ist zu viel."

Aktuelle Umfragen sehen die Thüringer AfD bei 12 Prozent. Die CDU bei 35, Tendenz: sinkend.

7.41 Uhr, Assos, Türkei, ein Stück Außengrenze der EU: Der Fischkutter mit unserem Reporter-Team fährt immer noch an der türkischen Westküste entlang. Immer noch ohne eine Polizeistreife an Land, ein Küstenwachboot oder gar eines der hochgerüsteten Schiffe der EU-Mission Frontex zu sichten. Dafür sieht man immer wieder gekenterte Flüchtlingsflöße und über Bord gegangenes Treibgut. "Ständig kommen hier neue Flüchtlinge an. Sind die einen ins Boot gestiegen, folgen schon die nächsten", sagt unser Kapitän, "die kommen aus der ganzen Türkei hierher." Die aufblasbaren Flöße für ihre Überfahrt werden in türkischen Fabriken massenweise hergestellt. Vor den Augen der Behörden. Ebenso die seeuntauglichen Schwimmwesten, die den Flüchtlingen an den nahen Busbahnhöfen zu Wucherpreisen verkauft werden.

Der Kapitän unseres Kutters hat ein manövrierunfähiges Floß entdeckt. Es ist voller Menschen. Der Außenborder ist defekt. Etwa 40 bis 50 Flüchtlinge sind an Bord. Jeder hat etwa 1000 Euro bezahlt. Wir nähern uns vorsichtig. Ali, der Kapitän, hat uns gewarnt: Meistens sind so dicht vor der türkischen Küste noch Schleuser an Bord, und meistens sind sie bewaffnet. Plötzlich Geschrei, der Schlepper droht: "Wenn ihr das filmt, mache ich euch fertig!"

Auf Kameras reagiert die türkische Schleuser-Mafia aggressiv. Das Geschäftsmodell könnte in Gefahr geraten: 50.000 Euro pro Floß. Bis zu 150 Flöße allein auf dieser 8-Kilometer-Route. Macht bis zu 7,5 Millionen Euro. Pro Tag! Seit über 200 Tagen!

Ein anderer Fischkutter nimmt dieses havarierte Floß und die Schleuser schließlich in Schlepp. Es wird der Schaden des Kapitäns nicht sein. Der Kapitän unseres Kutters bekommt es mit der Angst zu tun und dreht ab.

Über 600.000 Flüchtlinge sind seit Jahresbeginn von der türkischen Küste auf eine der nahen griechischen Inseln gelangt und von dort aus weiter nach Norden.

Unbehelligt. Unkontrolliert. Ungeachtet aller internationalen Verträge.

7.49 Uhr, Lesbos, Griechenland: Das Tor zu Europa ist eine kleine, griechische Ferieninsel mit eigentlich nur 85.000 Einwohnern. Seit Monaten steht dieses Tor sperrangelweit offen. Tausende Flüchtlinge landen hier an, rund um die Uhr. Ihre Schwimmwesten und Bootsreste säumen die Strände. Wir begleiten freiwillige Helfer aus Schweden auf ihrer Patrouille. Am Horizont erkennen sie Bewegung. Zwei Flüchtlingsboote, bei beiden sind die Motoren ausgefallen. Gefährlich schaukeln sie in der stürmischen See. Die Plastikflöße sind völlig seeuntauglich, und die meisten der Flüchtlinge können nicht schwimmen. Deshalb gehen auch zwei spanische Rettungsschwimmer in Position. Freiwillige wie alle anderen, die an Land die abgekämpften, frierenden Menschen betreuen. Wird es das Floß, ohne zu kentern, bis in Ufernähe schaffen?

Doug Kuntz ist ursprünglich als Pressefotograf nach Lesbos gekommen. Geblieben ist er als ehrenamtlicher Flüchtlingshelfer. "Schauen Sie mal durchs Fernglas", ruft er uns zu, "Sie werden sehen, wie hart es für dieses Boot ist. Ich kann nicht glauben, dass sie jetzt Boote herüberschicken. Ich habe noch nie gesehen, dass sie bei so stürmischem Wetter kommen."

