Das Ende der kleinen, heilen Welt

Von Jörg Thomann

Die vielen Migranten, die zu uns kommen, stellen unser Lebensmodell in Frage. Der wahre Ausnahmezustand ist womöglich unser seliges Wohlstandsdasein gewesen. Mauern werden es nicht schützen können.

Der Rausch ist verflogen, und manchem brummt nun schön der Schädel. Was ist das gerade gewesen? Unser Land, als kühl und rational verschrien, hatte sich einen kurzen Sinnestaumel gestattet, ein kleines Sommermärchen im Frühherbst. Die Kanzlerin, sonst bedächtig bis an die Grenze zur Apathie, hatte mit ihrem Entschluss, die in Ungarn gestrandeten Flüchtlinge ins Land zu lassen, einen Ausflug ins wilde, verwegene Denken gewagt und ihr Volk, ohne dass dies so recht wusste, wie ihm geschah, mitgerissen. Oder hatte das Volk, zumindest jene Teile davon, die mit Willkommensplakaten auf Bahnsteigen standen, die Kanzlerin mitgerissen?

Auf jeden Fall waren wir Deutschen einen Moment lang Weltmeister der Herzen. Mal nicht bewundert für die Effektivität unserer Maschinen, sondern für Menschlichkeit. Und wo deutsche Politiker sonst stets damit rechnen müssen, in der Weltpresse wahlweise mit Pickelhaube oder Hakenkreuzarmbinde aufzutauchen, war Merkel mit einem Mal ein Engel, eine Heilige, die mitfühlende Mutter. Allerdings – dies immerhin ebenfalls ein neues Bild – auch die Loreley, deren lieblicher Gesang auf dem Titelbild des britischen „Spectator“ die Flüchtlinge ins Verderben lockt. In Merkels neue Töne mischte sich dann auch rasch Seehofers alte Leier. Das Ende vom Lied: Grenzkontrollen. Und, vermutlich, eine Verschärfung des Asylrechts.

Größte Herausforderung seit der deutschen Einheit

Was bleibt, ist Ernüchterung. Nicht nur bei jenen, denen ohnehin nicht zum Feiern zumute war, weil sie den Kopf nicht freibekommen: Wir schaffen das? Wir sind geschafft. All die Helfer zum Beispiel, die Polizisten, Bürgermeister, Beamten in den Ausländerbehörden. Nicht zu vergessen die besorgten Bürger. Womit nicht die tumben Fremdenfeinde gemeint sind, die den Begriff schamlos okkupiert haben, sondern die ganz normalen Menschen, die mit gemischten Gefühlen die dramatischen Fernsehbilder betrachten und die Worte einzuordnen versuchen, die sie dieser Tage zu hören bekommen: die größte Herausforderung seit der deutschen Einheit. Wir sind in einer Notlage. Europa stürzt ins Chaos. Unsere Gesellschaft wird sich verändern. Wie aber wird es dann sein: ungemütlicher, enger? Aufregender ganz sicher. Doch wer mag sich heute schon aufregen?

Die Wirtschaftsforscher sind sich weitgehend einig: Einwanderung ist gut – gut für alle. Von den Fotos im Wirtschaftsteil der Zeitung blicken uns lächelnde Menschen entgegen: zuversichtlich, tatkräftig, gut gebildet, hungrig auf Erfolg. Schaut hin, so die Botschaft, die sind so wie wir! Solche Migranten machen niemandem Angst, abgesehen vielleicht von denen, die angesichts der hochkarätigen Konkurrenz um ihren Job bangen müssen. (Obschon: Den Satz „Die Ausländer nehmen uns unsere Arbeitsplätze weg“ hat man lange nicht gehört. Vermutlich, weil viele Migranten all die Dreckjobs übernehmen, die Einheimische gar nicht machen wollen.) Was aber ist mit jenen Menschen, die nicht lächeln? Die nicht hungrig auf Erfolg sind, sondern einfach nur hungrig? Sind die auch so wie wir – oder vielleicht eine frühere Version unserer selbst, die wir spätestens mit der Nachkriegszeit überwunden glaubten?

Die Migranten, die jetzt zu uns kommen, bringen unser ideologisches Grundgerüst ins Wanken. Zeitschriften, Bücher, Freunde und Bekannte haben es uns über Jahre eingetrichtert: Wir sind auf dieser Welt, um glücklich zu sein. Mensch, lebe deinen Traum! Mach das Beste aus deinem Leben oder zumindest das Beste aus dir selbst! Also versuchen wir, uns zu perfektionieren, trainieren unseren Körper und Geist, machen Yoga und Bauchmuskeltraining, kaufen Bio-Obst und verzichten auch heute wieder auf Fleisch. Seltsame Selbstoptimierer, sehen wir uns im Angesicht der Fremden der Lächerlichkeit preisgegeben. Wenn die nur könnten, wie sie wollten, würden sie erst mal konsumieren bis zur Erschöpfung. Hältst du ihnen einen Bio-Apfel entgegen, nehmen sie den ganzen Korb. Und würden gewiss lieber gleich zu McDonald’s gehen. Für unser Lebensmodell ist der Migrant eine Zumutung: Er will nicht das beste Leben von allen, er will ein besseres, ja manchmal überhaupt nur das: am Leben bleiben.

Wohlstandsdasein nur durch Verdrängung genießbar

Damit beschämt er uns. Unsere kleine, heile Welt gerät aus den Fugen, wenn unser Handy-Akku leer ist, der Sohn in Mathe eine Vier kriegt und wir keinen Parkplatz vor der Haustür. Erste-Welt-Probleme. Wir faseln von „Quality Time“, die wir mit Partner und Kindern verbringen möchten, als wäre das nicht komplett anmaßend, als wäre nicht jede Minute, die wir bei der Arbeit, beim Einkaufen, ja selbst im Stau auf der Autobahn verbringen, eine Qualitätszeit, frei von Existenzangst und Lebensgefahr. Wollen wir wirklich mal erkennen, wie gut es uns geht, dann buchen wir 1300-Euro-Flüge in unterentwickelte Erdengebiete, um bei einer Rucksackwanderung die Faszination des einfachen Lebens zu spüren. Die geht aber nur selten so weit, dass man das Rückflugticket verfallen lässt.

Unser westliches Wohlstandsdasein lässt sich nur genießen durch Fatalismus und Verdrängung. Fliegen wir nicht zu den Armen, sondern kommen die Armen zu uns, kann das verstörend sein. Diejenigen, die ihre Heimat verlassen, tun dies oft unter furchtbaren Umständen. Sie schlafen auf dem Boden, laufen viele Meilen, scheuen auch tödliche Risiken nicht. Sie haben, was vielen von uns heute fehlt: ein Ziel. Das verfolgen sie mit einer Entschlossenheit, die uns, die wir träge um uns selbst kreisen, verlorengegangen ist. Wir stöhnen über die Vielzahl unserer Chancen – sie wollen ihre einzige nutzen. Und wer wollte ihnen das Recht dazu verweigern, das Recht auf ein menschenwürdiges Leben?

Dem Menschen würdig ist es, ein Leben in Freiheit zu führen. Zählt dazu nicht auch die Freiheit, ein anderes Leben zu führen, nötigenfalls in einem anderen Land? Die UN-Menschenrechtscharta spricht jedem einen angemessenen Lebensstandard zu und soziale Sicherheit. Soll, wer im Spiel des Lebens Pech gehabt hat, wen Gottes Würfel ins zerstörte Syrien, Eritrea oder in den Irak verschlagen haben, sich einfach damit abfinden? Yolo, wie wir im Westen sagen: Man lebt nur einmal.