Dutzende Menschen sind hier schon ertrunken. Die Flüchtlinge riskieren es dennoch. Hoffnung ist stärker als Angst.

8.13 Uhr, Berkasovo, die Grenze zwischen Serbien und Kroatien: Ein vernebelter Acker im Nirgendwo zwischen den beiden Balkanstaaten, die einmal zu Jugoslawien gehörten. Er ist seit Wochen einer der wichtigsten Knotenpunkte auf der großen Flüchtlingsroute. Hier sammeln sich jene, die über Griechenland und Mazedonien auf der Balkanroute nach Deutschland gelangen wollen. Mit Sonderzügen fahren sie zur österreichischen Grenze. Es gibt kaum Kontrollen. Dafür musikalische Begleitung. Europäische Willkommenskultur an einem Ort, der noch vor zwei Jahrzehnten Kriegsschauplatz war. An diesem Tag ist er fest in den Händen tschechischer Jesus-Jünger, die entlang der Flüchtlingsroute eine improvisierte Missionsstation errichtet haben und den Tausenden Muslimen, die hier vorbeiziehen, Auszüge aus der Bibel auf Arabisch und Farsi anbieten.

"Wir wollen sie aufmuntern, ihnen helfen und von Gott erzählen. Wir kennen ihn und wollen den Flüchtlingen sagen, dass Gott sie liebt," sagt der tschechische Missionar lächelnd.

"Sie sprechen vom Gott der Christen?", fragen wir. Die meisten Menschen auf dieser Fluchtroute sind Muslime.

"Ja, natürlich!", sagt der Jesus-Jünger und es klingt, als wolle er fragen: "Von wem den sonst?" Dann greift er wieder zur Gitarre.

9.05 Uhr, Spielfeld, Österreich, die Grenze zu Slowenien: Dort spitzt sich die Lage immer mehr zu. Die Sonderzüge kommen hier ohne Zwischenhalt von der serbischen Grenze an. Tausende wollen möglichst schnell auf die österreichische Seite gelangen, um dort in einen der begehrten Busse in Richtung Deutschland zu kommen. Das Gedränge, die Wartezeit, die Kälte: Die Stimmung im Grenzlager ist zum Zerreißen angespannt. Das Ziel, es scheint ja schon in Reichweite.

Am Zaun spricht uns eine Gruppe junger Männer an. "Marokko, Marokko", rufen sie. Und: "Merkel! Merkel!" Sie sagen, sie hätten sich zehn Tage zuvor über die Türkei aufgemacht, um nach Deutschland zu kommen. "Aber warum?", fragen wir zurück, "in Marokko herrscht doch gar kein Krieg?" "Ja, klar", antwortet der Wortführer der Gruppe, ein junger Mann in teurer, makellos sauberer Goretexjacke: "Aber Deutschland ist einfach der Weg!"

Jeder hier versucht, möglichst schnell einen Bus zu bekommen. Österreich ist zu einer Rennstrecke geworden, zu einer Einbahnstraße nach Norden, nach Deutschland.

9.19 Uhr, Berlin, Landesamt für Gesundheit und Soziales: Einer der begehrtesten Endpunkte der Balkanroute liegt in Berlin-Moabit – das Erstaufnahmezentrum des Landesamtes für Gesundheit und Soziales, kurz Lageso. Die deutsche Hauptstadt als Sehnsuchtsort. Wo sonst kann man "Mama Merkel" näher sein? Der Andrang ist so groß, dass es regelmäßig zu Schlägereien in der Warteschlange gekommen ist. Der Attraktivität der Hauptstadt in den Flüchtlingsnetzwerken hat das nicht geschadet. "Es hat sich mittlerweile europaweit herumgesprochen, dass die Turmstraße 21 die Erstregistrierung ist," sagt Detlef Wagner vom Lageso. "Wenn Sie in ein Handy eines Flüchtlings blicken, sehen Sie dort in Google Earth die Turmstraße 21 eingegeben als Fixpunkt. Sie kommen also hierher, weil sie wissen: Das ist das Ziel meines langen Weges."

Und auf Nachfrage ergänzt Wagner: "Wir gehen nicht davon aus, dass uns die Zahlen einbrechen."

Zu einer Änderung der Politik hat diese Erkenntnis bisher nicht geführt.

9.30 Uhr, Berlin, Kanzleramt: Das Bundeskabinett der großen Koalition tagt. Das Thema Flüchtlinge kommt nur am Rande vor, offiziell jedenfalls. Die Kanzlerin im Gespräch mit dem von ihr degradierten Innenminister de Maizière. Der neue Flüchtlings-Chefkoordinator Peter Altmaier zu ihrer Linken. Die Stimmung ist gut. Business as usual, so jedenfalls suggeriert es die Inszenierung für die Kameras.

10.33 Uhr, Lesbos, Griechenland: Fahrt zum Strand von Skala Sikameneas. Die Helfer haben ein überfülltes Flüchtlingsfloß gesichtet, das in der rauen See Wasser nimmt und deshalb jede Sekunde sinken kann. Jetzt geben die Retter Signale, um das Boot zu einem Strandabschnitt ohne Felsen zu lotsen.

Etwa 40 Menschen sind an Bord. Erschöpft, verängstigt und völlig unterkühlt. Eine Frau wird panisch schreiend an Land getragen, Wärmedecken sollen die durchnässten Kinder schützen. "Heute waren es schon zwischen 30 und 40 Boote", berichtet Essam Daod, ein Freiwilligenarzt aus dem israelischen Haifa, "die letzten paar Tage waren verrückt. Vorgestern legten hier 140, 150 Boote an. Es war verrückt."

Nach kurzer Zeit sammeln sich die Flüchtlinge und ziehen in Richtung Fährhafen. Den gefährlichsten Teil ihrer Reise haben sie überstanden. Wer es bis hierher geschafft hat, ist schon fast in Deutschland.

13.51 Uhr, Berlin, Kanzleramt: Die Kanzlerin ist in Eile. Angela Merkel hat einen wichtigen Termin in China. Keine Koalitionsquerelen, kein Krach mit der CSU. Weltpolitik, wie damals, vor der Flüchtlingskrise. Angela Merkel auf Staatsbesuch im Land der großen Mauer. Gebaut vor gut zweieinhalbtausend Jahren zum Schutz vor Eindringlingen.

14.24 Uhr, Kollerschlag, Österreich, die Grenze zu Deutschland: Einer der Busse, die am Morgen in Spielfeld an Österreichs Südgrenze abgefahren sind, hat inzwischen sein Ziel erreicht: eine Wiese am Waldrand bei Kollerschlag. Unmittelbar an der grünen Grenze zwischen Österreich und Deutschland. Die österreichischen Behörden haben Dolmetscher für Afghanen und arabisch sprechende Flüchtlinge angeheuert. Sie sollen informieren – und beruhigen. Deutschland ist nur noch 100 Meter entfernt. Jeder hier wird das Ziel seiner oft wochenlangen Reise heute noch erreichen, versichern Helfer, Polizisten und Soldaten. Inschallah.

So Gott will – und die Bundesregierung in Berlin weiter mit

Deutsche Polizisten haben die offizielle Grenze, eine kleine Brücke, gesperrt. Sie versuchen, den Zustrom zu kanalisieren. Bis der Weg nach Norden wieder geöffnet wird, warten die Menschen. Und während sie warten, kommen permanent neue Busse nach.

"Wie lange kann das so weitergehen", fragen wir eine Helferin, die auf der österreichischen Seite heiße Suppe verteilt.

"Solange Deutschland sagt, sie können alle kommen", sagt die Frau.

"Was kann man tun?", wollen wir von ihrem Nachbarn wissen.

"Vor Ort Frieden stiften", sagt der Österreicher, "aber das interessiert keinen. Auch die EU nicht. Das ist keine EU mehr, das ist ein zerstrittener Haufen, sonst gar nichts. Vielleicht wäre die Lösung, nicht die ganze Million nach Deutschland zu schicken."