Europa in die Fluchtursachen der anderen verwickelt

Europa, so sagt man nun, sei im Ausnahmezustand. Mit gleichem Recht aber ließe sich behaupten, dass die vergangenen Jahrzehnte, in denen Europa und Deutschland ihren Bürgern Frieden und stetig wachsenden Wohlstand bescherten, der wahre Ausnahmezustand waren. Außerdem ist unsere eigene Gesellschaft in die Fluchtursachen der anderen „zutiefst verwickelt“ – nämlich „durch globale Handelsbeziehungen, Waffenlieferungen und nicht zuletzt durch einen Lebensstil, der die Ressourcen der Erde verbraucht“, sagen die leitenden Geistlichen der evangelischen Landeskirchen Deutschlands in einer aktuellen Erklärung und fordern: „Eine Umkehr von diesen ungerechten Verhältnissen ist an der Zeit.“ Ist die Kirche kommunistisch?

Die Welt jedenfalls ist stärker vernetzt als je zuvor und Amerikas wie auch Europas Way of Life bis in den letzten Winkel verbreitet. Selbst dort müssten sie also genug Hollywood-Filme gesehen haben, um zu wissen, dass auch wir in der freien Welt Probleme haben, unglücklich sind, uns unverstanden und einsam fühlen, verstrickt sind in komplizierte Liebesbeziehungen. Doch die da sitzen vor dem Schaufenster des Westens, die schreckt das nicht ab. Sie sehen, dass die Hollywood-Menschen unglücklich in Hollywood-Wohnungen sind, dass die Amerikaner und Europäer ihre Beziehungskrisen in schicken Restaurants bereden. Müssen wir, um weniger attraktiv zu wirken, bei unserem Lifestyle abrüsten? Brauchen wir eine Sozialwohnungsquote für Fernsehen und Kino? Sollte man deutschlandkritische Beiträge von „Spiegel TV“ ins Arabische übersetzen, CSU-Politiker auf Welttournee schicken?

Dass sich das Rad der Geschichte nicht mehr zurückdrehen lässt, das hat selbst Horst Seehofer zugegeben – ausgerechnet mit seiner befremdlichen Formulierung vom Stöpsel, den man nicht zurück auf die Flasche kriegt; das Bild des Bootes, das voll ist, zu bemühen verbot sich von selbst angesichts der kenternden Kähne im Mittelmeer. Wir sind heute, mehr denn je, eine Welt, ob wir das nun wollen oder nicht. An den Grenzen kann man kontrollieren, komplett verschließen kann man sie nicht. An diese Idee klammern sich nur noch jene, die die Linke jahrzehntelang angefeindet haben für ihre Utopie des globalen Multikulti. Die äußere Rechte glaubt sogar noch an nationalstaatliche Lösungen, sie will Zäune bauen und Mauern, die für alle von außen verschlossen sind, ein brachialer Denkmalschutz für den behaglichen deutschen Wohlfahrtsstaat. Wer, bitte, ist hier weltfremd?

Flüchtlingskrise zwingt uns zur Selbsterkenntnis

Auch diejenigen, die am liebsten niemanden mehr ins Land lassen würden, argumentieren moralisch: Wir seien unseren Kindern gegenüber verpflichtet, dass diese in Freiheit aufwachsen könnten. Soll heißen: frei von Armut, frei von Gewalt, frei von einer Religion, die – so die Propaganda – bald all unseren Töchtern Kopftücher aufzwingen wird. Wie frei aber ist man wirklich, wenn man von hohen Mauern umgeben ist?

Doch die Stimmung in Deutschland droht zu kippen. Der Boulevard, dessen Populismus ihn zwischenzeitlich ins Lager der Guten drängte und der den Flüchtlingen den roten Teppich ausrollte, kann diesen jederzeit wegziehen. Der Stellvertreter des Chefredakteurs einer überregionalen Zeitung, der sich gern als letzten Mohikaner des Liberalismus verkauft, schreibt nun, Europa müsse „eben auch Festung sein“. Und Angela Merkel, der man immerzu mangelnde Empathie vorwarf, schilt man jetzt für ihre Emotionen. Sich entschuldigen müssen für ein Lächeln in der Not? „Das ist nicht mein Land“, hat sie gesagt. Was für ein Land wir sind oder werden, diese Frage sollten wir uns alle stellen. Die Flüchtlingskrise zwingt uns zur Selbsterkenntnis – und ermöglicht uns im besten Fall ein neues Selbstverständnis.