Die deutschen Polizisten wollen 250 Flüchtlinge hereinlassen, die dann zwei Kilometer zu einem Sammelpunkt laufen sollen. Eine Schlange wird gebildet.

Sie ahnen noch nicht, dass hier weitere 50 Busse anrollen werden. Mit 2500 Flüchtlingen.

Lothar Venus, der Katastrophenschutz-Beauftragte der örtlichen Feuerwehr, analysiert die Lage. "Schaffen wir das, wie die Kanzlerin sagt?", wollen wir von Venus wissen. "Ein Märchen!", poltert es aus dem Feuerwehrmann heraus. "Die mag das in Berlin schaffen, das mag schon sein. Das Schlimme ist, sie kann nicht sagen, dass wisse sie nicht. Das wird minütlich kommuniziert. Für mich stellt sich die Frage, wie man so betriebsblind sein kann, dass man sagt: Ja, wir schaffen das."

Am späten Nachmittag, die wärmende Sonne ist bereits hinter den Bergen verschwunden, kommt die Freigabe der Bundespolizei. 250 Menschen machen sich auf den halbstündigen Fußmarsch in das bayerische Dörfchen Wegscheid. Völkerwandertag. Wie jeden Tag.

17.49 Uhr, Lesbos, Griechenland: Im Hafen von Mitilini liegen Fährschiffe mit Platz für Tausende Passagiere. Die griechische Regierung hat sie für die Überfahrt nach Piräus zur Verfügung gestellt, damit die Flüchtlinge zügig auf die Balkanroute in Richtung Deutschland gelangen können. Wenn die Deutschen alle aufnehmen wollen, leistet man gern logistische Unterstützung. Die Durchreisenden wollen so schnell wie möglich an Bord. Viele campieren deshalb direkt am Schiffsanleger.

Alessandra Morelli vom UN-Flüchtlingshilfswerk ist vor Ort und sondiert die Lage. "Was wir momentan hier sehen, ist ein richtiger Exodus", sagt sie, "noch nicht mal die stürmische See kann diesen Zustrom stoppen." Von hier an ist die Flucht nur noch eine Reise. 23 Stunden braucht die Fähre bis zum griechischen Festland.

18.26 Uhr, Sentilj, die Grenze zwischen Slowenien und Österreich: An diesem Tag sind die ersten Züge direkt von der serbisch-kroatischen Grenze bis hierhin durchgefahren. Das führt in diesem slowenischen Grenzlager zu Stau und Chaos. Das Nadelöhr ist der Grenzübergang Spielfeld. Jeder will so schnell wie möglich auf das Sprungbrett nach Deutschland. Chaotische Szenen spielen sich ab. Ein Polizist in voller Kampfmontur hält ein Baby, damit es nicht von den Massen erdrückt wird. Von den vielen herandrängenden jungen Männern drohen Frauen und Kinder überrannt zu werden.

Wenige Hundert Meter weiter nördlich versucht die österreichische Militärpolizei, einen unkontrollierten Grenzdurchbruch zu verhindern. Das würde die geordnete Überleitung der Flüchtlinge nach Deutschland erschweren.

19.51 Uhr, Erfurt: Vor dem Dom hat die AfD zur Kundgebung aufgerufen, so wie fast jeden Mittwoch. Man will an die Montagsdemonstrationen vor dem Mauerfall erinnern. Die Flüchtlingskrise ist gleichsam ein Konjunkturprogramm für Rechte und Rechtsextreme. Björn Höcke, der neue Rechtsaußen der AfD, wird frenetisch bejubelt. "Ich bin der Meinung, dass Merkel scheitern muss, damit Deutschland und Europa gerettet werden", ruft Höcke in die Menge. Die skandiert zurück: "Merkel muss weg! Merkel muss weg."

Ein paar Hundert Meter entfernt demonstriert im Kerzenschein das helle Deutschland gegen die Kundgebung der AfD, Kirchenlieder singend. "Ich finde es gut von der Kanzlerin, dass sie sagt, wir schaffen das, und zu ihrem Wort steht", sagt einer aus der Gruppe. "Die Leute sind doch eh auf dem Weg."

20.02 Uhr, Kollerschlag, Österreich, die Grenze zu Deutschland: Bislang wurden die andrängenden Flüchtlinge nach Absprache zwischen deutschen und österreichischen Polizisten kontingentweise durchgelassen. Doch wegen der Vielzahl der ankommenden Busse ist die Polizei hier nicht mehr Herr der Lage. Unablässig kommen neue Busladungen an. Etwa 56 Busse mit im Schnitt mindestens 50 Flüchtlingen werden noch erwartet. Nur: Die deutschen Bundespolizisten wissen davon nichts und versuchen, sich auf der österreichischen Seite einen Überblick zu verschaffen. Schwer genug im allgegenwärtigen Chaos.

Es ist dunkel, deshalb sind die Fußmärsche abgesagt, und die Bundespolizei fordert Busse an – allerdings stehen auf der deutschen Seite deutlich weniger Busse zur Verfügung als auf der österreichischen. Immerhin: Ein Bus steht für Familien mit Kindern bereit. Eine Frau mit Kind will jedoch plötzlich nicht mehr einsteigen. Eine ihrer Töchter ist irgendwo in der Menge verloren gegangen. Dolmetscher rufen in die Menschenmenge. Wie ein Paket wird das kleine Mädchen zur Mutter durchgereicht. Aufatmen bei Helfern und Polizisten. Aber nur für Sekunden.

Die Lage eskaliert. Die deutschen und die österreichischen Polizisten befürchten, dass Hunderte junge Männer die Grenze durchbrechen. Sie versuchen, vor allem Frauen und Kinder sowie Verletzte in Sicherheit zu bringen – und das heißt: so schnell wie möglich auf die deutsche Seite. "Schaut euch die Probleme hier an", ruft ein Arabisch-Dolmetscher, "alle wollen nach Deutschland, weil alle Angela Merkel mögen."

Die Polizei versucht, den Anschein eines geordneten Grenzübertritts zu wahren. Die Österreicher wollen die Flüchtlinge nur loswerden. Wenn alle nach Deutschland wollen, und die Deutschen alle aufnehmen wollen, sollen sie doch gehen. Weil immer mehr junge Männer gegen die Polizeikette drücken, plädiert der österreichische Einsatzleiter bei seinem deutschen Kollegen für ein Fluten der Grenze. Er fleht. Er schreit. Der Bundespolizist bleibt hart. Und die Polizeikette hält. Diesmal noch.

23.53 Uhr, Lesbos, Griechenland: Das Transit-Camp Oxy bei Molivos, eines der von privaten Helfern betriebenen Flüchtlingslager auf der griechischen Insel. Zwischenstation zwischen Ankunft mit dem Floß und Abfahrt mit der Fähre. Fast alle Flüchtlinge haben ein Smartphone dabei auf ihrer gefährlichen Reise. Sie sind gut informiert, wo sie willkommen sind und wo nicht.

Nefeli Gazis, die deutsche Camp-Leiterin, ist fast pausenlos im Einsatz, ehrenamtlich. Ein Syrer sucht für sich und seine Familie einen Schlafplatz. Sie sind wenige Stunden zuvor mit ihrem Boot gekentert und aus der stürmischen See gerettet worden. Sie wollen weiter nach Deutschland, wie fast alle hier.

Auch hier versuchen ehrenamtliche Helfer zu bewältigen, was die Politik ausgelöst hat. "Heute sind hier bestimmt fast 5000 Leute durchgereist. Und vorgestern waren es über 6000", stöhnt die völlig erschöpfte Nefeli in einer kurzen Zigarettenpause. "Ich weiß auch nicht, wie Deutschland, wie irgendjemand den Leuten hier noch helfen kann, bei den Massen. Wenn der Krieg nicht aufhört, wenn man das da nicht erst mal stabilisiert, kann ich mir das nicht vorstellen."

Europa, im Herbst 2015. An diesem Mittwoch sind mehr als 10.000 Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. So wie fast jeden Tag.